"Er stand hinter dem Projektor im Kabuff, der Vorführkabine des kleinen Kinos im Keller des Instituts. Es war mitten in der Nacht, und er war allein. Staub auf den Armaturen, der Geruch von eingetrocknetem Bier und ein gebündeltes Licht, das seine Hand, wenn er sie gegen den Strahl erhob, wie ein Feuer wärmte. Er hatte keine Ahnung von dem, was er hier tat. Und mit dem Einsetzen des Ratterns wurde er von einer Aufregung ergriffen, wie ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, der zum ersten Mal einen Film sah."
Bei dem Film, den der Student hier sichtet, handelt es sich um eine Rarität: die Filmemacherin Susanne Sendler hat ihn im Jahr 1996 gedreht, als auf der finnischen Inseln Uusimaa das mysteriöse, mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Schweigen der Lapplandmeisen begonnen hat. Der Student ist beeindruckt von den Aufnahmen. Noch nie meint er so unmittelbar die Haltung einer Filmemacherin in einem Film erkannt zu haben, noch nie so unmittelbar die Antwort bekommen zu haben auf die Frage: Wer bin ich? Wie stehe ich zu meiner Zeit?
Plötzlich verheddert sich der Film, das Band reißt, erschrocken knüllt der Student das zerstörte Material in den Feuerschrank, verlässt heimlich das Institut - und einer der eigenwilligsten und faszinierendsten Romane dieses Jahres nimmt seinen Lauf. "Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr" des 1983 geborenen Franz Friedrich.
"Die Zerstörung des Films ist mehr oder weniger ein Anlass des Erzählens, das ist ein Grund, warum man beginnt zu erzählen. Es geht eigentlich gar nicht darum, dass man versucht, diesen Film zu Ende zu erzählen. Das Interessante ist eigentlich, was geschieht, während man versucht, diesen Film nachzudrehen oder nachzuerzählen."
Nah dran an unserer Gegenwart
Was geschieht, wenn Franz Friedrich in seinem Debütroman zu erzählen beginnt, lässt sich schwerlich in ein paar Sätzen zusammenfassen. "Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr" ist ein Roman, der sehr nah dran ist an unserer Gegenwart, der politisch ist und engagiert.
Und zugleich ist es ein Roman, der wie aus Zeit und Raum herausgefallen erscheint, der uns in seinen drei Handlungssträngen mitnimmt in ein Berlin der frühen Nuller-Jahre, das in seiner Stille den Eindruck macht, als würden wir uns tief in den 80er-Jahren befinden, auf der untergegangenen Insel West-Berlin. Vor allem aber nimmt der Roman uns mit auf eine Reise zu der titelgebenden, imaginären finnischen Insel Uusimaa.
"Diese Insel existiert nicht. Das ist imaginiert. Aber es gibt reale Vorbilder für diese Insel. Zum einen ist das eine Insel, die heißt Sointula, die liegt eigentlich in Kanada, an der Westküste vor Vancouver. Dort sind am Anfang des 20. Jahrhunderts, finnische Auswanderer sind auf diese Insel gereist und haben dort eine sozialutopische Kolonie gegründet. Und dann gibt es die Åland-Inseln, die ich auch sehr interessant fand, die liegen zwischen Finnland und Schweden, gehören eigentlich zum finnischen Staat, aber dort gibt es eine weitreichende Autonomie. Und dann gibt es einige kleinere schwedische Schäreninseln, wo ich die Natur relativ gut kenne. Und diese ganzen Vorstellungen von verschiedenen Inseln sind dann zusammengeführt worden zu einer imaginierten Insel. Das ist wie eine Art - auch wenn es nicht ganz so idyllisch ist auf der Insel - aber schon so eine Art Utopia in der Ostsee."
Als die Meisen auf Uusimaa zu singen aufhören, setzen die Spekulationen ein: müssen die schweigenden Meisen als Vorboten der Apokalypse verstanden werden? Hat eine Umweltkatastrophe, die bisher nur die Vögel spüren, die Insel ereilt? Ist das Verstummen der Vögel die Ankündigung einer Strafe für die Hybris des Menschen, der die Möglichkeiten der Technisierung überspannt hat? Oder handelt es sich lediglich um eine Laune der Natur, die weder Gründe noch Folgen hat? So oder so: Uusimaa wird evakuiert und wird zwei Jahrzehnte verlassen im Meer liegen.
Ausdruck der eigenen Ängste
In seinem sehr realen Märchen über unsere Zeit erzählt Franz Friedrich darüber, wie sehr die jeweiligen Deutungen des Verstummens der Meisen immer auch Ausdruck der eigenen Ängste derjenigen sind, die über das Schweigen spekulieren. Die Vögel werden zur Projektionsfläche. Ganz ähnlich steht es umgekehrt mit den Projektionen von Hoffnungen. Für die Filmemacherin Susanne Sendler etwa scheinen die Vögel ein Sinnbild für Unkorrumpierbarkeit und dafür, eine Haltung zu haben.
"Warum ich hier war, erblickte ich auf einem Espenzweig eine kleine zerzauste Gestalt. Wind fuhr ihr durch das flauschige Gefieder, sie trotzte einer Böe, ich erkannte die Anstrengung in ihrem Vogelblick. Etwa Widerständiges, Partisanenhaftes lag darin. Die Lapplandmeise sperrte den Schnabel auf, dabei erinnerte sie mich an einen heiseren Menschen, der nach Worten ringt, dann schloss sie den Schnabel wieder und öffnete ihn erneut. Dieses Verhalten wiederholte sie einige Male, und es erschien mir, als ob diese Geste an mich gerichtet sei und der Vogel versuchte, mir etwas mitzuteilen."
Friedrichs stiller Roman ist grundiert von einer subtilen Komik. Zeigt es nicht zugleich auch die Lächerlichkeit des Menschen, der sich von einem kleinen, unscheinbaren Vogel dermaßen beindrucken oder auch aus der Bahn werfen lässt?
Franz Friedrich aber ist kein Autor, der auslacht oder vorführt. Vielmehr lässt er zu und ist gerade deshalb ein guter Beobachter. Wie ein poetischer Ornithologe nimmt Franz Friedrich seine Objekte in den Blick und notiert, was er beobachtet, ohne uns seine Deutungen aufzuzwingen. Er lässt Natur in Politik übergehen und erlaubt seinem Leser doch stets, diesen Schritt nicht vollends mitzugehen.
So fungiert der dritte Handlungsstrang, der über die Krise einer amerikanischen Promovendin in Berlin erzählt, als Kontrapunkt zur Natur. Zudem werden in diesen Kapiteln die sozialen und politischen Realitäten eines schlingernden Europas gezeigt. Durch das Motiv der Krise wird diese Episode in das Handlungsgefüge integriert.
So fungiert der dritte Handlungsstrang, der über die Krise einer amerikanischen Promovendin in Berlin erzählt, als Kontrapunkt zur Natur. Zudem werden in diesen Kapiteln die sozialen und politischen Realitäten eines schlingernden Europas gezeigt. Durch das Motiv der Krise wird diese Episode in das Handlungsgefüge integriert.
Die Krise geht vorbei
Franz Friedrichs Roman ist ein romantisches Projekt, Romantik verstanden im Sinne der literarischen Frühromantik, als die Welt verändert werden sollte, indem sie poetisiert wurde. Und wie die Romantiker um das Jahr 1800 findet Friedrich zweihundert Jahre später - tastend, probeweise auslotend - allenthalben Ähnlichkeiten in der Welt, die das scheinbar noch so weit entfernt Liegende miteinander verbindet. Auf diese Weise schreibt er der Disparatheit und Kontingenz unserer Zeit einen zart metaphysischen Zusammenhang ein, der etwas Tröstendes hat. Auch die Krise wird in dieser Perspektive zu einem Zustand, der vorübergeht:
"Ich glaube auf jeden Fall an Zyklen, an Phasen, die beginnen und die wieder enden. Aber natürlich kann man sich nicht einfach zurücklehnen und sagen, es ist nur eine Phase und ich mache jetzt nichts. Oder ich steck den Kopf in den Sand und warte, und dann wird das von alleine alles wieder heil. Man muss schon sich irgendwie dazu verhalten und irgendetwas dafür tun. Aber dass es Prozesse gibt, die sich wiederholen und Prozesse, die einfach wieder aufhören, davon bin ich schon überzeugt."
Im Roman stehen hierfür wiederum die Meisen. 21 Jahre, nachdem ihr rätselhaftes Schweigen eingesetzt hat, beginnen sie wieder zu singen. Niemand weiß, warum. Aber mit ihrem Gesang scheint wieder eine Utopie am Horizont aufzuscheinen. Die Bewohner können nach Uusimaa zurückkehren. Mit ihnen auf der Fähre, die nach Uusimaa übersetzt, treffen sich die Protagonisten der verschiedenen Handlungsstränge des Romans, als würden die Zeiten ineinanderlaufen. Und noch ein Kreis schließt sich: wie am Anfang des Romans, so läuft auch auf dieser Überfahrt ein Film, projiziert auf eine große Leinwand auf dem Schiff. Wir Leser sehen die Überfahrt und sehen zugleich den Film über die Überfahrt nach Uusimaa.
"Mit dem Näherkommen der Packeisgrenze wurden die Geräusche lauter, und ein Schlürfen und Reiben lärmte dem Schiff entgegen. Die Eisschollen verdichteten sich zu Feldern, zu einer Ruinenlandschaft aus Trümmerteilen, die das Schiff durchpflügte. Zunächst erschien es ihm, als würde das Schiff in einem immer schneller werdenden Tempo auf das Eis zurasen, bis er begriff: Es war eine Täuschung, denn ebenso wie die Nordlandstar der weißen Grenze entgegenfuhr, trieb auch das Eis auf das Schiff zu. Das Schiff und das Eis begegneten sich."
Es wird kaum Zufall sein, dass man sich von dieser traumgleichen Sequenz, in der Bewegungen und Zeiten aufeinander zu laufen, an Benjamins Engel der Geschichte erinnert fühlt. Nur die Vorzeichen sind andere. Bei Franz Friedrich wird die Annäherung an eine Utopie ins Bild gesetzt, von dieser Utopie selbst indes existiert allenfalls eine vage Vorstellung. Sie auszumalen, maßt Friedrich sich nicht an.
Abrupt aber, die Insel ist noch nicht erreicht, stoppt das Bild. Nicht der Film ist gerissen, der Roman endet. Anlass, etwas Neues zu beginnen. Franz Friedrich gelingt etwas Außergewöhnliches. Er nimmt uns mit auf eine Reise in fremde und eigenartige Welten und Landschaften und lässt uns gar nicht merken, dass wir dabei schon längst nachzudenken begonnen haben: über nichts weniger als die Frage, wie wir leben wollen.
Franz Friedrich: "Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 318 Seiten, 19,99 Euro.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 318 Seiten, 19,99 Euro.