Erstmals seit 20 Jahren steht ein französischer Präsident ohne absolute Parlamentsmehrheit da und muss mit seiner Regierung auf die Unterstützung anderer Lager bauen. Ein Regieren mit Koalitionen über das eigene politische Lager hinweg sowie mit Kompromissen ist in Frankreich weniger üblich als in Deutschland. Für eine mögliche Koalition oder Zusammenarbeit muss die Partei von Emmanuel Macron nun auf mögliche Partner im Parlament zugehen. Die Auswahl ist dabei sehr begrenzt: Eine Mehrheit scheint nur über eine Zusammenarbeit mit den Republikanern erreichbar.
Macron muss angesichts herber Mandatsverluste mit seinem Mitte-Lager in der Nationalversammlung Partner für eine Regierungsmehrheit suchen. Die nach dem Wahlergebnis deutlich gestärkten Parteien am linken und extrem rechten Rand werden auf mehr Einfluss pochen und auf einen harten Oppositionskurs einschwenken. Möglicher Partner des Macron-Lagers könnten die bürgerlich-konservativen Républicains werden, aber das ist längst nicht ausgemacht. Die Wahlbeteiligung lag mit etwa 46 Prozent nur knapp über dem historischen Tiefstand von 2017 mit 43 Prozent.
Wie reagiert das Macron-Lager?
"Sind wir enttäuscht? Ja", sagte Regierungssprecherin Olivia Grégoire nach der zweiten Runde der Parlamentswahl. Das Wahlbündnis von Macron sei weiterhin "die erste politische Kraft", habe aber an Stärke verloren, räumte sie ein. "Das ist weit entfernt von dem, was wir uns erhofft hatten", sagte Haushaltsminister Gabriel Attal.
Die Ergebnisse seien im Élyséepalast als "enttäuschend" aufgenommen worden, berichtete der französische Sender BFMTV in der Nacht auf den 20. Juni 2022. Das Macron-Lager redet das Ergebnis nicht schön, betont aber, dass das Ergebnis der Präsidentschaftswahl dadurch nicht in Frage gestellt werde, schließlich habe das Bündnis des Präsidenten auch die meisten Stimmen eingefahren. Die Frage sei, wie es jetzt weiter gehen werde. Ein Rezept dafür gibt es nicht.
Premierministerin Élisabeth Borne will sich nun um eine mögliche Koalition bemühen. "Als zentrale Kraft in der Nationalversammlung müssen wir eine besondere Verantwortung übernehmen. Wir werden ab morgen daran arbeiten, eine handlungsfähige Mehrheit aufzubauen", sagte Borne am Abend des 19. Juni in Paris.
"Heute Abend haben wir eine neuartige Situation", sagte Borne zum Verlust der absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung. Diese Lage sei ein Risiko für das Land angesichts der Herausforderungen im Inland und international. Aber das Ergebnis müsse man respektieren und mit Verantwortung handeln. "Die Franzosen rufen uns auf, uns im Interesse des Landes zu einen." Zugleich benannte die Premierministerin Prioritäten der künftigen Regierung. Ab dem Sommer solle es starke und konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Kaufkraft der Franzosen geben. Das Streben nach Vollbeschäftigung sowie der ökologische Wandel ständen oben an, das Schul- und Gesundheitswesen müssten verbessert werden. Weitere Prioritäten seien die Souveränität Frankreichs im Energiesektor und dem Lebensmittelbereich.
Werden die Republikaner die Regierung tragen?
Um diese Politik umsetzen zu können, braucht Premierministerin Borne politische Partner im Parlament. Das Macron-Bündnis Ensemble! hat 245 der 577 Sitze bekommen – 44 zu wenig. Denn für die absolute Mehrheit werden mindestens 289 Sitze benötigt. Für eine Mehrheit gibt es momentan nur eine realistische Option: Ein Bündnis mit den Republikanern und deren Verbündeten.
Damit würden sich zwei Lager zusammentun, die beide bei der Parlamentswahl verloren haben. Das Bündnis um die Republikaner hat nur noch 74 Sitze im Parlament, bei der Wahl 2017 kamen die Parteien des Bündnisses noch auf 115 Sitze. Das Macron-Lager ist auf die Republikaner und Konservativen nun stark angewiesen, ihre Positionen sind oft nicht weit entfernt vom Macron-Lager – von einem echten Bündnis hingegen schon. Dass die beiden Lager eine Koalition nach deutschem Verständnis eingehen, ist eher unwahrscheinlich, für einzelne Gesetzesvorhaben stünden sie aber sicher zur Verfügung.
Danielle Fasquelle, Schatzmeister der Republikaner, betonte, man werde weder in Macrons Partei aufgehen, noch den Präsidenten retten. Man werde die Politik der Regierung beeinflussen, beispielsweise bei den Themen Einwanderung, Sicherheit und Rente.
Andere Mehrheiten sind nicht in Sicht. Das Linksbündnis um Jean-Luc Mélenchon zeigt keinerlei Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit. Einige Sozialisten hatten sich dem Bündnis verweigert und haben eigenständig Mandate errungen. Vor der Wahl war spekuliert worden, dass sie Macron zu einer Mehrheit verhelfen könnten. Doch die fehlenden 44 Sitze können sie nicht ausfüllen. Eine Zusammenarbeit mit dem Front National um Marine Le Pen ist ebenfalls keine Option.
Erste Stimmen reden nun davon, dass eine Totalblockade des Parlaments drohe, das Parlament müsse dann aufgelöst und neu gewählt werden. Optimistischere Beobachter sehen in der neuen Situation eine Chance. Der Präsident könne nun eben nicht mehr durchregieren, sondern müsse sich im Parlament immer wieder neue Mehrheiten erarbeiten. Das werde das Parlament stärken.
Macron hatte schon vor der Wahl Zugeständnisse nach links angedeutet, um hier Mehrheiten bilden zu könen. Er will der ökologischen Wende in seiner zweiten Amtszeit höchste Priorität einräumen. Außerdem scheint er gewillt, seinen Plan, das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre zu erhöhen, aufzugeben.
Der Front National vervielfacht seine Mandate
Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen, die Macron in der Stichwahl um das Präsidentenamt unterlegen war, begrüßte das unerwartet gute Abschneiden des Rassemblement National. Ihre Partei werde "die größte Fraktion in der Geschichte (ihrer) politischen Familie" in der Nationalversammlung bilden, sagte sie in Hénin-Beaumont. Die Nationalversammlung werde künftig "nationaler" werden.
Der Front National ist damit klarer Sieger der Wahl und wird vom Ergebnis strukturell erheblich profitieren. Eine eigene Fraktion hatte die Vorgängerpartei Front National unter verändertem Wahlrecht zuletzt 1986 gebildet. Es bedeutet vor allem, dass die Abgeordneten mehr Geld und mehr Redezeit bekommen. Mit mehr als 80 Abgeordneten wird der hoch verschuldete Rassemblement National jährlich über zehn Millionen Euro an öffentlichen Geldern erhalten.
In der Nationalversammlung hat die Partei keine Verbündeten, Einfluss auf die Politik der Regierung wird sie wohl nur indirekt nehmen können. Das ausgegebene Ziel, die stärkste Oppositionsfraktion zu werden und die Regierungspolitik zu beeinflussen, hat Marine Le Pen also trotz des unerwartet starken Abschneidens verpasst.
Außerhalb des Parlamentes steht die Partei von noch weiter rechts unter Druck. Der extrem rechte Publizist Eric Zemmour hatte Le Pen im Wahlkampf scharf attackiert, sie sei unfähig zu regieren. Zemmour hatte sich auch um die Präsidentschaft beworben und hatte gut sieben Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang bekommen. Bei der Parlamentswahl ging seine Partei Reconquête allerdings leer aus.
Linkes Bündnis setzt auf Totalopposition
"Wir haben unser Ziel erreicht und denjenigen zum Fall gebracht, der mit Arroganz das Land misshandelt hat", kommentierte der linkspopulistische Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon das Ergebnis. Als Partner stehe man nicht zur Verfügung: Wir haben nicht die selben Ziele, nicht die gleichen Werte, wir glaube nicht an die gleiche Zukunft.“ Mélenchon selbst war nicht angetreten, hatte sich aber als Premierminister ins Gespräch gebracht.
Als Präsidentschaftskandidat der Partei „Unbeugsames Frankreich“ hatte Mélenchon nur knapp die Stichwahl verpasst. Danach gelang es ihm und seiner Partei eine linke Union zu schmieden, die Neue ökologische und soziale Volksunion. Und das, obwohl die linken Parteien seit Jahren als gespalten galten. Die Sozialistische Partei, die Partei „Europa, Ökologie, die Grünen“ und die Kommunistische Partei schlossen sich dem Wahlbündnis an. Die Verhandlungen über ein gemeinsames Programm, die Verteilung der Wahlkreise und das Aufstellen gemeinsamer Kandidaten liefen unkomplizierter, als manche Beobachter es erwartet hatten. Das Wahlergebnis des Bündnisses blieb hingegen hinter manchen Erwartungen zurück: Im Vorfeld der Wahl schien auch eine Mehrheit für die Linken denkbar.
Linkes Programm von 650 Punkten und Rente mit 60
In dem Bündnis hatten Mélenchon und sein Unbeugsames Frankreich den Ton angegeben. Das war einerseits logisch, denn sie haben bei der Präsidentschaftswahl viel besser abgeschnitten als die anderen linken Parteien. Aber es brachte Grünen, Sozialisten und Kommunisten den Vorwurf ein, sie würden sich unterwerfen. Parti Socialiste, Grüne und Kommunisten lehnten nach der Wahl nun Mélenchons Forderung ab, eine einheitliche Parlamentsgruppe zu bilden.
Mit einem gemeinsamen Programm von 650 Punkten versprach das Linksbündnis unter anderem mehr Bürgerbeteiligung durch Referenden und eine bessere politische Repräsentation der politischen Parteien durch Einführung des Verhältniswahlrechts. Das Rentenalter soll auf 60 Jahren gesenkt werden (bisher 62). Europäische Verträge sollen da gebrochen werden, wo sie dem Programm im Weg stehen. Das bringt vor allem den Grünen Kritik ein, die bisher als pro-europäisch galten. Über Programmpunkte, bei denen man sich in der linken Volksunion nicht einige wurde, wollte man in der kommenden Legislaturperiode das Parlament entscheiden lassen.
Quellen: Christiane Kaess, dpa, AFP, pto