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Frankreich
Zunahme antisemitischer Gewalt

Im letzten Jahr ist die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland gestiegen. Auch in Frankreich nehmen Angriffe auf jüdische Mitbürger, ihre Einrichtungen und Friedhöfe zu. Von einer neuen Qualität des Antisemitismus sprechen Politologen. Die französische Regierung ist schockiert und machtlos.

Von Jürgen König |
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beim Besuch eines jüdischen Friedhofs in Quatzenheim im Elsass, auf dem Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert worden waren
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beim Besuch eines jüdischen Friedhofs in Quatzenheim im Elsass, auf dem Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert worden waren (AFP/ Frederick Florin)
Trotz mehrerer Ausreisewellen ist Frankreich immer noch das Land mit der größten jüdischen Gemeinschaft Europas. In vielen Städten gibt es ein lebendiges jüdisches Leben – doch unter der Oberfläche der französischen Gesellschaft ist der Antisemitismus latent gegenwärtig, von Jahr zu Jahr steigt die Zahl bekannt gewordener Attacken. Zuletzt wurde im Februar der französische Philosoph Alain Finkielkraut am Rande einer "Gelbwesten"-Kundgebung in Paris von einer Gruppe von Demonstranten angegriffen und mit antisemitischen Schimpfwörtern regelrecht überzogen.
"Dreckiger Zionist!", "Dreckige Rasse!", "Du wirst sterben!", "Das Volk wird Dich bestrafen!" skandierte die Menge, als Haupttäter wurde ein den Behörden bekannter Salafist identifiziert. Zum verhohlenen, teils auch offenen Antisemitismus, wie es ihn seit Jahren in der links- und rechtsextremen Szene gibt, ist in letzter Zeit ein islamistischer Antisemitismus hinzugekommen. Die Wut radikaler Muslime, zumal derer, die in abgeschotteten Parallelwelten leben, etwa in den Vororten großer Städte – ihre Wut auf Israel als dem vermeintlichen Erzfeind des Islam entlud sich immer wieder stellvertretend an den französischen Juden. Alain Finkielkraut sagte später, er habe während der Angriffe gegen ihn "große Angst" gehabt, habe "absoluten Hass" gegen sich gespürt.
Zum Antisemitismus der links- und rechtsextremen Szene kommt der islamistische
"Wenn ich die Straße überquert hätte, sie hätten mir den Schädel eingeschlagen! Der bärtige Mann, er wirkte von allen am meisten - ja geradezu rachsüchtig! Und er war es, der mir sagte: Frankreich gehört uns! Das muss man sich mal vorstellen, was das bedeutet!"
Anstiftung zum Rassenhass, die Verharmlosung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Leugnung der Gaskammern des Holocaust – dies alles kann in Frankreich strafrechtlich verfolgt werden. Doch viele Bürger sind nicht der Meinung ihres Präsidenten, wonach die bestehenden Gesetze ausreichen würden. Sie sehen ihren Staat antisemitischen Übergriffen gegenüber zunehmend hilflos: die Aufklärungsquoten sind niedrig, wo Täter dingfest gemacht werden konnten, wurden zumeist nur Bewährungsstrafen verhängt.
Auch der Widerstand gegen den Antisemitismus wächst
Der Widerstand gegen den sich ausbreitenden Antisemitismus scheint indes auch zu wachsen. Kurz vor der Attacke auf Alain Finkielkraut waren in Paris zwei Porträts der früheren Ministerin und KZ-Überlebenden Simone Veil mit Hakenkreuzen beschmiert worden, Nazi-Symbole fanden sich auch in Vorortzügen und an Briefkästen. Daraufhin gab es im ganzen Land Demonstrationen gegen den Antisemitismus, Zehntausende nahmen daran teil; die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo fand eindringliche Worte.
"Es ist jetzt an jedem Einzelnen, zu sagen: es reicht. Das ist nicht zu tolerieren, diese Nazi-Symbole und dann der Angriff auf Alain Finkielkraut. Es reicht jetzt! Was wir da erlebt haben, stellt eine wirkliche Gefahr dar."
Daniel Knoll, der Sohn der 2018 in Paris - aus reinem Judenhass - ermordeten Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll: er glaubt an das Ernstgemeinte solcher Sätze, sieht sie aber illusionslos. Im Sender BFM sagte er:
"Das sind alles schöne Worte, aber am Ende zählen die Taten. Und ich sehe nur, dass alles immer schlimmer wird. Wenn man nicht wirkliche Maßnahmen ergreift, wenn man nicht saubermacht, da wo man saubermachen muss – wird das so weitergehen."
Nur zwei Tage nach jenen Demonstrationen wurden auf einem jüdischen Friedhof im Elsass rund 100 Gräber mit Hakenkreuzen beschmiert.