Hinter dem Bahnhof von Marseille hat sich Kultur angesiedelt. Die alten Tabakfabriken im Viertel Belle de Mai beherbergen heute mehr als 500 Künstler und Vereine. Kinder aus dem sichtbar armen Stadtteil haben Platz zum Spielen auf dem Gelände von La Friche.
Auch der Verein "sextant et plus" für zeitgenössische Kunst ist hier untergebracht. Der junge Dresdner Künstler Stefan Eichhorn ist für ein Jahr mit von der Partie. Sein Atelier liegt im Norden der Stadt, in einem der Wohnghettos von Marseille.
"Das große Ziel ist da ein Kunstwerk für den öffentlichen Raum zu schaffen."
Fünf Prozent ruinieren den Ruf des Viertels
Die Sozialbau-Gesellschaft gibt das Geld, Imagepflege trifft auf soziales und kulturelles Engagement. La Bricade, La Castellane, das sind die Stadtteile, in denen Gewalt und Drogenhandel den Alltag Vieler bestimmen:
"90 Prozent von denen sind ganz normale Leute, die sind arm, die sind da aufgewachsen. Viele sind arbeitslos, dann gibt es fünf Prozent komische, verwirrte Leute, dann gibt es fünf Prozent, die den Ruf des Viertels ruinieren, die Drogendealer und in den Vierteln sind ja unglaublich viele Familien mit Kindern. Gleich da, wo es die Kalaschnikow-Schüsse gab, ist ein Collège, weiter oben eine Grundschule."
Das Viertel hängt oberhalb von Marseille an den Hügeln. Helle Wohnsilos, vor einigen der Türme Polizeiwagen. Während unten am Hafen gerade eine Ausstellung über das "Licht der Provence" eröffnet wird, spiegelt das Mittelmeer hier oben das pure Elend wieder. Inmitten der Wohnblöcke, die in den 60er-Jahren aus dem Boden gestampft wurden, als die Algerienfranzosen Dächer über dem Kopf brauchten. Hier soll Stefan Eichhorn ein Kunstwerk hinterlassen - an anderen Stellen haben andere das mithilfe des Vereins "sextant et plus" schon getan. Auf eine gelbe Plastik, die prächtig in der Mittelmeersonne glänzt, haben die Drogendealer die Autonummern der Polizeistreifen gekritzelt.
Eichhorn hat , bevor er nach Marseille kam, klar gestellt: "In einem Armenviertel Kunst abzuladen, Kunst, die die Leute vielleicht nicht verstehen, ist nicht wirklich so eine gute Idee. Ich werde mir was einfallen lassen, was die Leute nutzen können."
Einen Pavillon, eine Bank in einem kleinen Garten, der am Rande des Wohnviertels gepflegt und von den Bewohnern durchaus respektiert wird.
An den Ecken lungern dunkelhäutige Jugendliche, die Kapuzen über den Kopf gezogen, Augenpaare folgen jedem, der hier fremd ist.
"Die Jungs beobachten von diesen Punkten eben die Zufahrtswege ins Viertel und sobald sich jemand Verdächtige nähert, dann schreibt einer los, zweisilbigen Schrei, das setzt sich dann fort im Viertel als Zeichen Achtung Gefahr!"
Hinter einer Tür kümmert sich Deborah um Kunstvermittlung. Gemeinsam mit Eichhorn bietet sie workshops an: Raketen basteln, Helme, Scherenschnitte. "Am Anfang kamen zwei oder drei Kinder, inzwischen sind es zehn und mehr."
Die Eltern sind froh, das Angebot ist kostenlos, für die Kleinen ist das eine Auszeit vom Elend der Banlieues. Von hier aus ist es schwer, ins Zentrum zu kommen, sagt Deborah, diese Wohnviertel sind von allem abgeschnitten. Vergessen.
Auch einige Kilometer Luftlinie näher an der Innenstadt regiert dieses Gefühl. Die anstehenden Wahlen interessieren in diesen Quartiers niemanden mehr, Politiker kommen hierher sowieso nicht.
Ein Viertel unter großem Einwanderungsdruck
Julie Kreztschmar leitet das kleine Theater "Les banc spublics" im 3. Arrondissement von Marseille.
"Ich empfinde die Spannungen im Alltag hier als stark. Sie sind der Beleg dafür, dass man ein Viertel wie dieses sich selbst überlässt."
Der Einwanderungsdruck ist kaum zu beschreiben, sagt Julie, vor kurzem hätten die Leute bis um diese Straßenecke angestanden, als Essen verteilt wurde. Hier wird gehungert.
Schauen Sie sich um, sehen Sie irgendwo Werbung?, fragt Julie auf dem Weg zu ihrem kleinen Theater. Hier wirbt keiner mehr für Waren, die ohnedies niemand bezahlen und kaufen kann.
Mit ihrer Bühne in einem ehemaligen Boxerclub versucht Julie Kreztschmar auch, andere Menschen ins Viertel zu bekommen, obwohl auch hierher kaum ein Bus fährt.
"Was beunruhigend ist, dass die politische Klasse nicht versteht, dass all diese republikanischen Debatten, die wir nach den Anschlägen vom Januar führen, dass die hier nicht mehr verfangen. Das hier ist eine andere Welt."