Der Anschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo habe die Gesellschaft noch zusammengeschweißt, so Ritte. Später hätte die Politik die meist radikal-islamistischen Attentäter jedoch politisch für sich genutzt. Der rechtsextreme Front National sei zwar schon seit 30 Jahren fest verankert, die Vorsitzende und Präsidentschaftskandidatin Le Pen habe aber noch einmal einen festen Schub bekommen, ebenso wie die extreme Linke, sagte Ritte, der an der Pariser Sorbonne lehrt.
Er glaubt, dass es nicht unwahrscheinlich sei, dass es eine Wahl "zwischen Pest und Cholera" gebe - zwischen der rechtsextremen Marine Le Pen und dem Sozialisten Jean-Luc Mélenchon. Letzterer sei "in keiner Weise ein Freund Europas und noch weniger Deutschlands". 2015 hat Mélenchon ein Buch mit dem Titel "Der Bismarckhering - der deutsche Fisch" herausgebracht. Es richtet sich laut Ritte nicht nur gegen Kanzlerin Merkel, sondern gegen die Deutschen allgemein. Der Wissenschaftler sagte: "Wir haben von diesem Mann nichts Gutes zu erwarten."
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Ann-Kathrin Büüsker: Über die Situation in Frankreich möchte ich jetzt mit Professor Jürgen Ritte sprechen, Literaturwissenschaftler an der Universität Paris-Sorbonne. Guten Morgen, Herr Ritte!
Jürgen Ritte: Guten Morgen!
Büüsker: Herr Ritte, wir haben uns ja gestern verabredet, um eigentlich über die Gesellschaft in Frankreich zu sprechen. Das werden wir auch tun. Nun gab es aber eben am Abend diesen mutmaßlichen Anschlag. Das war etwas, was viele in der Politik auch befürchtet hatten mit Blick auf den Wahlkampf. Deshalb meine Frage zum Einstieg: Wie hat insgesamt die Bedrohung durch den Terror, wie haben die durchgeführten Terroranschläge die Gesellschaft in Frankreich verändert?
Ritte: Sie haben die Gesellschaft im Anfang zumindest zusammengeschweißt. Wenn wir zurückdenken an 2015, an die Attentate gegen "Charlie Hebdo", da gab es eine große Bewegung in Frankreich, eine Solidarbewegung, und man hatte den Eindruck, dass die Nation sich zusammenrauft gegen diese Angriffe von außen. In den folgenden Attentaten kam dann aber doch sehr schnell wieder heraus, dass jeder seinen politischen Vorteil daraus ziehen wollte, vor allen Dingen auf der extremen Rechten, wo die Attentäter kurzfristig und kurzer Hand identifiziert wurden mit der Immigration und mit der allgemeinen Unsicherheit, die durch Ausländer kommt. Das ist das, was in vielen Teilen der französischen Gesellschaft, meistens in denen, die weit weg von den Zentren der Attentate leben, doch seine Spuren hinterlassen hat. Und man darf nicht vergessen, dass wir seit langer Zeit nun schon im Ausnahmezustand leben, also eine Art von Gewöhnungszustand haben. Zumindest in einer Stadt wie Paris, wo man eigentlich am meisten gefährdet ist und wo die Attentate möglicherweise doch am wenigsten Einfluss haben auf die politischen Entscheidungen der Menschen. Das haben sie sehr viel mehr draußen, dort, wo man das – na ja, wie es auch in Deutschland häufig der Fall ist, wo man am wenigsten betroffen ist.
Büüsker: Ist das auch eine Erklärung für den Erfolg der radikalen Kräfte in Frankreich?
"Das sind Tiefenbewegungen"
Ritte: Das, glaube ich, weniger. Das sind Tiefenbewegungen, die seit Langem schon da sind. Man darf nicht vergessen, dass Marine Le Pen und der Front National schon seit über 30 Jahren fest in der politischen Landschaft in Frankreich verankert sind und jetzt eben noch einmal einen besonderen Schub bekommen haben. Genauso wie die extreme Linke eigentlich auch immer da war, sich aber erst jetzt zuletzt wieder befreit hat, wenn man das mal in Anführungszeichen setzen darf, durch die Umarmung von den Sozialisten. Und damit sich aus der Sozialdemokratisierung der Linken herausgeklinkt hat. Alles das sind Bewegungen, die es seit Langem gibt in Frankreich, die immer da waren, die jetzt allerdings vor dem Hintergrund der Implosion der klassischen Parteienformation nach vorn kommen und begünstigt werden natürlich durch das französische politische System, durch das Präsidialsystem, das immer irgendwie auch auf den starken Mann oder eben die starke Frau setzt, anders, als das in parlamentarischen Demokratien der Fall ist.
Büüsker: Wenn wir auf die Parteien schauen, die Sie gerade angesprochen haben, die sich in Auflösung befinden, die Konservativen wie die Sozialisten, wie erklären Sie sich das?
"Parteien haben keine festen, stabilen Identitäten"
Ritte: Es liegt daran, dass diese Parteien eigentlich keine festen, stabilen Identitäten haben wie die Sozialdemokraten oder die Christdemokraten in Deutschland. Die Konservativen nennen sich seit einigen Monaten, seit einem Jahr die Republikaner, vorher hießen sie UMP, davor hießen sie RPR. Sie nennen sich permanent um und sind im Grunde genommen immer nur Wahlvereine für eine Gruppierung von verschiedenen Strömungen, die sich notgedrungen zusammentun. Und dann versuchen sie, einen auszukegeln, der sie alle repräsentieren soll. Das ist bei der Linken ähnlich. Das heißt, die Instabilität der Parteien ist eigentlich inhärent. Man kann das als Geburtsfehler bezeichnen, aber es ist typisch für das französische System, das wie gesagt ein Präsidialsystem ist. Es geht gar nicht so sehr darum, eine Partei zu haben, die die Mehrheiten im Parlament hat und diese stabilisiert und die Regierung stützt. Es geht viel, viel mehr darum, dass man eine Organisation hat, die jemanden zum Präsidenten machen kann. Und so im Grunde genommen alle Präsidentschaftskandidaten und späteren Präsidenten die Parteien benutzt als große Maschinen, um ins höchste Staatsamt zu kommen. Das hat Chirac so gemacht mit den Konservativen, das hat François Mitterand so gemacht, indem er die sozialistische Partei in den 70er-Jahren neu aufstellte und auf sich hin zu organisierte.
Büüsker: Wenn die Person so zentral im Mittelpunkt steht, ist dann, wenn wir beispielsweise auf einen François Fillon gucken, das, was er sich geleistet hat an Verfehlungen – wir denken da an die Scheinbeschäftigung seiner Frau –, für die Wählerinnen und Wähler der absolute Grund, ihn nicht zu wählen?
Ritte: Ja, das ist die große Katastrophe. Er hat natürlich seine Garde von Wählern, von Unentwegten, die ihn noch weiter wählen werden. Er hat seine Hochburgen bei den traditionellen Katholiken. Ich glaube, die scharen sich auch alle um ihn, bei den Abtreibungsgegnern und all diesen Leuten. Aber die Konservativen sind doch zutiefst verunsichert, weil wir da doch einen fast schon pathologischen Fall von Korruption haben und einen Fillon, der immer nur sich darüber beklagt, dass er erwischt wird, aber nie zugibt, dass er etwas getan hat. Er sieht das Problem immer darin, dass andere Leute, irgendwelche dunkle Zellen im Elysee, ihn fertigmachen wollen. Aber er geht nie darauf ein, dass er ja in der Tat sich etwas vorzuwerfen hat. Das ist geradezu pathetisch, ja.
Büüsker: Erklärt so etwas dann auch, dass es nach wie vor in Frankreich viele Nichtwählerinnen und -wähler und auch viele Unentschlossene gibt?
Ritte: Das erklärt es unter anderem. François Fillon ist im Grunde genommen jetzt nur noch sozusagen das Sahnehäubchen oben drauf. Die Unzufriedenheit mit den Politikern, mit den dirigierenden Politikern der letzten Jahre, mit den letzten Jahrzehnten ist in Frankreich sehr weit verbreitet. Das liegt auch daran, dass es viele Fälle von Korruption gegeben hat, auch auf der Linken, nicht nur bei der Rechten. Und dass die Parteien sich beide in den letzten Jahrzehnten, in denen sie abwechselnd das Land regiert haben, damit begnügt haben, die Krise eigentlich nur zu finanzieren, sich durch zu lavieren. Man hat die Arbeitslosigkeit nicht resolut bekämpft, man hat es vorgezogen, zu bezahlen für die Arbeitslosen. Man hat das Bildungssystem in keiner Weise reformiert, ein Bildungssystem, das Ungleichheit produziert in ganz starkem Maße in Frankreich. Man hat einfach nur die Universitäten beauftragt, die Studenten alle aufzunehmen und lange zu bewahren, damit nicht die jungen Leute die Arbeitslosenstatistik noch mehr belasten. Also all das sind sehr unbefriedigende Durchwursteleien. Und davon haben die Franzosen doch in großem Maße die Nase voll, jedenfalls sofern sie nicht profitieren von dem, was wir die Globalisierung oder Mondialisierung nennen, wie wir sie in Paris haben. Das darf man nie vergessen.
Büüsker: Das heißt, Sie spüren in Frankreich einen großen Wunsch nach Veränderung?
"Wir haben alle Angst davor, dass etwas passiert"
Ritte: Ja, und das ist im Grunde genommen auch – in den Genen dieses Landes hat vor einigen Jahren der inzwischen verstorbene Historiker Jacques Marseille ein kleines Buch geschrieben, ein kleines Pamphlet geschrieben mit dem Titel "Il faut, que ça pète", das heißt, es muss knallen. Dort versucht er, eine französische Geschichte zu erzählen seit dem 18. Jahrhundert, in der er versucht, nachzuweisen, dass Frankreich immer dann zu den großen Modernisierungsschüben gekommen ist, wenn es wirklich gekracht hat. Also er glaubt nicht an evolutionäre Entwicklungen, an friedliche Übergänge, sondern er glaubt daran, dass in Frankreich immer irgendetwas passiert. Und in einem Moment sind wir in einer Situation, wo wir alle im Grunde genommen Angst davor haben, dass etwas passiert.
Büüsker: Herr Ritte, was ist denn dann Ihre Prognose? Wer kommt in die Stichwahl?
Ritte: Wenn ich das wüsste – wir sind alle ratlos, wir kratzen uns alle am Kopf. Es ist leider nicht mehr unwahrscheinlich, dass wir die Wahl zwischen Pest und Cholera haben werden, also zwischen Marine Le Pen, die wohl ziemlich sicher in den zweiten Wahlgang kommt. Das ist dann das zweite Mal nach 2002, dass ein Le Pen im zweiten Wahlgang steht. Und Mélenchon, über den eben gesprochen wurde, der nun in keiner Weise ein Freund Europas ist und noch weniger ein Freund Deutschlands. Er hat im vorigen Jahr ein Pamphlet geschrieben, das heißt "Der Bismarckhering", "Le harang de Bismarck". Und das ist nicht gegen Frau Merkel, das ist gegen die Deutschen überhaupt gerichtet. Also wir haben von diesem Mann nichts Gutes zu erwarten.
Büüsker: So die Einschätzung von Professor Jürgen Ritte, Literaturwissenschaftler an der Universität Paris-Sorbonne. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Ritte!
Ritte: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.