Mit Franz Marc und den Utopien ist das so eine Sache. Seine Haltung zum Ersten Weltkrieg ist viel diskutiert und für einen Vernunftmenschen des 21. Jahrhunderts nicht immer nachzuvollziehen. In seinem Manuskript "Das geheime Europa" schreibt Marc von der "reinigenden Wirkung" des großen Krieges, der "das Faulende ausstößt und das Kommende zur Gegenwart macht". Euphorisiert zieht Marc in den Krieg, meldet sich freiwillig zum Dienst, um "gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes" zu kämpfen. Doch schnell ist auch Marc "das Elend des Krieges" präsent, für das er in einem Brief an seine Frau Maria später kaum Worte findet: "Ich muss einfach wegsehen und nicht so viel daran denken".
Die Kunst ist ihm Fluchtpunkt und an seinen Utopien hält er auch in der Schlacht fest. Im Laufe des Jahres 1915 beginnt Marc in ein Skizzenbuch zu zeichnen, das Skizzenbuch aus dem Felde, sein letztes künstlerisches Vermächtnis, bevor er 1916 bei einem Erkundungsritt nahe Verdun von einem Granatensplitter erschlagen wird. Das Skizzenbuch aus dem Felde: 36 Bilder, die in einer Faksimile-Version in der Ausstellung zu sehen sind. Kuratorin Cathrin Klingsöhr-Leroy:
"Der Krieg kommt da nicht vor, zumindest nicht als Apokalypse oder schreckliches, tödliches Ereignis für die Menschen - Menschen kommen ja sowieso nicht vor, schon lange nicht mehr in dem Werk von Marc bis zu Krieg. Was aber einen Bezug herstellt, zumindest zu seiner gedanklichen Welt, in der er gelebt hat während des Krieges, ist die Tatsache, dass diese Blätter zum Teil Schöpfungsszenen darstellen, also Tierkörper, die sich langsam aus abstrakten Formen herauszubilden scheinen."
Gescheiterte Utopie
Natürlich, die Pferde. Marcs berühmte Pferde, sie sind in diesen Skizzen nahezu überall. Mal verborgen im Wust abstrakter Formen, dann wieder ganz klar erkennbar vor einer paradiesisch anmutenden Alpenlandschaft. "Schöpfung", "Weisheit", oder "Das friedsame Pferd" heißen einige der Zeichnungen mit Titel programmatisch. Man kann hier spekulieren, ob sich Marcs Stil in Zukunft mehr und mehr den abstrakten Tendenzen verschrieben hätte. In jedem Fall: Marcs Utopie von Neuaufbau, Ordnung und Natur, sie scheitert - nicht nur mit seinem Tod, sondern auch in der Kunst nach 1918.
"Die Künstler, die den Krieg überleben, können so einen utopischen Gedanken überhaupt nicht mehr aufrechterhalten."
Die deutschen Expressionisten schaffen in den 20er-Jahren beklemmende Schreckensszenarien: Beispielsweise Erich Heckels "Unterhaltung", in der paradoxerweise alle Münder geschlossen bleiben oder - besonders eindrucksvoll - Ernst Ludwig Kirchners "Selbstmörderin", entblößt, mit Revolver am Herz, blutüberströmt vor blutroter Landschaft. Nicht fehlen dürfen Karikaturen der Veristen: makabre Zeichnungen aus Otto Dix "Kriegsmappe" oder George Grosz' "Drei Männer in der Stadt". Mancherorts werden unter dem Einfluss von Konstruktivismus und Futurismus schon wieder neue Utopien formuliert, wie abstrakte Bilder von Fernand Leger oder El Lissitzky zeigen. Die Ausstellung fungiert insofern auch als Überblicksschau zu den postkriegerischen Kunstströmungen, soweit das ein kleines Museum wie das Franz-Marc-Museum leisten kann.
Matisse in der Begleitausstellung
Einen kräftigen Satz nach vorne macht man dann im Erdgeschoss bei der begleitenden Ausstellung "Henri Matisse. Rupprecht Geiger". Auch hier geht es exemplarisch um die Kunst nach dem Krieg, dem Zweiten Weltkrieg. Matisse mit seiner Serie "Jazz" und Geiger mit seinen Mappen "AER" und "PYR" setzen der grauen Nachkriegszeit kräftige Farben entgegen. Das leuchtende Rot, Pink, Orange des Deutschen und die verspielten Zirkus- und Märchenfiguren des Franzosen lassen dabei schon fast wieder eine neue Utopie entstehen. Ob Absicht oder Zufall: Hier scheint sich der Kreis zu schließen - und Franz Marcs Idee vom Neuaufbruch findet fast 50 Jahre später ihre etwas andere Fortsetzung.