Es muss nicht immer hoch hergehen in politischen Diskussionen. Im Haus von Didier und Michèle Belle beginnt alles ganz entspannt mit einem Aperitif. "Whiskey oder Ricard?" fragt Didier seinen Nachbarn, Ulas Uyar, der zum Diner herüber gekommen ist. Für das Rentnerehepaar und den Professor für Geschichte und Erdkunde an der Universität Evry ist klar, dass sie Ende Mai wählen gehen.
"Ich bin vielleicht noch nicht aus dem Urlaub zurück. Also wird eine Freundin für mich wählen. Und Ulas wird für Didier wählen."
In ihrer Stadt hingen aber noch kaum Wahlplakate, wundert sich Michèle, erst seit gestern Abend ein paar am Rathaus. Mit den Programmen der Parteien haben sich die beiden Rentner nicht viel auseinandergesetzt.
"Ich weiß, für welche Parteien ich nicht stimmen werde – es bleibt also nur eine übrig."
Und das ist für Didier die Liste der Präsidentenpartei La République en Marche. Für den agilen Mann ist klar:
"Alle die sich aufstellen lassen, um Europa von innen zu zerstören – für sie werde ich nicht riskieren zu stimmen. Weder für die Extremisten noch für die Populisten."
"Gelbwesten-Bewegung ist aus einer legitimen Wut entstanden"
Die drei am Tisch stimmen überein, dass die Franzosen bei der Europawahl über die Innenpolitik im eigenen Land abstimmen werden. Und die wird seit Monaten von den Protesten der Gelbwesten dominiert. Didier hält nichts von vielen ihrer Forderungen, zum Beispiel den Mindestlohn massiv zu erhöhen. Der französische Staat habe nichts mehr zu verschenken. Nur Macron sage das deutlich. Ulas findet dagegen:
"Die Gelbwesten-Bewegung ist aus einer echten Wut entstanden, die völlig legitim ist. Die Leute beschweren sich über die finanzielle Ungleichheit. Und in den politischen Parteien finden sie sich nicht wieder."
Michèle stellt einen großen Topf mit Fleisch und Kartoffeln auf den Tisch während Didier eine Flasche Rosé öffnet und ihn in die Gläser einschenkt. Nach dem Anstoßen fährt Ulas mit seinen Überlegungen fort. Die französische Politik hat in vielen Bereichen versagt, glaubt er.
"Es gibt eine dominante Ideologie: die liberale, die besagt, dass man alles in Wettbewerb zueinander setzen muss, dass die Unternehmen die einzigen sind, die Wohlstand schaffen. Und dazu gibt es keine Alternative. Darum wählen die Leute den Rassemblement National. Und jetzt haben wir eine ausländerfeindliche und rassistische Partei als stärkste Arbeiterpartei in Frankreich. Das gab es noch nie."
Für wen er stimmen wird, weiß der 44-Jährige noch nicht, aber sicher nicht für die Liste von Emmanuel Macrons Partei. Ulas ist als Kind in den 80er-Jahren mit seiner Familie aus der Türkei eingewandert.
"Als wir in Frankreich ankamen habe ich gemerkt, dass wir Würde haben. Wir waren willkommen. Du kennst das doch, Michèle als ehemalige Lehrerin, damals gab es diese Integrationsklassen. Dort hat man sich um uns gekümmert. Ich habe mein Studium sogar in Clichy-sous-Bois gemacht."
"Das ist die Bronx von Frankreich", stellen Ulas und Michèle fest. Aber, so sagt Ulas, er sei bisher noch nie diskriminiert worden."
Politiker - zu weit weg von den Sorgen der Menschen
Heute sei es schwer für Immigranten, weil die Franzosen selbst genug Probleme hätten. Die Unsicherheit am Arbeitsplatz, nennt Didier. Ganz anders als zu den wirtschaftlich goldenen Zeiten, als er jung war und jeder sich hocharbeiten konnte, sagt der ehemalige Informatiker. Ulas glaubt, die Politiker hätten sich zu weit von diesen Sorgen der Menschen entfernt.
"Sie sind nur unter sich" – beklagt er, während Michèle hinter ihm einen Fensterladen schließt, um die blendende Abendsonne abzuschirmen, die ins Zimmer scheint.
"Macron, Sarkozy, Hollande – das ist die gleiche Kultur, das gleiche Milieu, die gleiche Herkunft", ergänzt Didier. "Diese Leute haben die Mittel, nach oben zu kommen. Sie profitieren von ihren Netzwerken. Für sie ist es nicht überraschend, zu regieren."
Ein Demokratiedefizit, wie auch in der Europäischen Union, findet Ulas. Die gewählten EU-Abgeordneten hätten keinen Einfluss. Wenn es nicht um die europäischen Institutionen geht, sind alle drei am Tisch Anhänger der EU. Das Reisen ohne Grenzen, die Nähe der Menschen. Toll – meinen Didier und Michèle. Und Ulas sagt "Ja" zu einem gemeinsamen Projekt.