Der Fall von Alain Cocq machte international Schlagzeilen. Der Franzose leidet an einer unheilbaren Krankheit, die ihm immer mehr Schmerzen verursacht. Über die sozialen Netzwerke verkündete er im letzten Herbst von seinem Krankenbett aus:
"Am 4. September um 0.00 Uhr breche ich jede Behandlung ab, jede Ernährung und Flüssigkeitszufuhr. Und das wird live auf meiner Website übertragen. Die Franzosen müssen verstehen, was ein Todeskampf bedeutet."
Aktive Sterbehilfe erlangt durch Pandemie neue Dringlichkeit
Jedoch blockierte Facebook eine weitere Übertragung und Alain Cocq nahm die künstliche Ernährung wieder auf. Um sein Leiden zu beenden, hofft der Mann Ende 50 jetzt auf eine Gesetzesänderung für aktive Sterbehilfe. Unter den Abgeordneten der Nationalversammlung aus verschiedenen Fraktionen kursierten mehrere Vorschläge, die nun zu einem zusammengefasst wurden. Dass im Ausschuss für Soziales diesem Text mit breiter Mehrheit zugestimmt wurde, macht Jean-Louis Touraine optimistisch. Touraine ist Abgeordneter der Präsidentenpartei "La République en Marche" und gehört damit zur parlamentarischen Mehrheit. Allein seinen Gesetzesvorschlag für eine aktive Sterbehilfe hätten über 170 Abgeordnete aus seiner Fraktion unterschrieben, sagt Touraine, der auch Arzt ist. Er glaubt, die Pandemie habe das Thema noch dringlicher gemacht.
"Die Kranken, die gestorben sind und nicht künstlich beatmet werden konnten, weil sie zu alt waren oder zu krank, sind erstickt. Das ist sehr hart. Manche haben gefleht: Beendet diesen Todeskampf. Und man konnte ihnen nicht helfen. Ich habe tausende von Briefen bekommen von Leuten, die mir ergreifend ihre Zeugnisse eines quälenden Lebensendes erzählt haben und die sagen: Es ist heute wichtiger als jemals zuvor aus diesem schlimmen Sterben in Frankreich rauszukommen. In allen Parteien sagen wir: in Frankreich, stirbt man schlecht."
Behinderung des Parlaments
Deshalb würden dazu auch viele Betroffene in Nachbarländer wie Belgien oder Luxemburg fahren – fügt Jean-Louis Touriane hinzu. Der fraktionsübergreifende Gesetzestext sieht nun vor, dass Todkranke, die körperlich oder psychisch so leiden, dass dies als unerträglich eingeschätzt wird, aktive Sterbehilfe beanspruchen können. Klauseln für das ärztliche Gewissen wurden eingebaut sowie Garantien über die Einwilligung des Kranken. Vor allem vielen konservativen Abgeordneten geht das aber zu weit und zu schnell. Sie plädieren dafür, die geltende Gesetzeslage besser auszuschöpfen, wenn Schwerstkranken am Lebensende geholfen werden soll. Außerdem wünschen sie sich für eine Gesetzesänderung erst die Meinung des nationalen Ethik-Komitees. Aber die Befürworter einer aktiven Sterbehilfe wollen den Prozess schnell vorantreiben.
Die Oppositionsfraktion "Libertés et territoires" hat nun als erste einen Termin auf der Agenda der Nationalversammlung ergattert, um den neuen Gesetzestext ins Parlament zu bringen. Fünf Abgeordnete der Republikaner wiederum haben im Kampf gegen den Gesetzestext mehr als 2.000 Änderungsanträge eingebracht. Das könnte verhindern, dass die Abgeordneten in dem zeitlich eng befristeten Korridor im Parlament über die Neuerung abstimmen können. Jean-Louis Touriane spricht von einer Provokation.
"Das nennt man 'Behinderung des Parlaments'. Es ist eine kleine Gruppe – fünf sehr konservative, traditionalistische Abgeordnete. Sie wissen, dass sie eine Minderheit sind, und haben verstanden, dass das Gesetz beschlossen wird, wenn die Regeln und der Prozess einer demokratischen Mehrheit respektiert werden. Das wollen sie verhindern und nutzen etwas, das zwar legal ist. Aber eine ganz kleine Minderheit hindert so die Mehrheit daran, über den Text abzustimmen."
Diskussion um Sterbehilfe ist nicht neu
Die Diskussion um ein selbstbestimmtes Lebensende ist in Frankreich nicht neu. Die "Vereinigung für das Recht in Würde zu sterben" zum Beispiel, setzt sich seit über dreißig Jahren dafür ein. Die Sängerin und Schauspielerin, Line Renaud, leistet dem Verein prominente Unterstützung. In einer Video-Botschaft spricht die 92Jähre davon, wie sehr ihr das Thema am Herzen liegt.
"Ich bin eine Frau der Bühne. Ich weiß, wie viel es wert ist, ein schönes Ende zu haben. Wie bekommt man es hin, seinen Abgang aus dieser großen Szene des Lebens nicht zu verpfuschen? Einfach in dem man Herr seiner eigenen Entscheidungen bleibt."
Der Arzt und Abgeordnete Jean-Louis Touraine führt Umfragen an und ist sich sicher:
"Das Thema hat Priorität für die Menschen in Frankreich. Und darauf hört die Regierung."
Sollte die Debatte in der Nationalversammlung nun tatsächlich verhindert werden, so glaubt Touraine, die Gesetzesänderung werde auf anderem Weg wieder ins Parlament kommen. Weil sich die Regierung des Themas annimmt oder die parlamentarische Mehrheit seiner Fraktion den Text erneut einbringt. Er will, dass noch in dieser Legislaturperiode in Frankreich Todkranke ein Recht auf aktive Sterbehilfe bekommen.