Christoph Heinemann: Das Plakat, das den Front National als erste Partei Frankreichs feiern soll, müssen die Rechtsextremisten vorerst im Schrank liegen lassen. Überraschend hat die konservative Oppositionspartei UMP die Nase vorn bei den Departementswahlen in unserem Nachbarland. Bezogen auf ganz Frankreich erreichte das Lager des ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy zirka 32 Prozent, Platz zwei Front National mit rund 25, gefolgt von den in Paris regierenden Sozialisten, die etwa 24 Prozentpunkte erreichten. Letztere dürfen das Ergebnis als Ohrfeige empfinden, während der Front National, auch wenn die nationale Spitzenstellung verfehlt wurde, in rund 40 Departements die Nummer eins ist - vielleicht auch deshalb, weil nur gut die Hälfte der Berechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten. Die Stichwahl findet am kommenden Sonntag statt.
Am Telefon ist Professor Henrik Uterwedde vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Guten Tag.
Henrik Uterwedde: Guten Tag, Herr Heinemann.
Heinemann: Professor Uterwedde, wie national aussagekräftig ist diese Departementswahl?
Uterwedde: Nun, die hat schon den Charakter einer nationalen Testwahl. Das zeigen auch alle Umfragen. Die zeigen, dass die lokalen Belange nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben, und die Franzosen haben traditionell diese lokalen Wahlen, die ja immer am gleichen Tag im gesamten Land stattfinden, immer benutzt in der Vergangenheit, um ihre Stimmung gegenüber der Regierung auszudrücken. Insofern den Schuh, dass hier die Regierung eine Niederlage erlitten hat, den muss sich Manuel Valls schon anziehen.
"Bei der Linken ist das Tischtuch stark zerschnitten"
Heinemann: Premierminister Valls war erleichtert, wir haben ihn gehört. Hat er Grund dazu?
Uterwedde: Ja, natürlich! Es kann eigentlich nur jeden freuen, dass nicht in unserem Nachbarland auf einmal der Front National mit seiner doch sehr primitiv-nationalistischen antieuropäischen Programmatik Partei Nummer eins werden würde. Insofern ist das eine Genugtuung für alle Republikaner in Europa über Frankreich hinaus. Nur wie gesagt, andererseits: Der Preis, den die Linke dafür zahlen muss, ist eben, dass die UMP, also die gemäßigte Rechte, ganz deutlich stärkste Partei geworden ist und insofern der Linken doch auch eine Wahlschlappe bereitet hat.
Heinemann: Was trennt die Linken? Wir haben gehört, sie ist tief gespalten.
Uterwedde: Ja, sie ist tief gespalten. Das hat sich in den letzten ein, zwei Jahren ja gezeigt über die Regierungspolitik. Es gibt die Regierung und ein Großteil noch der Partei und der sozialistischen Partei und der Abgeordneten, die für den zögerlichen, aber doch erkennbaren Reformkurs sind, und es gibt dann Teile der Linken und vor allen Dingen die Linksfront - so heißt sie tatsächlich, Front de gauche - die Regierung erbittert bekämpfen und eigentlich fast so tun, als ob der Hauptfeind in diesem Lande nicht der Front National, sondern Francois Hollande und seine Regierung seien. Hier ist das Tischtuch sehr, sehr stark zerschnitten und das führt dazu.
In Frankreich ist es bei diesem Mehrheitswahlsystem immer so: Das Lager, was relativ geeint ist, das ist in der Lage zu gewinnen, und Nicolas Sarkozy hat es tatsächlich geschafft, die UMP und die gemäßigte Rechte hinter sich zu bringen. Das Lager, das zersplittert ist, zahlt einen sehr bitteren Preis für die Zersplitterung, und diesen Preis zahlen heute die Linken, weil die Sozialisten und die Linkssozialisten und die Grünen und die Kommunisten getrennt angetreten sind und getrennt ist man der Verlierer in diesem Mehrheitswahlsystem.
"Front National setzt auf Populismus"
Heinemann: Ist der Front National Frankreichs Syriza, wie die "Süddeutsche Zeitung" heute kommentiert?
Uterwedde: Ich würde nicht so weit gehen. In Bezug auf unreale und irreale Vorstellungen in der Wirtschaftspolitik und in der Rolle Europas ja. Das kann man schon sagen. Nur auf der anderen Seite transportiert der Front National natürlich auch darüber hinaus ein doch rechtsextremes Menschenbild und ein fremdenfeindliches Bild, das doch Welten von Syriza trennt. Aber aus Sicht von Regierung und aus Sicht der Regierungsfähigkeit in Parlamenten, da ist natürlich die Rolle einer solchen Partei, die eigentlich pauschal alles ablehnt, was verantwortungsvolle Regierungspolitik in Frankreich und in Europa darstellt, da spielt der Front National in der Tat eine ähnliche Rolle wie Syriza, weil er im Grunde genommen, sage ich mal, den Weg vernünftiger Reformen pauschal verweigert und auf Populismus setzt.
Heinemann: Ist dieser Front National spätestens seit gestern eine Volkspartei?
Uterwedde: Ja, kann man so sagen, auch wenn man sich anschaut, wo eigentlich die Wähler herkommen. Das Bittere für die Linke und übrigens gerade für die Kommunisten auch ist, dass eigentlich der Front National teilweise die stärkste Arbeiterpartei geworden ist, die hier von der Krise auch profitiert. Und der Front National ist eben auch in den Lokalwahlen jetzt dabei, sich lokal stärker zu verankern. Er hatte in fast allen Wahlkreisen eigene Kandidaten und diese lokale Verankerung, die spielt eine sehr, sehr große Rolle auf dem Weg zu einer Volkspartei, und das ist dem Front National wieder in einem weiteren Schritt gelungen. Davon muss man ausgehen.
Polarisierung durch das Mehrheitswahlrecht
Heinemann: Hat die Partei ihr Potenzial damit ausgereizt? Gehen Sie davon aus, dass Bürgerinnen und Bürger bei national wichtigen Wahlen, also bei Präsidentschaftswahlen oder Parlamentswahlen, dass sie dann weniger extremistisch wählen?
Uterwedde: Solange der Damm zwischen UMP, Sarkozy und Front National hält und es hier keine Allianzen gibt, da scheint in der Tat das Potenzial vom Front National an eine Grenze zu stoßen. Bei der Europawahl hatten sie auch etwa 25 Prozent. Und ich sagte ja: In dem Mehrheitswahlsystem brauchen sie Verbündete. Da kommen sie mit 25 Prozent nicht weit, sie brauchen 51 Prozent, und solange der Front National nicht bündnisfähig ist, wird er isoliert bleiben. Insofern gibt es hier tatsächlich auch Anlass dazu zu sagen, der Front National steht nicht vor einem unaufhaltsamen Aufstieg, der immer weiterführen wird.
Heinemann: Aber trotzdem vielleicht die Frage: Radikalisiert sich Frankreich in Form und Inhalt der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung?
Uterwedde: Na ja, hier zeigt sich etwas, was das politische Klima in Frankreich eigentlich schon immer ausgezeichnet hat, oder in den letzten 30, 40 Jahren ausgezeichnet hat. Es ist eine sehr starke Polarisierung, auch verstärkt durch das Mehrheitswahlrecht. Es ist eine Ideologisierung, eine ideologische Polarisierung, und in dieser Polarisierung ist wenig Raum für Zwischentöne, für Grautöne. Und allein die Tatsache, dass zum Beispiel die gemäßigte Rechte um Sarkozy sich weigert, im Zweifelsfall lieber zur Wahl von Sozialisten aufzurufen als vom Front National, zeigt, wie stark das Freund-Feind-Denken verankert ist, und das ist etwas, was es dem Land sehr, sehr schwer macht, vernünftige Mehrheiten für vernünftige Politik zu tun und eventuell auch mal parteiübergreifend Mehrheiten zu schaffen für dringend notwendige Reformen. Das macht mir schon seit einiger Zeit Sorgen. Das hat sich jetzt gestern Abend wieder bestätigt, ohne dass es jetzt wesentlich stärker geworden sei.
Heinemann: Professor Henrik Uterwedde vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Uterwedde: Auf Wiederhören!
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