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Franz Ferdinand
Der ewige Thronfolger

Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand gilt zwar als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Aber damit hat sich dessen geschichtliche Rolle für viele Historiker auch schon erledigt. Was aber wäre gewesen, wenn Franz Ferdinand Kaiser geworden wäre?

Von Martin Hubert |
    Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este hat die Geschicke der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn nie wirklich bestimmen können. Zunächst blieb der Thronfolger jahrelang im Schatten des österreichischen Kaisers Franz Joseph, der bis ins hohe Alter regierte. Dann fiel er 1914 fünfzigjährig dem Attentat in Sarajevo zum Opfer. Vorher hatte er aber vor allem wichtige militärische Funktionen in der Habsburger Monarchie ausgeübt. Und mit einem eigenen Beraterstab hatte er nicht nur eigene politische Konzepte entworfen, sondern immer wieder auch am kaiserlichen Hof interveniert. Insofern ist es gewinnbringend, wenn der französische Historiker Jean–Paul Bled auf über 300 Seiten dem Leben und Denken des österreichischen Thronfolgers nachgeht. Bled beschreibt in seinem Buch zunächst die zeitgenössischen Problemzonen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie.
    "Der gravierendste Nachteil des dualistischen Systems lag in der Bevorzugung zweier Völker der Monarchie: der Deutschen und der Magyaren. Damit stand der Ausgleich im Widerspruch zu dem, was Österreich-Ungarn in Europa Ende des 19. Jahrhunderts ausmachte: der Definition als Vielvölkerstaat. 1867 vereinte er elf Nationalitäten, nach dem Berliner Kongress von 1878 und der Eingliederung Bosnien-Herzegowinas in die Monarchie zwölf. Mochten 1867 auch gute Argumente die Entscheidung für den Dualismus gerechtfertigt haben, war er auf lange Frist eine Zeitbombe."
    Franz Ferdinand als Reformer?
    Insofern drängt sich die Frage auf, ob Franz Ferdinand das Zeug gehabt hätte, den Vielvölkerstaat Ungarn-Österreich zusammenzuhalten und nationalistische Tendenzen zu bändigen. Hatte er vielleicht sogar eine Vision für ein friedlich integriertes Mitteleuropa? Und wie wäre er mit der drängenden sozialen Frage umgegangen und den Tendenzen zur Modernisierung und Demokratisierung?
    "Der Eintritt Österreichs in das Massenzeitalter ist die zweite große Lektion dieses Jahrzehnts. Teil des Phänomens war das Aufkommen neuer Parteien. Zur 1889 gegründeten Sozialdemokratischen Partei gesellte sich zwei Jahre später die Christlichsoziale Partei. Dank der 1896 beschlossenen Wahlrechtsreform wurde eine fünfte Kurie geschaffen, der alle Männer angehörten, die bislang vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Im Jahr darauf zogen die Sozialdemokraten mit 15 Abgeordneten in die untere Kammer des Reichsrats, das Abgeordnetenhaus, ein."
    Hätte Franz Ferdinand ein Reformer werden können? Bled nähert sich der Antwort darauf auf großem Umweg. Er beschreibt das Leben Franz Ferdinands ausführlich von der Kindheit bis zu seiner Rolle am Habsburger Hof und dem Attentat. Seine Schilderungen sind sehr plastisch. Bisweilen kommt man sich vor wie in einen Historienfilm, in dem Eltern, Erzieher, Berater, Familien- und Hofmitglieder in lebendigen Rollen auftreten. Franz Ferdinand war demnach durchaus vergnügungssüchtig und lebte das vor allem in der Jagd aus. Er neigte zu Krankheiten und cholerischen Anfällen. Bled zeichnet ihn als eigensinnigen Menschen, der zum Beispiel zu seiner Lebensgefährtin hielt, obwohl sie vom Hof nicht als angemessen akzeptiert wurde. Dieser Eigensinn verband sich aber schon früh mit starken konservativen und patriotischen Zügen:
    "Er bewahrte sich eine heftige Abneigung gegenüber Preußen und sollte daraus seine Argumente schöpfen, um die Glut seines Katholizismus weiter anzuheizen. Franz Ferdinand ließ auch keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, welche Dankbarkeit er seinem alten Lehrer schuldete, wovon ein Brief Zeugnis ablegt, den er ihm am 7. Mai 1901 schrieb: "Sie waren es doch, Herr Hofrat, der Sie mir in meiner Jugend durch Ihren vorzüglichen Geschichtsunterricht die patriotischen Gefühle eingeimpft haben, an denen ich seit dieser Zeit stets festhalte und festhalten werde. Sie haben mich immer für die Traditionen meines Hauses begeistert und, was auch kommen mag, was für Stürme auch heranbrausen mögen, ich will meinen Vorbildern getreu bleiben und nicht wanken in dem, was ich für das Gute und das Richtige halte."
    Antisemitisch und eigensinnig
    Dieser konservativ-monarchistische Eigensinn, der an Starrsinn grenzte, führte dazu, dass Franz Ferdinand zeit seines Lebens die Demokratie ablehnte. Er fürchtete sozialistische Bestrebungen und war von Antisemitismus nicht frei. Als geborener Autokrat plädierte er sowohl innen wie außenpolitisch für ein System starker, zentralisierter Kontrolle. Franz Ferdinand hegte zudem regelrechte Animositäten gegenüber den Ungarn, den Polen und Tschechen, was ihn im Reich alles andere als populär machte. In Bezug auf das nach Unabhängigkeit strebenden Serbien war er zwar kein Kriegstreiber, aber auch nicht zu großen Zugeständnissen bereit. Nachdem er vor allem die außenpolitischen Konzepte Franz Ferdinands ausführlich beschrieben hat, zieht Jean-Paul Bled am Ende seines Buches dieses Fazit:
    "Jedenfalls hätte Franz Ferdinand bei der Ausübung seiner Macht seine charakterlichen Defizite überwinden müssen – eine nicht ganz einfache Aufgabe. Zudem hätte er es, mit welcher Situation auch immer er konfrontiert gewesen wäre, sowohl mit großen innenpolitischen als auch außenpolitischen Zwängen zu tun gehabt, die seine Handlungsfreiheit extrem eingeschränkt hätten. Angesichts dieses engen Handlungsspielraums hätte er sich mit der Realität abfinden müssen. Sein Stolz hätte vielleicht gelitten, daran wäre aber nichts Ehrenrühriges gewesen. Im Gegenteil, es gibt keine vernünftige Politik, die nicht von der Realität ausgeht. Und hier endet die Aufgabe des Historikers. Es ist, wie es ist, und die Folgen, wäre es anders gewesen, stehen für immer auf einem unbeschriebenen Blatt."
    Dieses gelinde gesagt äußerst vorsichtige Fazit ist für den Leser nach einer 300 Seiten-Lektüre doch ziemlich enttäuschend. Man hätte von Jean-Paul Bled mehr Mut zu einer eigenen klaren Schlussanalyse erwartet. Trotzdem macht sein materialreiches und verständliches Buch insgesamt deutlich, dass von Franz Ferdinand kaum wegweisende Schritte zur Lösung der historischen Problemlagen erwartet werden konnten. Und es vermittelt interessante Einblicke in die politischen Auseinandersetzungen und die Kultur einer Monarchie im Niedergang. Insofern stellte das Buch im Ganzen gesehen eine lohnende Lektüre dar.
    Jean-Paul Bled: "Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger." Böhlau Verlag, 322 Seiten, 35 Euro, ISBN: 978-3-205-78850-8