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Frankreich
Verein klärt Schüler über Weltreligionen auf

In Frankreich ist Religionsunterricht an staatlichen Schulen untersagt. Das hat zur Folge, das zahlreiche französische Kinder und Jugendliche wenig oder keine Kenntnisse über die Weltreligionen haben. Der Verein Enquête kämpft mit Workshops gegen den religiösen Analphabetismus.

Von Bettina Kaps | 11.02.2014
    Ein Sozialzentrum im Einwandererviertel Belleville, im Osten von Paris. Sieben Kinder sitzen am Tisch. Die Elfjährigen haben einen langen Schultag hinter sich, im Anschluss Hausaufgaben-Betreuung und Spielstunde. Bevor es aber nach Hause geht, besuchen sie noch einen Workshop zum Thema Religion. Die Leiterin Marine Afota stimmt sie mit einem Begrüßungslied ein. Dann lässt sie die Jungen – an diesem Tag ist kein Mädchen dabei – über ein Buchstabenspiel das Thema des Treffens erraten.
    Es geht um religiöse Praktiken wie das Gebet. Marine Afota gibt den Kindern kleine Karten mit Bildern oder Stichwörtern wie Rosenkranz, rituelle Waschungen, Synagoge ... Sie sollen herausfinden, welcher Begriff zu welcher der drei monotheistischen Weltreligionen gehört: Anschließend mischt sie die Karten und teilt sie wie zum Quartett-Spiel aus. Die Jungen sollen jeweils eine der drei religiösen Familien sammeln. Sobald sie eine passende Karte ziehen, sollen sie den Begriff auch erklären.
    "Wir beginnen mit der Mannschaft Judaismus. Versucht, eine Karte aus eurer Liste zu ziehen."
    Omar fragt einen Kameraden, ob er die Karte mit der Thora hat. Marine Afota hakt nach:
    "Was ist das, die Thora? Kann man sie essen? Ist es ein Hut?"
    Nein, sagt Jaja, der jüdische Hut heißt doch Kippa. Omar glaubt, dass es sich um ein Gebet handelt. Marine Afota hilft nach: Ein Gegenstand, sagt sie. Jetzt streckt Bobo aufgeregt den Finger: Die Thora ist das Buch der Juden, ruft der schwarze Junge, und lacht stolz über sein Wissen.
    Verein Enquête
    Hinter dem Workshop steht der Verein Enquête, was so viel heißt wie Nachfragen, Erforschen. Und insbesondere eine Frau: Marine Quenin ist Unternehmerin im sozialen Bereich. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit hat sie vor vier Jahren den Verein und die Workshops ins Leben gerufen. Den Anstoß dazu gaben ihr die eigenen Kinder.
    "Meine älteste Tochter kam mit seltsamen Fragen und Bemerkungen aus der Schule, aus denen hervorging, dass die Welt unverständlich ist, wenn man rein gar nichts über Religion weiß. Einmal erzählte sie mir, ihr Freund Elias werde krank, weil er Schwein gegessen habe. Ein anderes Mal beschimpfte sie eine arabische Freundin als 'Schweinekopf'. Ich fragte sie, warum das ein Schimpfwort sei? Sie wusste es nicht. Sie hatte es im Schulhof aufgeschnappt."
    Die Schulferien an Allerheiligen – auf Französisch: "toussaint" – wurden bei dem Mädchen zu "poussin" – auf Deutsch: Küken. Der Ferienkalender der französischen Schulen orientiert sich zwar an katholischen Feiertagen, aber im Unterricht ist Religion tabu. Marine Quenin wurde klar:
    "Religiöser Analphabetismus führt dazu, dass man die heutige Welt nicht richtig begreifen kann. Der Wissensmangel kann Intoleranz bewirken: Man versteht den Anderen nicht und fühlt sich deshalb von seinen Riten bedroht."
    Bekämpfung von Unkenntnis
    Marine Quenin beschloss, die Unkenntnis über die Weltreligionen zu bekämpfen, nicht nur in der eigenen Familie. Zusammen mit Mitstreitern aus ihrem Verein entwickelte sie Unterrichtsmaterial, um Kinder im Alter von acht bis elf Jahren spielerisch an die Religionen heranzuführen. Dabei steckt sie sich und den anderen Referenten der Workshops eine klare Grenze.
    "Wir sagen den Kindern nicht, was man glauben muss oder nicht, wir wollen ihnen nur Wissenselemente liefern. Das hilft ihnen, die Laizität besser zu verstehen, dieses typisch französische Modell, das die Koexistenz der verschiedenen Glaubensauffassungen organisieren soll. Wir erklären auch den Atheismus."
    Inzwischen hat sich Enquête einen Namen gemacht und ist mit 18 Workshops in städtischen Sozialzentren in Paris, Marseille, Lille und Lyon aktiv. Dort werden Schulkinder nach dem Unterricht betreut, die meisten kommen aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten Familien, viele aus Einwanderkreisen wie in Belleville.
    Das Quartettspiel geht zu Ende. Adam hat seine letzte Karte gefunden: das Vaterunser. Leiterin Marine Afota resümiert, wie in den drei Weltreligionen gebetet wird.
    "Die Christen gehen in die Messe. Wann? Am Sonntag. Zu Beginn machen sie das Kreuzzeichen. Sie sprechen zusammen ein Gebet, das Vaterunser heißt. Und wo beten sie?"
    In der Synagoge, ruft ein Junge, wird aber gleich von seinen Kameraden berichtigt: In der Kirche natürlich. Marine Afota studiert noch, sie will Grundschullehrerin werden, interessiert sich aber schon lange für den interreligiösen Dialog. Die Arbeit mit den Kindern begeistert sie.
    "Ich will sie dazu bringen, dass sie nachdenken und ihre Vorurteile aufgeben. Zu Beginn des Jahres kursierten hier noch die üblichen Klischees: Muslime sind Diebe, Juden sind geizig... Wenn es mir gelingt, solche Vorurteile nach und nach zu beseitigen, macht mich das sehr froh."
    Marine Quenin, die Gründerin von Enquête, ist überzeugt, dass die Arbeit des Vereins heute wichtiger ist denn je.
    "In Frankreich wurde noch nie so viel über Laizität gesprochen wie heute, mit viel Unverständnis und vielen Spannungen insbesondere was den Islam betrifft."
    Deshalb gehen ihre Ziele auch über die Workshops hinaus: Quenin will erreichen, dass die Ateliers in die Grundschulen Einzug halten, wenn dort nach dem Unterricht Freizeitaktivitäten organisiert werden. Außerdem will sie das staatliche Fernsehen dazu bewegen, dass es einen Zeichentrickfilm über Religionen produzieren lässt und ausstrahlt.
    Vor dem Klassenraum stehen Hassan und seine Freunde. Der Junge hat sich besonders eifrig an den Spielen beteiligt. Jetzt bringt er die Botschaft des Workshops auf den Punkt.
    "Man muss die Religion der anderen respektieren. Mich stört es nicht, wenn mein Freund Christ, Jude, Buddhist oder Atheist ist. Was zählt ist doch allein die Freundschaft."