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Frankreich
Hilfe zur Selbsthilfe in den Banlieues

Frankreichs Banlieues sind berüchtigt für Gewalt, besonders unter Jugendlichen. Nun setzt die französische Regierung in diesen Vororten auf Bildung und Kultur. Mit ihrem Programm „La France - une chance pour tous“ fördert sie Selbsthilfeprojekte, die vor allem Teenager zurück in die Gesellschaft holen sollen.

Von Suzanne Krause |
    Anwohner und Journalisten stehen am 26.06.2015 vor dem Wohnhaus von Yassine S. - er hat kurz darauf gestanden, bei einem Terrorakt seinen Chef geköpft zu haben - in Saint Priest, Frankreich, während Jugendliche vor dem Gebäude Fußball spielen.
    Talente gibt es auch unter Kindern und Jugendlichen in den Banlieues - nun sollen sie früh gefördert werden (picture alliance / dpa / Marius Becker)
    Immer wieder sorgen Gewaltakte französischer Jugendbanden im Großraum Paris für Schlagzeilen. Anfang Oktober starb ein 16-Jähriger bei einer Prügelei. Zwei Wochen später meldete die Tageszeitung Le Monde:
    "Tödliche Gewalt zwischen Teenager-Banden - zwei junge Leute sind in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober in Paris und Sarcelles bei Schlägereien umgekommen."
    Damit ist die Zahl der Toten im Großraum Paris in den vergangenen zwei Jahren auf acht Opfer gestiegen. Fakten, die der neue Innenminister Christophe Castaner Ende Oktober bekannt gibt, beim Tatort-Besuch im Brennpunktviertel am nördlichen Pariser Stadtrand. Umringt vom Polizei-Präfekten und Vertretern lokaler Vereine kündigt Castaner einen neuen Plan gegen gewalttätige Jugendbanden an.
    Die Polizeikräfte in Brennpunktvierteln sollen aufgestockt werden, in jeder Wache werde ein Beamter abgestellt für engere Kontakte zu den Sozialdiensten, verspricht der Innenminister.
    "Die Gewalt dieser Banden ist absolut inakzeptabel. Ich werde nicht zulassen, dass Jugendbanden ein Viertel beherrschen und terrorisieren. Das Viertel gehört denen, die hier leben. Das Umfeld einer Schule muss sicher sein. Deshalb reagieren wir sehr entschlossen, mit einem neuen Plan."
    Todesfälle sorgen für Zündstoff
    Castaner ist sich bewusst, dass die Gewaltbereitschaft der jungen Männer zum großen Teil auf ihrer hoffnungslosen Lage beruht: sie stammen aus sozial benachteiligten Verhältnissen, sind zumeist Schulabbrecher und finden in der Bande den Rückhalt, den sie von der Gesellschaft vergeblich erhoffen. Mit einer gewissen Bitterkeit resümiert der Innenminister:
    "Wenn Sanktionen notwendig werden, heißt das im Grunde, dass unsere Aktion gescheitert ist."
    Zwar sind Gewaltakte französischer Jugendbanden in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, wie die Polizeistatistik belegt. Doch die jüngsten Todesfälle sorgen für politischen Zündstoff. Mit seinem Plan will der Innenminister retten, was politisch zu retten ist.
    Denn lediglich 21 Prozent der Franzosen glauben, dass die Regierung Macron fähig sei, ihre Sicherheit zu gewährleisten, heißt es in einem kürzlich veröffentlichten Stimmungsbarometer.
    Vor zehn Jahren in Clichy-sous-Bois: Jugendliche stehen vor einem brennenden Auto. Man sieht nur ihre Schatten. 
    In Clichy-sous-Bois brachen 2005 Unruhen aus - die soziale Lage hat sich seitdem kaum verändert (picture alliance / dpa / Pierre Le Masson)
    Dabei hatte Macron schon Ende Mai versprochen, für mehr Sicherheit in den sozialen Brennpunktvierteln zu sorgen. Die Regierung werde dort 1.300 zusätzliche Polizisten zum Streifengang abkommandieren und härter gegen Drogenkriminalität vorgehen. Seine Leitlinien stellt der Staatspräsident unter einen griffigen Slogan:
    'La France - une chance pour tous'. Frankreich solle jedermann eine Chance geben.
    "Bei unserem heutigen Thema geht es um die Republik, um Frauen und Männer, die an Orten aufgewachsen sind, die problembeladen sind - was de facto auch stimmt, weil sich dort die Armut konzentriert, weil es an Mitteln fehlt, an Bildung und an Jobs. Und es geht darum, diese Missstände zu beseitigen."
    Arbeitslosigkeit, Drogen, Radikalisierung
    Missstände, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt haben, nachdem Frankreich Mitte letzten Jahrhunderts bei einem ehrgeizigen Sozialbauprogramm zahlreiche Trabantensiedlungen hochziehen ließ. Anfangs lebten hier Angestellte, Arbeiter und Gastarbeiter Seite an Seite. Doch mangels Wartung verkamen die Wohnanlagen nach und nach. Wer es sich leisten konnte zog wieder weg. Zurück blieben sozial schwache Familien, zumeist mit Migrationshintergrund.
    Seit 1981 hat jede französische Regierung einen Rettungsplan für die sozialen Brennpunktviertel aufgelegt. Zweistellige Milliardenbeträge flossen seither in die Bausanierung. An der sozialen Misere hat das jedoch nichts geändert. Im Volksmund gelten die Brennpunktviertel weiterhin als 'Banlieue' - als Bannmeile. Wer dort lebt, ist gebrandmarkt. Zum Alltag zählen hohe Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität, die zunehmende Abschottung gewisser Bevölkerungsgruppen, religiöse Radikalisierung.
    Hochhaussiedlung in Drancy, aufgenommen am 19.11.2015. Der Ort in der Pariser Banlieue gilt als sozialer Brennpunkt. Hier leben rund 67 000 Einwohner, darunter viele Migranten. Foto: Peter Zschunke/dpa (zu dpa "Pariser Banlieue: Vielfalt statt Terrorismus" vom 19.11.2015) | Verwendung weltweit
    Auch Drancy in der Pariser Banlieue gilt als sozialer Brennpunkt (picture alliance / dpa / Peter Zschunke)
    Um die Beseitigung der Missstände anzugehen, bat Staatspräsident Macron im Herbst 2017 den Ex-Stadtminister Jean-Louis Borloo um einen Bericht. Ende April übergab Borloo sein umfangreiches Werk. Darin fordert er einen Marshallplan für die Banlieues, ausgestattet mit einem Fond von fünf Milliarden Euro. Lokalpolitiker und Aktivisten in den Brennpunktvierteln waren begeistert. Emmanuel Macron jedoch versenkte Borloos Bericht in der Schublade. Denn ein Marshallplan wäre kontraproduktiv bei Macrons Ziel, Frankreichs Schuldenlast abzubauen. Zur Rettung der Banlieues setze er auf eine neue Philosophie, erklärte der Staatspräsident Ende Mai.
    "Die Urenkel der Migranten glauben nicht mehr an politische Diskurse. Gleichzeitig macht sich in den Brennpunktvierteln selbst heute ein neuer Elan breit, etwas ändern zu wollen. Deshalb müssen wir alle zusammen eine andere Methode, einen neuen Plan entwickeln."
    Eine Talent-Börse - die Rettung?
    Auf andere Methoden setzt bereits der Verein NQT. Im Herbst lud er Studenten aus dem Pariser Großraum zu einer Talent-Börse ein. NQT steht für 'Nos quartiers ont du talent' - zu Deutsch: 'In unseren Brennpunktvierteln gibt es viele Nachwuchstalente'. Der Verein betreut junge Akademiker, die trotz ein oder zwei Master-Abschlüssen keinen qualifizierten Arbeitsplatz finden.
    Bei der ganztägigen Talent-Börse tummelten sich neben 3.500 jungen Leuten auch mehrere Regierungsvertreter: die Hochschul-Ministerin, der Bildungsminister, der Hochkommissar für berufliche Integration, die Staatssekretärin für Gleichstellung und Kampf gegen Diskriminierungen. Sowie Premierminister Edouard Philippe. Ihn machte Yazid Chir, der Chef des Vereins NQT, auf ein Kernproblem aufmerksam.
    "Wir haben bislang 44.000 Studenten mit Master-Abschluss begleitet. Die Hälfte von ihnen hatte sich auf vier Bereiche konzentriert: Marketing, Kommunikation, Personalleitung und Jura. Jobs, von denen sie sich den sozialen Aufstieg erhofften, bei diesen Sparten aber ist der Bedarf sehr gering. Da wird der Konkurrenzkampf mörderisch."
    Bereits vor zwölf Jahren hat Yazid Chir den Verein gegründet, in seiner Heimatstadt Saint-Denis - dem Inbegriff der französischen Banlieue-Misere. Seit der Einweihung des Fußball- WM- Stadions 1998 zogen viele Großunternehmen nach Saint-Denis, die jedoch nicht im Umfeld rekrutierten.
    Das Problem, einen Job zu finden
    Unter anderem, weil die Betriebe nicht wussten, dass es hier gut ausgebildete junge Akademiker gab. Und weil den jungen Leuten das Netzwerk fehlte, das in Frankreich Zugang zu den guten Berufen ermöglicht. Yazid Chir:
    "Ein Paradebeispiel unserer Klientel, das ich oft zitiere, ist Jean-Luc Libero. Er wurde als Sohn zentralafrikanischer Einwanderer in Saint-Denis geboren; die Familie hat insgesamt sechs Kinder. Aber Jean-Luc ist der einzige, der studieren konnte. Er machte gleich zwei Master-Abschlüsse: einen in Jura, den anderen im Finanzbereich. Nicht nur seine Familie war stolz auf ihn - im ganzen Viertel galt er als leuchtendes Vorbild. Doch als er nach sechs Jahren Studium unzählige Bewerbungen schrieb, gab es keine einzige positive Antwort."
    Der junge Mann, erzählt Chir, schraubte seine Ansprüche herunter und versuchte es erneut. Erneut erfolglos. Nach neun Monaten sah er sich gezwungen Hilfsjobs anzunehmen. Nun aber galt er den Arbeitgebern als überqualifiziert.
    "Also strich er schweren Herzens seine Studienjahre aus dem Lebenslauf und fand endlich Jobs: als Supermarkt-Kassierer, als Wachmann im Fußballstadion. Das verschaffte ihm wenigsten das Recht auf Arbeitslosenhilfe. Als er dann eines Tages über die Vermittlung des Arbeitsamtes zu unserem Verein kam, war er sehr deprimiert. Er hatte jegliches Selbstvertrauen verloren."
    Der Verein hat dem jungen Mann, wie so vielen anderen, unter die Arme gegriffen, indem er ihm einen Paten zur Seite stellte.
    Jean-Rémy Touze ist einer von mittlerweile 11.000 NQT-Paten. Touze ist Personal-Chef beim Pharma-Unternehmen Guerbet. Er hat sich einige Stunden freigemacht, um bei der Talent-Börse Studenten über den Verein aufzuklären. Schon seit zehn Jahren begleitet er Nachwuchstalente aus sozial benachteiligten Familien bei der beruflichen Eingliederung. Mit Rat und Tat und seinem eigenen Netzwerk.
    "Es handelt sich um ein staatsbürgerliches Engagement. Unser Pharma-Labor sitzt im Département Seine Saint-Denis. Die hiesigen Jugendlichen haben weit mehr Probleme als andernorts, einen Job zu finden."
    Eine Tatsache, die im Rahmen der sozialen Banlieue-Unruhen, den Jugendkrawallen im Herbst 2005, ins öffentliche Bewusstsein drang. Das gab damals den Anlass zur Gründung des Vereins NQT. Pate Touze gehört zum Vorstand.
    "Den jungen Leuten mangelt es keineswegs an Kompetenzen, aber häufig an Selbstvertrauen. Dank unserer Begleitung findet die Mehrheit innerhalb von sechs Monaten einen qualifizierten Arbeitsplatz. Wie erfolgreich unsere Arbeit ist, zeigt sich auch daran, dass immer mehr junge Leute, die wir auf Karrierekurs gebracht haben, selbst eine Paten-Rolle übernommen haben."
    Bildungsdefizite durch Vorschule ausgleichen
    Sozial Benachteiligte sollen von Kindesbeinen an dieselben Startchancen wie jeder andere Bürger haben. Das will Emmanuel Macron mit seinen Reformplänen durchsetzen. Dazu zählt, dass demnächst die Schulpflicht schon im Alter von drei Jahren beginnt, statt wie bisher mit sechs. Denn die Vorschule gilt als Garant eventuelle Bildungs- und Erziehungsdefizite in sozial schwächeren Familien auszugleichen. Ferner soll die Klassenstärke in Brennpunkt-Grundschulen drastisch reduziert werden.
    Dafür hat das Pariser Bildungsministerium allein in diesem Jahr 3.880 neue Lehrerstellen bewilligt. Ab September 2019 dann sollen alle Erst- und Zweitklässler in Brennpunktschulen von kleinen Klassen profitieren, verspricht Bildungsminister Jean-Michel Blanquer.
    "Bislang hinken Kinder aus benachteiligten Vierteln in der Schule Gleichaltrigen aus dem Rest des Landes hinterher. Das wird bald Vergangenheit sein."
    Die mangelnde Chancengleichheit für Jugendliche in den Banlieues hat erschreckende Folgen, resümiert Rachid Medouni in seinem Büro. Medouni ist Chef der staatlichen Jugendsozialeinrichtung Mission Locale in Poissy einer Kleinstadt im Westen von Paris. In der Mission Locale sind 4.000 junge Leute eingeschrieben - auf der Suche nach einer Ausbildung, einem Job, einer Wohnung. Rachid Medouni klickt ein Rap-Video auf Youtube an.
    Wohnblocks aus den 60er- und 70er-Jahren im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois
    Tristesse aus den 60er- und 70er-Jahren im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois (picture-alliance / Robert B. Fishman)
    "Zu unserer Klientel gehört auch ein Zwanzigjähriger aus einem Brennpunktviertel. Sein Rap-Video auf Youtube verzeichnet 200.000 Klicks. Dass zeigt doch, dass seine Musik ankommt. Bei der Beratung haben wir ihn gefragt, welchen Beruf er anstrebt. Und er sagte: Müllabfuhr. Nichts gegen diesen Beruf! Wir aber stellen uns die Frage, warum der Junge sich nicht mehr zutraut. Warum es ihm nicht in den Sinn kommt, seiner künstlerischen Neigung zu folgen."
    Aurélien Taché zählt zur Generation, die heute Frankreichs Geschicke bestimmt. Seit Juni 2017 ist der Ex-Sozialist Abgeordneter von 'La République en marche', Macrons Partei. Der Mittdreißiger arbeitet in einem winzigen Büro im Nebentrakt der Nationalversammlung. Taché ist in der Banlieue aufgewachsen.
    "Die Berufsberaterin an der Schule hat mich in eine Klempnerlehre gesteckt, dabei habe ich zwei linke Hände. Was Besseres fiel ihr wohl nicht ein. Ich bin sicher: hätte ich eine Privatschule besucht oder käme aus einem besseren Viertel, hätte man sich bei meiner beruflichen Orientierung mehr Mühe gegeben."
    Neue Maßnahmen für alte Probleme
    Die Klempnerlehre hat Aurélien Taché hingeschmissen, und dann sein Schicksal selbst in die Hand genommen: das Abitur nachgeholt, Jura studiert, sich politisch engagiert. Mit 30 war er Berater in einem Pariser Ministerium, mit 33 Abgeordneter.
    "Macron habe ich mich angeschlossen, weil auch mir beim Projekt für Frankreich eines am dringlichsten erscheint: zu vermitteln, dass, egal wo jemand herstammt, ihm prinzipiell alle Möglichkeiten offenstehen sollten."
    In seinem Wahlkreis in Cergy einen Katzensprung von Poissy entfernt, testet Taché derzeit pionierhaft eine neue Maßnahme: Betriebe, die Berufsanfänger aus der Nachbarschaft mit festem Vertrag einstellen, erhalten eine Prämie von 15.000 Euro. Bisher fassen die meisten Einsteiger in der Arbeitswelt nur langsam Fuß, dank ABM-Maßnahmen - die später im Lebenslauf negativ ins Auge stechen. Auch in anderen Bereichen sieht der junge Abgeordnete Handlungsbedarf.
    "Es bleibt noch viel zu tun, um junge Existenzgründer in Brennpunktvierteln zu unterstützen. Dort werden doppelt so viele Unternehmen als im Rest des Landes gegründet - aber nur halb so viele Projekte wie andernorts begleitet."
    Macrons Anliegen, sagt Aurélien Taché, lässt sich in einem Leitwort zusammenfassen: Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei setzt der Staatspräsident auf den Elan, der vor einigen Jahren in Plattenbauvierteln aufgekommen ist. Von hehren politischen Versprechen enttäuscht, sieht mancher dort nur noch einen Ausweg: selbst aktiv zu werden, mit ehrenamtlichen Engagement zur Verbesserung der desolaten Lage beizutragen. In diesen Elan schreibt sich gewissermaßen auch die Micro-Folie in Sevran Beaudottes im Pariser Norden ein.
    Kultur und Sport anbieten
    Bei der Micro-Folie handelt es sich um eine innovative Kultureinrichtung, die in einem bunten Zirkuszelt inmitten grauer Plattenbauten residiert. Dem Viertel hängt der traurige Ruf einer salafistischen Hochburg an. Im Zirkuszelt finden die Anwohner eine andere Welt: Eine Profibühne, die Schultheatergruppen offen steht. Oder Rap-Konzerten wie dem, das kürzlich Gymnasiastinnen aus dem Viertel eigenständig organisierten. Des Weiteren ein 'Fab-Lab' mit 3-D-Druckern und Computern für Bastler. Eine Café-Ecke, in dessen Küche Multi-Kulti-Kochkurse abgehalten werden. Der Höhepunkt ist das virtuelle Museum: über eine Großleinwand und mehrere Tablets-Bildschirme flimmern Meisterwerke in französischen Museen. Nicht nur Schulkinder werden hier spielerisch an Frankreichs Kulturschätze herangeführt.
    Yacine Hilmi begleitet hin und wieder Jugendliche in das virtuelle Museum. Hilmi ist Präsident des Vereins Hozes. Diese Einrichtung organisiert Sport- und Kulturveranstaltungen für Kinder und Jugendliche aus den Banlieues.
    "Ab und zu gehen wir mit den Jugendlichen in Pariser Museen. Und zumeist absolvieren sie dann einen zweistündigen Ausstellungsrundgang in Rekord-trächtigen fünf Minuten, weil ihnen einfach völlig die kulturelle Orientierung fehlt, jegliche Sensibilität und Erfahrung. Wenn wir jedoch vorab zur Einführung mit ihnen hier im virtuellen Museum waren, fühlen sie sich in einer Pariser Ausstellung weit weniger verloren und schauen sich die Werke mit anderen Augen an."
    Mittlerweile gibt es ein knappes Dutzend dieser virtuellen Museen in anderen Brennpunktvierteln und auf dem platten Land. Seit Staatspräsident Macron vor eineinhalb Jahren eine Micro-Folie nahe Paris aufsuchte, hat die Kulturinitiative vollen Rückenwind: derzeit sind landesweit 186 solcher Orte im Aufbau. Überall dort, wo Kultur Mangelware ist. In der Micro-Folie in Sevran zieht Mitarbeiterin Marine Auger eine erste Bilanz.
    "Ich kenne die sozialen Probleme hier ganz gut und ich habe auch schon die Gewalt von Jugendlichen am eigenen Leib erleben müssen. Seit die Micro-Folie mit all ihren Angeboten aufgemacht hat, hat sich das Viertel zwar nicht komplett verändert, aber es ist friedlicher geworden. Das Bewusstsein der Bewohner hat sich ein bisschen geweitet. Zumindest sind die Spannungen im Umfeld unserer Einrichtung etwas abgeebbt."
    Zwei Schülerinnen am Alfred Nobel Gymnasium im Pariser Vorort Clichy Sous Bois. 2009. Zwei Silhouetten vor einem hohen Zaun, im Hintergrund ein runtergekommener Plattenbau.
    Mehr Bildung und Teilhabe an Kultur soll die soziale Misere lösen (imago /ecomedia / Robert Fishman)
    Der niedrigschwellige Zugang zur Kultur, sagt Auger, gäbe den Viertelbewohnern den Eindruck, gesellschaftlich nicht mehr ganz am Rand zu stehen. Und das bunte Zelt wird immer mehr zur Anlaufstelle für all jene, die dazu beitragen wollen, das Leben in Sevran angenehmer zu gestalten.
    Zu diesen ehrenamtlichen Aktivisten zählen auch Ibtissam Daoudi und ihre Mitstreiter: Studenten, junge Berufstätige, die sich anfangs bei Facebook zusammengeschlossen hatten. Bis sie bei einem persönlichen Treffen in der Micro-Folie beschlossen, einen Verein zu gründen. Mit der Micro-Folie als Hauptquartier. Seit einem Jahr veranstaltet der Verein Network'in Sevran dort einmal monatlich Treffen zu Themen wie Co-working, Finanzwelt, Unternehmertum. Mit jungen Referenten, die allesamt selbst aus Brennpunktvierteln stammen.
    "Wir locken mittlerweile Leute aus dem gesamten Pariser Großraum an. Und wer bei den Treffen erstmals nach Sevran und in die Micro-Folie kommt, ist angenehm überrascht von dem, was er hier vorfindet. Vor allem entdeckt er, dass hier viele gut ausgebildete junge Leute leben. Wir haben das keineswegs angestrebt, aber mittlerweile sind wir zu Botschaftern für unsere Heimatstadt geworden."