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Französische Kammermusik
Pointillierte Präzision

Isang Enders widmet sich der menschlichen Stimme, ohne dass ein Ton gesungen wird. "Vox Humana" heißt die neue Aufnahme des Cellisten. Eine Reise entlang französischer Musik von der Barockzeit bis in die Moderne.

Am Mikrofon: Mascha Drost |
    Ein junger Mann sitzt mit Blick nachunten und mit gefalteten Händen auf einem Stuhl.
    Cellist und Arrangeur: Isang Enders (Gregor Hohenberg)
    Musik: Marin Marais - Pièces de viole (Buch 2), Nr. 63: "Les voix humaines" (bearb. für 2 Violoncelli)
    Fast schon eine Meditation, Marin Marais' "Les voix humaines" - original für Gambe, hier auf zwei Celli gespielt von Isang Enders und Mischa Meyer. So kontemplativ wie hier hört man diese Musik selten - als einen einzigen, durchgehenden Legatofluss ohne Unebenheiten. Und genau das war auch seine Absicht, wie Isang Enders im Booklet schreibt - ein "unendliches Legato" zu erzeugen. Und wenn, wie hier, jede Artikulation fast vollständig aufgehoben wird, wird das Ohr für die Harmonien geschärft, für das dezente Wechselspiel der beiden Musiker, die es tatsächlich schaffen, auf zwei unterschiedlichen Instrumenten zu einem Klang, einem Timbre zu verschmelzen.
    Wie dieses stammen auch alle anderen Arrangements von Isang Enders selbst, der dabei ungeheures Geschick beweist, nicht nur bei Marais, auch bei Claude Debussy und einem seiner "Schlager", dem "Clair de lune". Eine Nummer, die leider nur allzu schnell zum Schmachtfetzen gerät, gerade wenn sich klangverliebte Cellisten an der Melodiestimme austoben.
    Gitarrenklang unterstreicht nächtliche Atmosphäre
    Isang Enders, der mit 20 schon Solocellist der Dresdner Staatskapelle wurde, mittlerweile aber die Solistenlaufbahn eingeschlagen hat, spart zwar auch nicht an Klang, Vibrato und dem einen oder anderen leichten Glissando - durch die zarte Gitarrenbegleitung aber bleibt "Clair de Lune" ein intimes Nachtstück.
    Musik: Claude Debussy - Suite bergamasque, "Clair de Lune" (bearb. für Violoncello und Gitarre)
    Claude Debussy ist das Zentrum dieser neuen Aufnahme des Cellisten Isang Enders, seine Cellosonate Dreh- und Angelpunkt, von der aus sowohl zurück in die Barockzeit als auch in die klassische Moderne geblickt wird.
    Debussy als Brücke zur französischen Kompositionsgeschichte
    Debussy selbst schlug in seinen letzten drei Kammermusikwerken, zu denen die Cellosonate gehört, eine Brücke zu französischen Meistern wie Rameau - nicht nur, dass er das Titelblatt in Lettern und Design der Barockzeit stechen ließ, auch musikalisch erinnert vieles an den strengen Rhythmus und die üppigen, aber genau festgelegten Verzierungen einer französischen Ouvertüre.
    Musik: Claude Debussy - Sonate für Violoncello und Klavier d-Moll, Prolog: Lent, sostenuto e molto risoluto
    Akkuratesse eines pointillistischen Gemäldes
    Viel Bogen, wenig Druck, viel Luft: diese Spielanweisung bekam der Cellist Isang Enders vor seinem ersten Kontakt mit Debussy. Zu simpel, um wahr zu sein, bekennt er im Interview - denn gerade ein Spätwerk wie die Cellosonate hat mit den verschwommenen Klangfarben, die man mit impressionistischer Musik so oft verbindet, kaum etwas zu tun. Viel eher mit der Akkuratesse eines pointillistischen Gemäldes - punktgenau hat Debussys Spielanweisungen, Dynamik und Artikulation notiert. Und so hat Isang Enders sein eigenes Credo entwickelt und beherzigt - je impressionistischer es klingen soll, desto genauer sollte man spielen.
    Musik: Claude Debussy - Sonate für Violoncello und Klavier d-Moll, Finale: Animé, léger et nerveux
    Debussy ist schön, macht aber viel Arbeit, könnte man in Abwandlung sagen - Kontraste und Klangfarben lebendig, aber nicht aufdringlich zu gestalten, das blitzschnelle Umschalten von einem Takt auf den anderen zwischen verspielt und lyrisch, pointierter und großflächiger Tongestaltung.
    Das erfordert spielerische Geschmeidigkeit, von Cello und Klavier gleichermaßen. Isang Enders und Sunwook Kim schaffen hier ein vielstimmiges und äußerst unterhaltsames Theaterstück, bei dem jeder Auftritt sitzt.
    Musik: Claude Debussy - Sonate für Violoncello und Klavier d-Moll, Serenade: Modérément animé
    Der Klang der menschlichen Stimme ist nicht unbedingt die erste Assoziation, die man mit Debussys Cellosonate verbinden würde. Überhaupt führt der Titel dieser neuen Aufnahme, "Vox Humana", ein wenig in die Irre. Es ist vielmehr ein musikalisches Panorama der Ars Gallica, ausgehend von Debussy.
    Neben dessen Sonate sind die drei Stücke für Cello und Klavier von Nadia Boulanger die einzigen Originalwerke für diese Besetzung - zur gleichen Zeit entstanden, aber im Vergleich, trotz aller Lebendigkeit und allem Einfallsreichtum, weitaus konventioneller gehalten. Der Stil: Ein vorsichtig ins 20. Jahrhundert hinübergetragener Gabriel Fauré, Nadia Boulangers Lehrer und Förderer.
    Musik: Nadia Boulanger - Trois pièces pour violoncelle et piano, Nr. 2: Sans vitesse et à l'aise
    Ihren eigenen allerhöchsten Ansprüchen hielten Werke wie dieses nicht stand - und so gab Nadia Boulanger, eine der einflussreichsten Pädagoginnen des 20. Jahrhunderts, das Komponieren wenige Jahre nach Entstehung der Drei Stücke für Violoncello und Klavier auf.
    Intelligente Konzept-CD
    Und trotzdem darf ihre Musik auf der vorliegenden Aufnahme nicht fehlen - wo, wenn nicht hier, kann Isang Enders sein Cello so natürlich aussingen lassen, so rein und unprätentiös, wie die Melodie eines Volkslieds. Hier hört man sie wirklich, die Vox Humana. Außerdem hält Nadia Boulanger gleich zwei Schlüsselrollen inne - eine als Verbindung zu Werken von Lili Boulanger und Igor Strawinsky, die sich ebenfalls auf dieser CD finden – und die andere als Abgrenzung zu Olivier Messiaen, der wie sie als Pädagoge und ebenfalls in Paris wirkte, allerdings später und als Vertreter einer neuen Avantgarde, die den Kreis um Boulanger als reaktionär empfand.
    Harmonium verscheucht Geisterbahn-Stimmung in Messiaens "Fête des belles eaux"
    Ein Ausschnitt aus Messiaens "Fête des belles eaux" hat Isang Enders für Cello und Harmonium arrangiert - und ohne dem Komponisten zu nahe treten zu wollen: Diese Version ist um einiges sinnlicher als die auf Dauer doch ermüdende Originalbesetzung mit sechs Ondes Marteno, frühen elektronischen Instrumenten, die ein wenig an Geisterbahn-Atmosphäre denken lassen. Dann doch lieber so.
    Musik: Olivier Messiaen - "Fête des belles eaux"
    Man muss seine Stimme nicht unbedingt lautstark erheben, um Wirkung zu erzielen. Im Zweifel lieber etwas zurückhaltend, aber eindringlich: so lässt Isang Enders sein Instrument sprechen, egal ob bei Messiaen, Debussy, Strawinsky oder Marais. Er und seine durchweg exzellenten Kammermusikpartner suchen eigene interpretatorische Wege, stilsicher und ohne Geltungsdrang.
    "Vox Humana"
    Französische Kammermusik von Marin Marais, Claude Debussy, Nadia Boulanger u.a.
    Isang Enders (Violoncello), Sunwook Kim (Klavier), Sean Shibe (Gitarre), Mischa Meyer (Violoncello), Joachim Enders (Harmonium)
    Label: Berlin Classics