"Komme heute zu Schober. Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war".
So hat Franz Schubert in der Erinnerung seines Freundes Joseph von Spaun im Spätherbst 1827 die Privataufführung seiner "Winterreise" D 911 angekündigt. Und zu den 24 Gedichten von Wilhelm Müller mit ihrer teilweise recht bizarren Bildsprache schrieb er eine Musik, die wie beispielsweise in "Der stürmische Morgen" in ihrer Düsternis und Schroffheit bei den Zuhörern zunächst auf Unverständnis stieß, wie Spaun weiterschreibt:
"Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze "Winterreise" durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, ihm habe nur ein Lied, "Der Lindenbaum", gefallen. Schubert sagte hierauf nur: "Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen". Und er hatte recht, bald waren wir begeistert von dem Eindruck der wehmütigen Lieder."
Meilenstein des Kunstliedes
Tatsächlich avancierte die "Winterreise" nach Schuberts Tod rasch zu einem seiner bekanntesten Werke und galt bald als Meilenstein der Gattung Kunstlied. Für seine große Popularität spricht, dass der Zyklus schon früh für hohe, mittlere und tiefe Stimme herausgegeben wurde. Dem entsprechend haben im Laufe des 20. Jahrhunderts unzählige Tenöre, Baritone und Bässe die "Winterreise" auf Schallplatte aufgenommen, allerdings auch etliche Sopranistinnen und Altistinnen. Unter den Interpreten finden sich interessanterweise viele, die auch als Wagnersänger einen internationalen Ruf genießen. Zu ihnen gehört auch Günther Groissböck. Durch dessen Karriere zieht sich die Opernbühne wie ein roter Faden: 2002 debütierte der damals 26jährige Österreicher bei den Salzburger Festspielen und machte danach in Wien und Zürich von sich reden. 2011 sang er erstmals bei den Bayreuther Festspielen. Wagner- und Richard Strauss-Partien wie etwa dessen Ochs auf Lerchenau interpretierte Groissböck unter anderem in New York, Mailand, Paris, Amsterdam oder München. Doch den Sänger interessieren nicht nur die großen Opernpartien, sondern immer wieder auch die kleinen Preziosen im Liedbereich.
Sinn für feine Nuancierungen
Groissböck ist kein Freund grell plakativer Interpretationen. So erstaunte und begeisterte er die Kritiker beispielsweise mit seiner Darstellung des Ochs auf Lerchenau im "Rosenkavalier", die nicht wie meist üblich eher plump derb ausfiel, sondern mehr den raffiniert rustikalen Adeligen herausstellte. Im Booklet der "Winterreise" charakterisiert der Bassist seine Rolle im Zyklus als die, Zitat, "eines Mannes eher mittleren Alters, der sich aufgrund einer enttäuschten Liebe der Mühsal und Hoffnungslosigkeit unseres Daseins bewusst wird". Darüber hinaus hat für Groissböck speziell dieses Werk etwas "Auto-Psychotherapeutisches" und immanent "Österreichisches", was nach seiner Ansicht gerade in Schuberts Musik häufig spürbar sei. Die Gefühlszustände des Protagonisten mit Hoffnung, Verzweiflung und Resignation zeichnen der Sänger und sein Klavierbegleiter überaus subtil und differenziert nach, verzichten dabei aber auf allzu vordergründige Extreme: das zeigt beispielsweise ihre Interpretation des Liedes "Mut".
Mehr Sammlung als Zyklus
Handelt es sich bei der "Winterreise um einen echten Liederzyklus, so kann man beim "Schwanengesang" D 957 eher von einer Sammlung sprechen. In seinen letzten Lebensmonaten hatte Schubert mehrere Lieder nach Texten von Ludwig Rellstab und Heinrich Heine hintereinander notiert, die möglicherweise einmal zwei eigenständige Zyklen ergeben sollten. Kurz nach seinem Tod gab der Wiener Verleger Tobias Haslinger sie im März 1829 mit dem poetischen Titel "Schwanengesang" heraus. Unter den 14 Nummern befindet sich auch eines der bekanntesten Lieder Schuberts: das "Ständchen". Für Günther Groissböck ist dieser letzte Liederzyklus von Schubert in seiner musikalischen Vielfalt schwer zu fassen und einzuordnen, wie er im Booklet der CD schreibt, Zitat:
"Natürlich gibt es beinahe bahnbrechend Neues, wie den "Doppelgänger" oder "Die Stadt" mit ihrer einzigartigen Klavierbegleitung, andererseits finde ich auch Balladenartiges wie "Kriegers Ahnung", Hochdramatisches wie "Der Atlas" oder aber herrlich gebräuchlich Romantisches, wie das berühmte "Ständchen". Wenn man so will also eine Art "Best of"-Sammlung Schubertscher Liederkunst."
Diese Facettenhaftigkeit fordert im Vergleich zur "Winterreise" von dem Interpreten eine deutlich größere vokale Palette an Ausdruck und Farbigkeit – die Günther Groissböck etwa im Lied "Der Atlas" sehr eindrucksvoll einzusetzen weiß.
Sensible durchdachte Interpretationen
Ergänzte Haslinger 1829 die dreizehn Lieder nach Texten von Rellstab und Heine für die Erstausgabe mit der "Taubenpost", dem vermutlich letzten vollendeten Werk Schuberts, so fügten Groissböck und Huber für die vorliegende Einspielung des "Schwanengesang" noch ein weiteres Lied ein: "Herbst" D 945 nach einem Text von Rellstab, das im April 1828 entstand. Abgesehen davon, dass es von der Entstehungszeit und dem Textdichter her sehr gut zum letzten Liederzyklus passt, ist diese Einfügung wohl auch dem Umstand geschuldet, dass die beiden Interpreten dieses Programm im September 2016 beim "Klangräume"-Festival im österreichischen Waidhofen aufführten; dort entstand auch ein Jahr zuvor der Mitschnitt der "Winterreise". In beiden Aufnahmen beweisen der Bassist und der Pianist ihr hohes Maß an Sensibilität und Einfühlungsvermögen, zugleich präsentieren sie Schuberts "Winterreise" und "Schwanengesang" mit durchdachter gezügelter Emotionalität, die den Werken durchaus gut tut.
Franz Schubert: "Winterreise" D 911 und "Schwanengesang" D 957 mit Günther Groissböck, Bass, und Gerold Huber, Klavier (Decca 481 4990)