Ein Vereinshaus in Bonneuil, 15 Kilometer vor Paris. Bintou, Gounery und ihre Freunde überlegen, was ihnen zum Thema "Dschihad" einfällt. Kenza schreibt die Ausdrücke auf eine Tafel: Krieg - Terrorist - Wut - Attentat - Amalgam. Wenn du Bart und Dschellaba trägst, bist du ein Terrorist. Aber auch: Das macht mir gar nichts aus.
Die 15-Jährigen nehmen an einem Workshop teil, dessen poetischer Titel "Slam unterm Halbmond" nicht vermuten lässt, dass er die islamistische Radikalisierung bekämpfen will. Organisiert haben ihn eine Sozialarbeiterin, ein Philosoph und der Dokumentarfilmer Armand Bernardi. Der Mittsechziger ist auf Bildungsthemen spezialisiert.
"Mit diesem Workshop reagieren wir auf ein Problem, das wir in den meisten Banlieues antreffen: Hier wachsen Kinder aus muslimischen Familien auf, die praktisch nichts über die philosophischen Grundlagen des Islams wissen. Sie gehen selten in die Moschee. Die Schule jedoch vermittelt kein Wissen über den Islam. Diese Lücke wollen wir füllen. Außerdem sollen sich die Jugendlichen persönlich ausdrücken, und zwar in einer Form, die sie mögen, nämlich Rap und Slam."
Bei Sylvie Forestier ist der Filmemacher mit seinem Projekt auf offene Ohren gestoßen. Die Sozialarbeiterin begleitet und unterstützt Eltern und Kinder in der Hochhaussiedlung von Bonneuil seit vielen Jahren. Sie bestätigt:
"Die Familien sprechen wenig über ihre Religion und ihre Kultur, das Thema scheint leider tabu zu sein. Deshalb haben die sozialen Netzwerke und die Straße so großen Einfluss. Aber dort wird alles Mögliche und Unmögliche kolportiert."
"Immer mehr private Koranschulen"
Umso schlimmer sei, dass Frankreich Stellen und Geld für Sozialarbeiter, Erzieher und Vereine zusammenstreiche. Die Fachleute und Pädagogen würden oft durch selbst ernannte Prediger ersetzt, sagt Sylvie Forestier. In Bonneuil spüre sie das ganz deutlich:
"Es verändert sich was. Die Leute werden radikaler. Eine Familie hat ihre Kinder vom Geigenunterricht abgemeldet. Weil man im Islam nicht musizieren darf, sagen sie. Es werden immer mehr Koranschulen organisiert, sie finden in Privatwohnungen statt."
Forestier berichtet, dass viele Heranwachsende in der Schule derart gestört haben, dass sie immer wieder bestraft oder sogar ausgeschlossen wurden. Etwa ein Dutzend von ihnen sei von ihren überforderten Eltern daraufhin nach Mali oder Saudi-Arabien geschickt worden – in Koranschulen. Heute lebten diese jungen Franzosen wieder in der Siedlung. Einige von ihnen hätten jetzt die privaten Koranschulen aufgezogen.
"Ich frage mich: Welche Gefühle hegen sie gegenüber der staatlichen Schule, wo sie derart gescheitert sind, dass sie ihr Heimatland verlassen mussten? Die Jüngeren bewundern sie oft. Was vermitteln sie ihnen? Vielleicht ist es sehr gut, was sie sagen, vielleicht aber auch nicht. Es findet alles hinter verschlossenen Türen statt, in Räumen also, wo ein Einzelner das Wissen für sich beansprucht. So jemand kann die Kinder leicht manipulieren."
Sylvie Forestier kennt viele Jugendliche in Bonneuil von Kindesbeinen an. Sie weiß auch, wessen Bruder nach Syrien gegangen ist und wo ein Familienmitglied im Gefängnis sitzt. Nun hat sie zehn Heranwachsende davon überzeugt, dass es sich lohnt, nach dem Schulunterricht an dem Workshop zum Islam teilzunehmen, und das drei Monate lang.
Islam häufig falsch interpretiert
Erst hätten sie ja wenig Lust gehabt, so viel Freizeit zu opfern, sagen Kenza und Gounery, beide 15 Jahre alt. Aber inzwischen kämen sie gerne.
Kenza: "Zu den Muslimen zu gehören, mit allem was in letzter Zeit passiert, ist nicht einfach. Dass sich jetzt Leute für uns und unsere Religion interessieren, die eigentlich nichts damit zu tun haben, freut uns. Vor allem, dass sie fähig sind, zwischen Terroristen und Muslimen zu unterscheiden, zwischen guten und schlechten Gläubigen, das tut einfach gut."
Gounery: "Mir gefällt, dass sie hier mit uns über die echten Probleme sprechen. Über Jugendliche, die sich radikalisieren, die die Religion falsch interpretieren. Dieser Workshop hilft uns, die Religion richtig zu verstehen. Ich finde, das sollte auch in der Schule passieren. Nach jedem Attentat wird kurz über den Islam gesprochen, danach ist das Thema gleich wieder tabu."
Während Armand Bernardi die Kamera bedient, erklärt der Philosoph und Islamkenner Faker Korchane den Jugendlichen Geschichte und Bedeutung des Wortes "Dschihad", verdeutlicht, dass der Begriff ursprünglich einen inneren Kampf bezeichnet, das Streben, gemäß dem islamischen Glauben zu leben. In einer anderen Sitzung beschreibt er das goldene Zeitalter des Islams und erläutert, welch wichtigen Beitrag die Araber damals zu Mathematik, Astronomie und Philosophie geleistet haben.
Selbstbewusstsein durch Wissen
Die Jugendlichen hören das zum ersten Mal. Sie seien es nicht gewohnt, dass positiv über die islamische Kultur gesprochen wird, sagt Korchane, hätten vielmehr verinnerlicht, dass Araber minderwertig und rückständig seien. Mit dem Wissen über die eigenen Wurzeln will ihnen der Philosophielehrer auch ein gesundes Selbstbewusstsein vermitteln.
"Man sagt den Jugendlichen: Hütet euch vor den Lockungen der Dschihadisten. Aber was bieten wir ihnen eigentlich als Alternative an? Das Projekt "Slam unterm Halbmond" kann eine solche Alternative sein. Wenn es das Bildungsministerium inspirieren könnte, neue Programme zu entwickeln und solche oder ähnliche Workshops zu unterstützen, wäre es gut. Deshalb ist es wichtig, unsere Arbeit bekannt zu machen. Der Film kann dazu beitragen."
Die Jugendlichen haben aus den Gesprächen und Erklärungen Mut geschöpft, um einen Rap zum Thema Dschihad zu schreiben. Den Islam wollen sie weder den Salafisten noch den Islamhassern überlassen. Deshalb sind sie auch einverstanden, dass der Workshop gefilmt und im französischen Fernsehen gezeigt wird.