Fast eine Woche lang haben die Ausschreitungen in den Städten Frankreich in Atem gehalten. An die 5.000 Autos brannten und rund 10.000 Mülltonnen wurden angezündet. Mehr als 1.000 Gebäude erlitten Schäden durch die gezielten Attacken, darunter Rathäuser und Schulen. Die fast ausschließlich männlichen Angreifer verletzten mehr als 700 Einsatzkräfte.
Was war der Auslöser der Unruhen?
Auslöser war der Tod des 17-jährigen Nahel in Nanterre. Der junge Mann war am 27. Juni in dem westlichen Vorort der französischen Hauptstadt Paris von einem Polizisten erschossen worden, als er sich einer Verkehrskontrolle entziehen wollte.
Die Wut der Protestierenden richtete sich gegen den Staat. Aber nicht nur. Die Randalierer zerschlugen auch etliche Geschäftsfassaden und plünderten. Um sie zu stoppen, setzte die Regierung 45.000 Sicherheitskräfte ein. Nach fünf Krawallnächten hat sich die Lage stabilisiert.
Jetzt werden die Scherben zusammengekehrt – auch im übertragenen Sinn. Präsident Emmanuel Macron will sich auf die Suche nach den Ursachen für die Gewaltexzesse machen. Er hat mehr als 200 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister getroffen, deren Kommunen Opfer von Randalierern waren. Mit ihnen, die vor Ort und nahe an den Menschen sind, will der Staatschef an langfristigen Lösungen arbeiten.
Wie werden die Unruhen in Frankreich gesehen?
In der Regierung will man die Ausschreitungen nicht als einen Aufstand der Banlieues sehen. Regierungsberater verweisen auf Milliardensummen, die über Jahrzehnte in die französischen Vorstädte geflossen sind.
Seit 1977 gab es zwölf Regierungspläne, 100 Milliarden Euro wurden investiert. Emmanuel Macron lehnte zu Beginn seiner Amtszeit einen weiteren großen Plan für die Banlieues ab, der bereits auf Tisch lag. Doch wurden Maßnahmen wie kleinere Schulklassen oder Verbesserungen zur Berufsausbildung ergriffen, um die Bedingungen in den Vorstädten zu verbessern.
Kritiker werfen Präsident Macron vor, er habe zu wenig für die Vorstädte getan. Die Milliarden der letzten Jahrzehnte seien vor allem in Gebäude geflossen.
Viele Probleme, aber weniger Infrastruktur
Erwan Ruty, der seit Langem in und zu den Banlieues arbeitet, bemängelt, dass die Organisationen vor Ort zu wenig finanzielle Zuwendung bekämen. Vereine, die den Aufruhr vor Ort beruhigen könnten, seien mittlerweile blutleer, sagt Ruty. Er hält die Regierung für eine „bürokratische Megamaschine“, wenn es um die Vorstadt-Problematik geht. Die schwachen Vereinsstrukturen der Problemviertel schafften es nicht mehr, zusammen mit der Regierung ein langfristiges Projekt zur Lösung der Probleme aufzubauen.
Beklagt wird auch, dass es in manchen Banlieues trotz der explosiven Lage weniger Sicherheitskräfte, Richter oder Lehrkräfte gibt als andernorts. Sozialarbeiter in den betroffenen Vorstädten sehen einen großen Bedarf an ihrer Arbeit. Die Mittel dazu aber reichten nicht. Gleichzeitig betonen sie, dass sie den meisten Jugendlichen helfen könnten, die mit ihren Problemen zu ihnen kommen. Die Erfolgsgeschichten aber gelangen wenig bis gar nicht an die Öffentlichkeit – im Gegensatz zu den Bildern der Ausschreitungen.
Etwa fünf Millionen Menschen wohnen in Frankreichs sozialen Brennpunkten. Rechnet man das Budget, das der Staat für diese Menschen ausgibt auf den Einzelnen um, komme man derzeit auf acht Euro pro Monat. Darauf verweist Catherine Vautrin, die den konservativen Republikanern angehört und Präsidentin des Gemeindeverbandes Grands Reims ist.
Welche Folgen haben die Unruhen in Frankreich?
Die Bewohner in den Problemvierteln leiden selbst am meisten unter der Gewalt. Wer hier sein Auto verliert, weil Krawallmacher es nachts angezündet haben, kann sich so schnell kein Neues kaufen.
In den Banlieues befürchtet man auch, dass durch die jüngsten Unruhen erneut das negative Image der Vorstädte befördert wird. Wer aus einem sozialen Brennpunkt kommt, hat es schwerer, einen Job oder eine Wohnung zu finden. Auf etablierte Netzwerke können die meisten nicht zurückgreifen. Die Arbeitslosigkeit ist in den Banlieues selbst deutlich höher als im Rest des Landes.
Ein weiteres Problem: die hohen Kriminalitätsraten. Einen großen Teil davon macht der Drogenhandel aus. Sicherheitspolitisch hat dies dazu geführt, dass immer mehr Polizisten im Einsatz sind, die auf harte Interventionen geschult sind, und weniger Kontaktpolizisten, die mit Jugendlichen ein unverfängliches Gespräch auf den zubetonierten Plätzen führen.
Unruhen von 2005 prägen Jugendliche
Stattdessen scheint sich ein Teufelskreis entwickelt zu haben: Immer mehr Brutalität in den Vierteln durch Drogenbanden führt zu immer brutaleren Polizeieinsätzen. Angst vor der Polizei ist ein weitverbreitetes Phänomen unter Jugendlichen.
Neu ist diese Angst nicht. Bereits 2005 kamen der 17-jährige Zyed Benna und der 15-jährige Bouna Traoré ums Leben. Sie liefen vor einer Polizeikontrolle davon, flüchteten sich in ein Transformatorenhäuschen und wurden von Stromschlägen tödlich getroffen. Drei Wochen lang erschütterten Unruhen anschließend das Land. Die Ereignisse damals prägen die Jugendlichen bis heute.
Rechte Politikerinnen und Politiker sehen hinter den Ausschreitungen eine gescheiterte Migrationspolitik. Für den Parteichef der konservativen Republikaner, Éric Ciotti, steckt hinter den Ausschreitungen ein „Hass auf Frankreich“. Für Jordan Bardella, Parteichef des extrem rechten Rassemblement National, wäre ein neuer Plan für die Banlieues ein Geschenk für die Randalierer und ein Zeichen für die Laxheit der Regierung.
Wer sind die Festgenommenen?
Die Unruhen nach dem Tod des 17-jährigen Nahel gehen über das bereits bekannte Phänomen des „Aufstandes der Vorstädte“ hinaus. Die Randalierer wagten sich auch in die Stadtzentren vor. Beobachter sehen die Proteste der Gelbwesten und die gegen die Rentenreform als „Vorbilder“. Dass es vor allem junge Menschen sind, die Rathäuser in Brand stecken oder Schaufenster einschlagen, bestimmt die Diskussionen über den Umgang mit der Gewalt.
Das Durchschnittsalter der Festgenommenen liegt bei 17 Jahren. Auch 12-, 13- oder 14-Jährige sind darunter. Die Zeitung „Le Monde“ hat näher zu ihren Hintergründen recherchiert und ist auf „komplexe Profile“ gestoßen.
Demnach haben viele keinerlei auffällige Vorgeschichten, andere sind bereits tief im kriminellen Milieu verwurzelt. Ein Großteil kämpft mit schulischen Problemen, fragilen Familiensituationen und prekären Verhältnissen. Es herrsche die Auffassung vor, nur Gewalt ändere etwas an den Umständen, zitiert „Le Monde“ eine Lehrkraft aus einer Schule in Nanterre, wo Nahel erschossen wurde.
Die Jugendlichen werden zudem als unzugänglich und überreizt beschrieben. Auch fehlt es vielen an einer erwachsenen Bezugsperson. Streetworker bezeichnen sie als „Generation Covid“, mit der man kaum Kontakt aufnehmen könne. Wut, Revolte, Kriminalität – alles mische sich zu einem explosiven Cocktail, schreibt „Le Monde“.
Welche Rolle spielten soziale Netzwerke?
Die sozialen Netzwerke spielten bei den Unruhen eine wichtige Rolle. Auf Plattformen wie TikTok oder Snapchat organisierten sich die Jugendlichen und stachelten sich gegenseitig zur Gewalt an. Ihre Verbindungen auf den sozialen Netzwerken vermittelten ihnen ein Gefühl, allmächtig zu sein, heißt es.
Die Regierung hat die Betreiber der Plattformen dazu aufgerufen, entsprechende Inhalte zu entfernen. Sie will mutmaßliche Unruhestifter identifizieren. Präsident Macron möchte zudem veranlassen, die sozialen Netzwerke bei Ausschreitungen zu blockieren.
Lehrerinnen und Lehrer sowie Mitglieder von Organisationen, die mit den Jugendlichen arbeiten, berichten von Verrohung und Respektlosigkeit. Manche stellen eine Verbindung her zum Onlineverhalten von Kindern, die im Internet wie selbstverständlich Videos von Hinrichtungen, Folter oder Pornografie konsumierten. Emmanuel Macron sprach von Kindern, die Videospiele auf der Straße nachspielten.
Welche Verantwortung haben die Eltern?
Oft wird gefragt, warum sich 13- oder 14-jährige Kinder nachts auf der Straße rumtreiben. Ein Drittel der Festgenommenen seien minderjährig, gab die Regierung bekannt. In einer Nacht seien es mehr als die Hälfte gewesen.
Politik und Justiz wollen die Eltern zur Verantwortung ziehen: Strafen oder Praktika, die das Verantwortungsbewusstsein der Eltern hervorrufen, schlug Regierungssprecher OlivierVéran nach einer Sitzung des Ministerrats vor. Konkrete Entscheidungen sollen in den kommenden Wochen folgen. Schon bald nach Beginn der Unruhen hatte Präsident Macron an die Eltern appelliert und klargestellt: der Staat könne die Eltern nicht ersetzen.
Schnelle Urteile nach Festnahmen
Die konservative Politikerin CatherineVautrin verweist auf die Überforderung alleinerziehender Mütter. Sie machten rund ein Viertel der Elternschaft in den betroffenen Vierteln aus. Die Präsidentin des Gemeindeverbandes Grands Reims zitiert eine von ihnen, die ihr sagte: „Heute Nacht habe ich mit dem Schlüssel meines Appartements unter meinem Kopfkissen geschlafen, um sicherzustellen, dass mein Sohn nicht rausgeht.“
Unterdessen sind die ersten Festgenommenen verurteilt worden. Zuvor hatte Justizminister, Éric Dupond-Moretti, Frankreichs Staatsanwälte aufgefordert, schnell und entschlossen gegen die Randalierer vorzugehen.
Auch Dupond-Moretti appellierte an die Verantwortung der Eltern. Wenn das nicht klar sei, so der Justizminister, werde man sie dran erinnern, dass sie eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren riskierten sowie eine Geldstrafe von 30.000 Euro.