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Franz Liszt: Sinfonische Dichtungen

Das Jahr 1847 markiert im Leben von Franz Liszt einen entscheidenden Wendepunkt. Hatte er bis dahin als Klaviervirtuose jeden musikalisch wichtigen Winkel Europas bereist und war dabei zum vermutlich berühmtesten Musiker seiner Zeit geworden, so wurde er jetzt sesshaft und übernahm in Weimar die Stelle des Hofkapellmeisters. Hier begann sein zweites Leben als Dirigent und vor allem als Komponist. Und da gelang ihm, was wenigen vergönnt ist: er schuf eine neue musikalische Gattung, die Sinfonische Dichtung. Das Schlüsselwerk dürfte dabei die sogenannte "Bergsinfonie" sein; dieses halbstündige Werk und zwei weitere, kürzere sinfonische Dichtungen veröffentlicht das Label Berlin Classics jetzt in schon etwas älteren, aber dennoch bemerkenswerten Aufnahmen mit der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Michel Plasson. Am Mikrofon begrüßt Sie dazu Ludwig Rink. * Musikbeispiel: Franz Liszt - Sinfonische Dichtung Nr. 1 (Ausschnitt) aus: "Bergsinfonie" Schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts kam für Franz Liszt die Anregung zu seiner späteren "Bergsinfonie", und zwar in Form der Ode "Ce qu'on entend sur la montagne" von Victor Hugo. Wie ihn dieser Text zur Komposition stimuliert hat, erläutert Liszt in einer Art Interpretation so: "Der Dichter vernimmt zwei Stimmen; die eine unermesslich, prächtig, und ordnungsvoll, dem Herrn ihren jubelnden Lobgesang entgegenbrausend - die andere dumpf, voll Schmerzenslaut, von Weinen, Lästern und Fluchen angeschwellt. Die eine sprach "Natur", die andere "Menschheit"! Die beiden Stimmen ringen sich einander näher, durchkreuzen und verschmelzen sich, bis sie endlich in geweihter Betrachtung aufgehen und verhallen."

Ludwig Rink | 22.06.2003
    Eine solche Interpretation klingt in gewisser Weise schon nach musikalischer Umsetzung, zumal wenn das Wort "Stimmen" auch im musikalischen Sinne verstanden wird. In Liszts Tondichtung hängen alle Themen des Werkes miteinander zusammen, sie lassen sich alle ableiten aus einem einzigen Grundmotiv, das in den verschiedensten Variationsmöglichkeiten den Notwendigkeiten des Ausdrucks angepasst wird: Die Stimme der Natur ist aus den rhythmisch fest markierten Unisono-Stellen mit den großen Sekundschritten herauszuhören, während die leidende Menschheit in einem stark chromatisch geführten Bläsersatz ihren quälend-gequälten Ausdruck findet. Diese inneren Zusammenhänge des musikalischen Materials ermöglichen dann in der Folge erst die erwähnte Annäherung der Kontraste, das miteinander Ringen, das Durchkreuzen und Verschmelzen. * Musikbeispiel: Franz Liszt - Sinfonische Dichtung Nr. 1 (Ausschnitt) aus: "Bergsinfonie" Diese Technik, alle musikalischen Gestalten konsequent aus einer einzigen Keimzelle zu entwickeln und nicht mehr mit unterschiedlichen Themen zu arbeiten, war das eigentlich neue an Liszts Sinfonischen Dichtungen. Dies war eine Idee, die erst viel später, nämlich im 20. Jahrhundert, weiterentwickelt wurde und die in der Rückschau z.B. einen Komponisten wie Bela Bartok zu der Einschätzung brachte, "daß die Bedeutung Liszts für die Weiterentwicklung der Musik größer ist als die Wagners." Liszt war überzeugt, dass die Sinfonie mit ihren Möglichkeiten weitgehend am Ende war; retten wollte er sie, indem er ihr mit außermusikalischen Gedanken und Schilderungen eine weitere poetisch-philosophische Dimension erschloss. Doch dabei stand er vor dem Problem, dass pures Entlangkomponieren an einem Text oder einem außermusikalischen Thema leicht zu einer Art Potpourri führen kann: Opernouvertüren dieser Art, die im Vorspiel sozusagen die ganze spätere Handlung im Schnelldurchlauf schildern, waren für ihn das abschreckende Beispiel. Die hier lauernde Gefahr der Formlosigkeit bannte er schließlich durch allgegenwärtige musikalisch-thematische Verknüpfung, durch intensive kompositorische Arbeit. Das bisher für die Konzertouvertüre und die Sinfonie geltende Sonatenprinzip hob er dabei zwar nicht auf, veränderte es aber derart massiv, dass bisweilen selbst eine intensive Analyse mit dem Aufspüren ihre liebe Not hat. Hinzu kommt, dass Liszts Sinfonische Dichtungen durchkomponiert sind. In einem halbstündigen Werk wie der Bergsinfonie realisiert er die Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit, man findet also schnelle und langsame Teile, wenn man genau sucht, auch formale Kategorien wie Haupt- und Seitenthema, Exposition, Durchführung und Reprise, Scherzo und Finale, aber die Größenordnungen sind nicht klar definiert, sind fließend, so dass es schwer fällt, zu entscheiden, ob man sich erst beim Seitenthema oder vielleicht schon im langsamen Satz befindet. Hinter allem jedoch wird schon beim ersten Hören die Strenge spürbar, die intensive Verzahnung der kleinen wie der großen Teile: der rhapsodisch am Klavier improvisierende Virtuose Liszt ist zum Konstrukteur geworden. * Musikbeispiel: Franz Liszt - Sinfonische Dichtung Nr. 1 (Ausschnitt) aus: "Bergsinfonie" Franz Liszts Bergsinfonie, gespielt von den Dresdner Philharmonikern. Wer als Tourist nach Dresden kommt und sich neben Architektur und Kunst auch für die Musik interessiert, kennt oft zunächst nur ein Ziel: Die Semperoper und die Sächsische Staatskapelle. Doch in einiger Entfernung zur berühmten "Traditionsinsel" mit Zwinger, Schloss und den Brühlschen Terrassen residiert das zweite große Orchester von Elbflorenz, die Dresdner Philharmonie. Ihre Gründung geht auf das Jahr 1870 zurück, auf die Einweihung des ersten Konzertsaales in Dresden, des sogenannten Gewerbehaussaales: Mit ihm trat die Entwicklung eines öffentlichen, von Hof und Adel unabhängigen bürgerlichen Konzertwesens der Stadt im 19. Jahrhundert in ein neues Stadium. Mit seinen 1700 Plätzen machte der neue Saal es möglich, sinfonische Musik regelmäßig weiten Kreisen der Bevölkerung zugänglich zu machen und das Feld nicht mehr nur der Hofkapelle, dem Vorläufer der heutigen Staatskapelle zu überlassen. Nach eher bescheidenen Anfängen entwickelten sich die hier veranstalteten "Philharmonischen Konzerte" zu einem festen Begriff im Dresdner Musikleben, zumal nach und nach hochberühmte Musiker wie Brahms, Tschaikowsky, Richard Strauß und Antonin Dvorak am Pult des "Hausorchesters" standen und die musikalische Qualität immer weiter stieg. Im 1. Weltkrieg erwarb der österreichische Dirigent Edwin Lindner das Orchester als Unternehmer, 1924 wurde die Dresdner Philharmonie nach dem Vorbild der Berliner Philharmoniker auf eine gesellschaftliche Basis gestellt. Mit dem äußerst intensiv probenden Chefdirigenten Paul van Kempen erreichte man einen erneuten künstlerischen Höhepunkt, der auch bereits durch zahlreiche Schallplatten von historischem Wert dokumentiert ist. Bereits einen Monat nach Kriegsende fanden sich die Musiker im Juni 1945 zu ihrem ersten Nachkriegskonzert ein; ab jetzt wurde zunächst im Deutschen Hygiene-Museum, ab 1969 dann im Dresdner Kulturpalast gespielt. Die Chefdirigenten hießen Heinz Bongartz, Horst Förster, Kurt Masur und Günther Herbig. Herbert Kegel überzeugte von 1977 bis 1985 vor allem durch seinen Einsatz für die Neue Musik; der junge Jörg-Peter Weigle führte das Orchester durch die aufregenden Wende- und Nachwendezeiten, bis 1994 dann der Franzose Michel Plasson Chefdirigent des Orchesters wurde. Aus dieser Zeit stammen auch die Aufnahmen mit den Sinfonischen Dichtungen von Franz Liszt, die "Berlin Classics" jetzt Anfang Juni auf den Markt gebracht hat. Inzwischen ist die Ära Plasson längst Geschichte, denn seit Januar 2001 steht Marek Janowski an der Spitze der Dresdner Philharmoniker, und auch er geht vielleicht schon bald wieder, hat zumindest im April dieses Jahres angekündigt, seinen Vertrag nicht zu verlängern, weil die Realisierung eines lange geplanten neuen Saales für dieses Orchester von der Stadt Dresden immer wieder verschoben wird: Was das Geld angeht, haben es die lediglich von der Stadt bezuschussten Philharmoniker sicherlich schwerer als die vom Land Sachsen finanzierte Staatskapelle. Klanglich und musikalisch jedoch brauchen sich die Philharmoniker nicht zu verstecken, und das macht die vorliegende Liszt-Platte erneut eindringlich deutlich. * Musikbeispiel: Franz Liszt - Sinfonische Dichtung Nr. 1 (Ausschnitt) aus: "Bergsinfonie" Die Neue Platte - heute mit Sinfonischen Dichtungen, und da besonders der Bergsinfonie, von Franz Liszt, gespielt von den Dresdner Philharmonikern unter der Leitung von Michel Plasson. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.