Die Sagen und Legenden, in denen oft historischen Figuren eine ganz neue Wahrheit zugeschrieben wird, lassen Felicitas Hoppe nicht los. Johanna von Orleans, Iwein Löwenritter, das waren ihre letzten Helden. Und dann ihre abenteuerlichen Reisen. Besonders die eine wird immer wieder zitiert, auch gern von ihr selbst: die Schiffsfahrt über die Weltmeere vor gut zehn Jahren – davon lässt sich ein Leben lang erzählen. Und sie gibt Stoff für immer neue Bücher, die so ein sonderbares Dazwischen sind, Bericht, Erzählung, Traum, Märchen, je schwerer zu begreifen, umso verlockender. Sind sie erfunden, sind sie erlebt? "Wir suchten die Wahrheit und wurden nicht fündig. Wir mussten alles selber erfinden", steht in diesem neuen Buch. Felicitas Hoppe über die Wahrheit:
"Ich bin überzeugt, dass es Wahrheit gibt, und dass wir sie unter Umständen nicht kennen, das macht die Sache äußerst problematisch. Deshalb würde ich sagen, nein, die Geschichte mit den vielen Wahrheiten ist eigentlich unsinnig, oder jeder habe seine eigene. Es gibt eine, nur haben wir unterschiedliche Arten, uns ihr zu nähern, und das spielt man im Erzählen durch."
Der materielle Grund ihres neuen Büchleins, das sie "Erzählung" nennt, ist einer der merkwürdigsten Preise, die sich in deutschsprachigen Landen finden. Fünf Jahre lang darf man sich in verschiedenen Unterkünften jährlich zwei Monate im mittelalterlichen Städtchen Leuk im Schweizer Rhonetal aufhalten. Felicitas Hoppe wohnte in einer Einsiedelei mit angrenzender Kirche, als Einzige übrigens: Was sie durfte, darf nun keiner mehr. An einem solchen Ort kann man zur Ruhe kommen, man kann in sich gehen oder außer sich sein, hier ist man notwendigerweise Grenzgänger zwischen zwei Daseinsarten, man wird zum genießenden Müßiggänger und nolens volens zum Einzelgänger. Einsiedeln – was ist das?
"Ich glaube, das ist genau der Punkt. Es heißt da: 'Einsiedeln heißt, einen Platz finden, einen Ort, eine Stelle', an dem man wenigstens kurz verweilen kann. Da ich ja sowieso glaube, dass Ort und Zeit in gewisser Weise dasselbe sind, meine ich auch die Flexibilität in Ort und Zeit. Es geht genau um diese Art von Haltung oder von Sammlung oder eine Form von Wahrnehmung, die Erlebnisse möglich macht. Das ist Einsiedeln, und das geht natürlich überall."
Das Wort "Platz" ist nüchterner als "Ort", hat aber mehr Bedeutungsmöglichkeiten. Hoppe hatte alle Freiheit in diesem Wunderbüchlein, und sie hat diese Freiheit genutzt. Ähnlich wie im Märchen, zum Beispiel in "Frau Holle" – nur dass es da ein Brunnen ist –, muss sich die Erzählerin zunächst durch einen finstren Tunnel begeben, bevor sie ihr gelobtes Land betreten darf. Man kann diesen Gang durch die dunkle Röhre fast als Zweitgeburt betrachten, bei der die Unschuld zurückgewonnen wird. Eine helle Freude sind solche Geburten nicht, die Erzählerin erinnert sich an einen feststeckenden Fahrstuhl vor Jahren in Moskau, sie sieht sich als Knecht ihrer Klaustrophobie, sie "schwitzte entsetzlich", es blieb nur das Gebet. Am Ende der Tunnelfahrt aber steht die Belohnung, Hoppe schreibt: "Aber dann, ich hielt uns längst für verloren, erblickten wir in der Ferne ein Licht und erreichten doch noch das Ende des Tunnels." Das Zitat ist der erste Satz der Erzählung, er klingt wie eine Verheißung, er hat Melodie, er ist wie Gesang. Als Felicitas Hoppe ihr Ziel erreicht, befindet sie sich plötzlich in einem Zwischenraum. Zuweilen schüttelt sie ja gern die Betten wie die Grimm'sche Frau Holle, sodass es uns vor den Augen schneit, hier in ihrer Einsiedelei schwebt sie nun selbst in einer Zwischenwelt, einem Nirgendwo, einem Traum, wie wir es aus Andersens Märchen kennen: "Zwischen Himmel und Erde" hängt ihre "Menschenhütte am Gotteshaus", diese spiegelbildliche Anordnung von Mensch und Gott, von Stoff und Geist, steht im Buch auf zwei Seiten exakt gegenüber: unbewusst? zufällig? Zur Zwischenwelt passen die vielen Zermatter Legenden, die Felicitas Hoppe einfließen lässt.
"Legenden sind für mich die Urzellen der Geschichte, der Geschichten, die wir erzählen, das ist das eine, also es sind märchenhafte Stücke, die natürlich auch viel mit Religion zu tun haben, vor allem aber mit Lebenserfahrung, das heißt, von dort kommen eigentlich alle Stoffe, aus denen später große Literatur wurde. Es gibt gar keine große Literatur, die sich nicht irgendwie aus dieser Quelle speist. Das ist nicht nostalgisch, das ist nicht sentimental, und das ist auch keine Veredelung des Volksgutes, aber daher kommen diese Geschichten. Und was ganz wichtig ist bei den Legenden: Sie sind eigentlich mein Erzählprogramm, denn in den Legenden werden Räume und Zeiten aufgehoben, bzw. mit einer Eleganz und Lässigkeit überbrückt, wie es in der realistischen Literatur überhaupt nicht denkbar ist."
Sie ist letztendlich keine meditative Idylle, diese Einsiedelei mit direktem Zugang zum Kirchenaltar nebenan. Statt sich sicher zu fühlen, wie die Einsiedlerin anfangs glaubte, wächst die Unsicherheit. Schreiben und Lesen fallen ihr schwer, am Ende fragt sie sich zweifelnd, ob sie die Richtige für diesen Ort gewesen sei. Aber schwerfällig oder kopflastig ist das nicht, es ist sogar heiter, wenn sich die Eremitin von lauter Touristen umstellt sieht, die in ihren geil treibenden Weinberg einfallen – eine Szene von amüsant-barbarischer Symbolik –, oder wenn die englischen Gipfelstürmer oben ankommen, und der Eremit ist immer schon vor ihnen da, "ick bün all hier" – wieder Grimm –, oder wenn es eine richtige Liebesgeschichte wird, und zwar mit einem fernen Verwandten des Matterhorn-Erstbesteigers Edward Whymper. Die Liebe ist bei Hoppe sonst höchstens angedeutet, hier aber schaffen es die Liebenden doch wirklich ins selbe Zimmer und ins selbe Bett, auch wenn es, wie die Autorin sagt, eine Art "Stellvertreter-Liebesgeschichte" ist.
Dokumentarisches und Erfundenes, Wirklichkeit und Traum, Gegenwart und Vergangenheit einfach zusammenzustellen kann jeder, aber Felicitas Hoppe hat daraus eine ganz neue Realität erschaffen, sie hat ein bezauberndes, hintergründiges Märchen vorgelegt, mit diesen leicht-schwebenden, melodischen Sätzen, die ihr kaum einer nachmacht. Sie hat die Messlatte hoch gelegt. Ihre Nachfolger in dieser Reihe der Spycher-Preisträger müssen sich sehr anstrengen.
Felicitas Hoppe: Der beste Platz der Welt. Erzählung
Edition Spycher im Dörlemann Verlag, Zürich 2009. 96 Seiten, 14,80 Euro
"Ich bin überzeugt, dass es Wahrheit gibt, und dass wir sie unter Umständen nicht kennen, das macht die Sache äußerst problematisch. Deshalb würde ich sagen, nein, die Geschichte mit den vielen Wahrheiten ist eigentlich unsinnig, oder jeder habe seine eigene. Es gibt eine, nur haben wir unterschiedliche Arten, uns ihr zu nähern, und das spielt man im Erzählen durch."
Der materielle Grund ihres neuen Büchleins, das sie "Erzählung" nennt, ist einer der merkwürdigsten Preise, die sich in deutschsprachigen Landen finden. Fünf Jahre lang darf man sich in verschiedenen Unterkünften jährlich zwei Monate im mittelalterlichen Städtchen Leuk im Schweizer Rhonetal aufhalten. Felicitas Hoppe wohnte in einer Einsiedelei mit angrenzender Kirche, als Einzige übrigens: Was sie durfte, darf nun keiner mehr. An einem solchen Ort kann man zur Ruhe kommen, man kann in sich gehen oder außer sich sein, hier ist man notwendigerweise Grenzgänger zwischen zwei Daseinsarten, man wird zum genießenden Müßiggänger und nolens volens zum Einzelgänger. Einsiedeln – was ist das?
"Ich glaube, das ist genau der Punkt. Es heißt da: 'Einsiedeln heißt, einen Platz finden, einen Ort, eine Stelle', an dem man wenigstens kurz verweilen kann. Da ich ja sowieso glaube, dass Ort und Zeit in gewisser Weise dasselbe sind, meine ich auch die Flexibilität in Ort und Zeit. Es geht genau um diese Art von Haltung oder von Sammlung oder eine Form von Wahrnehmung, die Erlebnisse möglich macht. Das ist Einsiedeln, und das geht natürlich überall."
Das Wort "Platz" ist nüchterner als "Ort", hat aber mehr Bedeutungsmöglichkeiten. Hoppe hatte alle Freiheit in diesem Wunderbüchlein, und sie hat diese Freiheit genutzt. Ähnlich wie im Märchen, zum Beispiel in "Frau Holle" – nur dass es da ein Brunnen ist –, muss sich die Erzählerin zunächst durch einen finstren Tunnel begeben, bevor sie ihr gelobtes Land betreten darf. Man kann diesen Gang durch die dunkle Röhre fast als Zweitgeburt betrachten, bei der die Unschuld zurückgewonnen wird. Eine helle Freude sind solche Geburten nicht, die Erzählerin erinnert sich an einen feststeckenden Fahrstuhl vor Jahren in Moskau, sie sieht sich als Knecht ihrer Klaustrophobie, sie "schwitzte entsetzlich", es blieb nur das Gebet. Am Ende der Tunnelfahrt aber steht die Belohnung, Hoppe schreibt: "Aber dann, ich hielt uns längst für verloren, erblickten wir in der Ferne ein Licht und erreichten doch noch das Ende des Tunnels." Das Zitat ist der erste Satz der Erzählung, er klingt wie eine Verheißung, er hat Melodie, er ist wie Gesang. Als Felicitas Hoppe ihr Ziel erreicht, befindet sie sich plötzlich in einem Zwischenraum. Zuweilen schüttelt sie ja gern die Betten wie die Grimm'sche Frau Holle, sodass es uns vor den Augen schneit, hier in ihrer Einsiedelei schwebt sie nun selbst in einer Zwischenwelt, einem Nirgendwo, einem Traum, wie wir es aus Andersens Märchen kennen: "Zwischen Himmel und Erde" hängt ihre "Menschenhütte am Gotteshaus", diese spiegelbildliche Anordnung von Mensch und Gott, von Stoff und Geist, steht im Buch auf zwei Seiten exakt gegenüber: unbewusst? zufällig? Zur Zwischenwelt passen die vielen Zermatter Legenden, die Felicitas Hoppe einfließen lässt.
"Legenden sind für mich die Urzellen der Geschichte, der Geschichten, die wir erzählen, das ist das eine, also es sind märchenhafte Stücke, die natürlich auch viel mit Religion zu tun haben, vor allem aber mit Lebenserfahrung, das heißt, von dort kommen eigentlich alle Stoffe, aus denen später große Literatur wurde. Es gibt gar keine große Literatur, die sich nicht irgendwie aus dieser Quelle speist. Das ist nicht nostalgisch, das ist nicht sentimental, und das ist auch keine Veredelung des Volksgutes, aber daher kommen diese Geschichten. Und was ganz wichtig ist bei den Legenden: Sie sind eigentlich mein Erzählprogramm, denn in den Legenden werden Räume und Zeiten aufgehoben, bzw. mit einer Eleganz und Lässigkeit überbrückt, wie es in der realistischen Literatur überhaupt nicht denkbar ist."
Sie ist letztendlich keine meditative Idylle, diese Einsiedelei mit direktem Zugang zum Kirchenaltar nebenan. Statt sich sicher zu fühlen, wie die Einsiedlerin anfangs glaubte, wächst die Unsicherheit. Schreiben und Lesen fallen ihr schwer, am Ende fragt sie sich zweifelnd, ob sie die Richtige für diesen Ort gewesen sei. Aber schwerfällig oder kopflastig ist das nicht, es ist sogar heiter, wenn sich die Eremitin von lauter Touristen umstellt sieht, die in ihren geil treibenden Weinberg einfallen – eine Szene von amüsant-barbarischer Symbolik –, oder wenn die englischen Gipfelstürmer oben ankommen, und der Eremit ist immer schon vor ihnen da, "ick bün all hier" – wieder Grimm –, oder wenn es eine richtige Liebesgeschichte wird, und zwar mit einem fernen Verwandten des Matterhorn-Erstbesteigers Edward Whymper. Die Liebe ist bei Hoppe sonst höchstens angedeutet, hier aber schaffen es die Liebenden doch wirklich ins selbe Zimmer und ins selbe Bett, auch wenn es, wie die Autorin sagt, eine Art "Stellvertreter-Liebesgeschichte" ist.
Dokumentarisches und Erfundenes, Wirklichkeit und Traum, Gegenwart und Vergangenheit einfach zusammenzustellen kann jeder, aber Felicitas Hoppe hat daraus eine ganz neue Realität erschaffen, sie hat ein bezauberndes, hintergründiges Märchen vorgelegt, mit diesen leicht-schwebenden, melodischen Sätzen, die ihr kaum einer nachmacht. Sie hat die Messlatte hoch gelegt. Ihre Nachfolger in dieser Reihe der Spycher-Preisträger müssen sich sehr anstrengen.
Felicitas Hoppe: Der beste Platz der Welt. Erzählung
Edition Spycher im Dörlemann Verlag, Zürich 2009. 96 Seiten, 14,80 Euro