"Sämtliche Leidenschaften" - guter Titel. Zu seinen brennendsten Leidenschaften, gesteht Franz Schuh, gehört die Angst. Nicht ohne Bangigkeit beispielsweise beobachtet der Schriftsteller zur Zeit die politische Weltlage: Ob im Nahen Osten oder der Ostukraine - Schuh hält die Situation für besorgniserregend.
"Ich muss ehrlich zugeben, dass meine geistigen und emotionalen Kräfte nicht ausreichen, um den wiedererstandenen - unter anderen Vorzeichen - Antisemitismus zu fassen. Ich bin fassungslos vor diesen Phänomenen. Außerdem natürlich vor der Tatsache, dass Kriegslüsternheit wieder entstehen konnte. Und ich bin voller Skepsis der Frage gegenüber, ob die Friedensordnung hält, was sie verspricht."
Als Nachkriegskind ist Franz Schuh - Jahrgang 1947 - in ein "großes Aufatmen" hineingewachsen, wie er sich erinnert. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs tun sich nun neue weltpolitische Konfliktlinien auf, Konfliktlinien, die den kritischen Zeitgeist-Analytiker Schuh ernsthaft beunruhigen.
"Das Wiederkehren von bestimmten Gesten, darunter autokratische Gesten, darunter Gesten des Terrorismus, eine fantastische Zerstörungslust auf der Basis von religiösen Meinungsverschiedenheiten, das ist doch von großer Absurdität, dabei hat man irgendwie falsch, aber doch entschieden gedacht: das ist vorüber."
Räsonnieren über existenzielle Fragen
Ist es aber nicht, wie es scheint. "Sämtliche Leidenschaften" - in seinem Buch läßt Franz Schuh einen Protagonisten namens Franz Schuh über Lüge und Wahrheit, Liebe, Tod und andere existenzielle Fragen räsonieren. Schuhs Verfahren ist ein assoziatives: In souveräner Stilbrillanz tänzelt, schwebt, gleitet der wortmächtige Philosoph von einem Gedanken, einer Reflexion zur anderen.
"Wie passt das alles zusammen? Ganz einfach und überhaupt nicht. Kein Wunder, dass ich Bewusstseinsflimmern habe." (Aus: "Sämtliche Leidenschaften")
Bewusstseinsflimmern - mit diesem Wort ist Schuhs poetologisches Verfahren trefflich umrissen.
"Ich habe als Schüler der Dichterin Elfriede Gerstl immer versucht, Bücher zu schreiben, die nicht mit den vorhandenen Gattungen übereinstimmen, ohne dass ich das Geringste gegen die vorhandenen Gattungen hätte. Nur, es macht eine gewisse Freude, aus der Abweichung von diesen Gattungen zu denken. Und dieses Buch würde ich schlicht als ein Prosabuch bezeichnen, in dem das Verhältnis von Lüge und Wahrheit verhandelt wird, von Verstellung und Verwandlung und wirklichen Erlebnissen, die ich gar nicht gehabt haben kann, die aber, weil sie nun einmal schwarz auf weiß dastehen, so gut sind wie tatsächliche Erlebnisse."
Gar nicht so leicht zu sagen, welche der im Buch beschriebenen Erlebnisse der reale Franz Schuh gehabt hat und welche auf selbstironischer Mimikry beruhen. Dass Franz Schuh als drangsaliertes Kind in einer Wiener Sozialwohnungsiedlung, einem sogenannten Gemeindebau, aufgewachsen ist, beruht auf Fakten. Auch dass sein Vater, ein kommunistischer Exekutivbeamter mit kleinbürgerlicher Charakterstruktur, seinen Sohn immer wieder malträtiert und misshandelt hat, darf als gesichert gelten:
"Mein Vater tat beides, sich ausrasten und ausrasten, je nach Belieben, er hat mich - nicht regelmäßig, aber gelegentlich - geprügelt, so hart, als wäre ich sein Haustier, das nicht spurt. Seitdem versuche ich einen gewissen Kontakt zu Tieren aufrechtzuerhalten, was leider nicht klappt, weil ich denke, es sollte mir eine Herzensangelegenheit sein, ich bin aber verzweifelt menschensüchtig ... Heute im Rückblick, da ich weiser geworden bin und die Menschen nun verstehe, tippe ich darauf, wann, bei welchen Gelegenheiten der Vater mit seinen Prügeln nicht hinterm Berg halten konnte: Es war immer, wenn dieser harte Mann von einer furchtbaren Welle des Selbstmitleids überschwemmt wurde, wenn er also weich wurde, da haute er hin: Der Sohn ein Schulschwänzer, sein Sohn! Und der Sohn ein Kritiker des so schwerverdienten Urlaubs und des Urlaubsdomizils, man tritt ihn beim Waldspaziergang sofort den Hang hinunter, dass er spürt, was er dem Vater antat. Bei einem Zehnjährigen kann man damit noch landen; ein verzweifelter Vater, beleidigt vom Sohn, dem Eigenfleisch, und dessen vom Sohn abgetrennter Existenz, die immer öfter etwas Eigenes begehrte und schließlich sogar etwas Eigenes sein wollte." (Aus: "Sämtliche Leidenschaften")
Bekennender Fernseh-Junkie
Zu den Hervorbringungen der Kulturindustrie hat Franz Schuh - ein bekennender Fernseh-Junkie - zeitlebens ein kritisch-inniges Verhältnis unterhalten. Nicht ohne Nostalgie gedenkt Schuh der ersten Fernseh-Exerzitien seines Lebens. Anfang der Sechziger wurde das junge Medium der Television, nicht nur in Schuhs Familie, noch als eine Art kryptoreligiöse Offenbarung erlebt.
"Meine Eltern und ich gingen von unserer Stiege zu einer anderen Stiege des Gemeindebaus, hinüber in die Wohnung der Familie Sucharek. Wir pilgerten hinüber, es war ein Marsch in ein heiliges Land, weil dort bei den Suchareks schon ein Fernsehapparat stand. Fernsehen kannten wir nicht, Telefon hatten wir nicht. Das war unser Verhältnis zur Technik ... Plattenspieler kannten wir ebenfalls nicht. Rückblickend also ein auratischer Augenblick: der erste Fernseher in meinem Leben. Nach dem Konsum eines schwarz-weißen Programms fand die Unterhaltung kein Ende, sondern beliebig wiederholbar sang Freddy Quinn von der Platte: ‚Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus ...' Meine Mutter berührte das nicht, mein Vater verstand nicht, was das alles war und vor allem wozu es war, und ich empfand vom ersten Ton an, den ich von Freddy Quinn oder von Peter Kraus hörte, eine große Liebe für die Kunst." (Aus: "Sämtliche Leidenschaften")
"Peter Kraus war eine merkwürdige Erfindung der deutschen Kulturindustrie, weil man unbedingt etwas Bieder-Deutsches gebraucht hat, das ähnlich rockte wie die Amerikaner, wie Bill Haley und so weiter. Und ich finde das großartig, dass einer noch als Greis den Hüftschwung seiner Jugend vor Augen führt."
"Sämtliche Leidenschaften" - in seinem aktuellen Buch läßt sich Franz Schuh, der fabelhafte Formulierungskünstler, über die denkbar unterschiedlichsten Themen aus: über Fichtes Ich-Philosophie und die Gesangskunst Hans Albers', über Kneippkuren, Amours fous und das Sein zum Tode, dem wir alle unterworfen sind.
"Eine der wesentlichen Funktionen dieses Buchs ist es, die Eitelkeit der Rede über den Tod festzulegen und darzustellen. Diese Eitelkeit besagt: Ich will nicht sterben, was eigentlich heißen soll - ich bin unsterblich. Und der Skandal, dass es nicht so ist, den versuche ich beim Namen zu nennen, und zwar nicht in einer Art von Spiegelfechterei, sondern doch in einer ernsten Rede über den Tod."
"Man ist unversöhnlich mit dem eigenen Nicht-Sein, das man gar nicht denken kann ...", (Aus: "Sämtliche Leidenschaften")
schreibt Franz Schuh:
"Aber Denken ist nicht alles: Ich zum Beispiel ... habe den Sinn für die Negation körperlich und geistig eingebaut. Vernichtet zu sein ist mir vertraut, ich spüre durch das Dickicht des Daseins hindurch das Ende (von Jugend an), und ich glaube auch, dass der Tod der anderen, von dem man lernen und den man ganz und gar unegoistisch leidend erleben kann, irgendwann erst recht zurückschlägt in die eitle Unversöhnlichkeit mit dem eigenen Nicht-Sein: Ihr Wegsein macht einem das eigene Wegsein vor." (Aus: "Sämtliche Leidenschaften")
Von der Angst strukturiert
"Aber natürlich ist auch gemeint, dass in dieser ganzen Parodie der ‚Sämtlichen Leidenschaften' der Tod eine ernste Sache ist. Wenn der gesprochen hat, bleibt nichts mehr von der Leidenschaft, und alles, was man ‚Sämtlich' nennen kann, ist auch nicht mehr der Rede wert. Vielleicht ist die Haltung der Kälte dem Tod gegenüber angemessener als unsere ständige Klage über die Vergänglichkeit."
Gelingt es Franz Schuh bisweilen, diese Haltung einzunehmen: eine gewisse Kälte dem Tod gegenüber?
"Nein, ich bin eben, wie ich einleitend sagte, von der Angst strukturiert, und daher kann ich bestimmte philosophische Winkelzüge zwar studieren und wiedergeben, aber nicht, wie es so schön heißt, nachvollziehen."
Da ist es wieder, das Schuh'sche Paradigma: Dieser Mann kann von den intimsten Dingen reden und dabei eine selbstironische, ins leicht Unterkühlte hinüberspielende Distanziertheit wahren. Aber darunter lodert ein Feuer: das Feuer brennenden Erkenntnisdursts und eines überschießenden intellektuellen Spieltriebs. Man muss sich Franz Schuh als leidenschaftlichen Menschen denken.
Franz Schuh: "Sämtliche Leidenschaften", Zsolnay-Verlag, Wien, 224 Seiten, 19,90 Euro.