Archiv

Frauen in Afghanistan
Der "Hügel der Witwen" ist die letzte Hoffnung

Wenn Frauen in Afghanistan zu Witwen werden, fehlt ihnen in der Gesellschaft oftmals der Schutz. Sie werden schlicht zu Freiwild. Manche betteln, Manche prostituieren sich - und retten sich auf den "Hügel der Witwen", eine illegale Siedlung im Osten Kabuls.

Von Sandra Petersmann |
    Frauen in Kabul
    Frauen in Kabul (dpa / picture alliance / Hedayatullah Amid)
    Es gibt starken Tee und ein paar Zuckerwürfel. Die Frauen hocken auf einer Plastikplane, die auf dem steinigen Boden liegt. Sie haben sich vor dem Lehmhäuschen von Anisa versammelt. Es schmiegt sich windschief an einen Berghang. Anisa ist etwa 40 Jahre alt und die selbst ernannte Chefin einer ungewöhnlichen Gemeinschaft auf einem Hügel im Osten Kabuls. Hier leben vor allem Witwen und ihre Kinder.
    Anisa gehört zu den wenigen, die lesen und schreiben können. "Wir können uns aufeinander verlassen, wir lassen uns nicht im Stich", sagt sie - und viele andere nicken.
    Nawzi und ihre Freundin Bibi Mehro, beide um die 60 Jahre alt, meinen: "Dieser Ort ist für uns besser als alle anderen Orte, auch wenn wir hier kein gutes Leben haben." Die beiden haben ihre Ehemänner durch Raketenangriffe im afghanischen Bürgerkrieg verloren - nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen 1989. Damals fielen die Mudschahedin übereinander her. Die Gotteskrieger hatten die sowjetischen Soldaten gemeinsam vertrieben, konnten sich aber anschließend nicht auf eine gemeinsame Regierung einigen. Ihr blutiger Machtkampf legte Kabul in Schutt und Asche. Das Gemetzel spülte 1996 auch die Taliban an die Macht.
    Selbst gebaute Häuschen aus Lehm, oft in gefährlicher Schräglage
    Nawzi und Bibi Mehro, die beiden Großmütter vom Witwenhügel, drehen ihre Handflächen nach oben und zeigen Richtung Himmel. "Es steht nicht in unserer Macht, den Krieg der Männer zu stoppen." Das Leid, das sie in ihrem Leben schon ertragen haben, steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
    Keiner weiß so genau, wann die ersten Witwen auf den Hügel kletterten. Vermutlich irgendwann im Chaos des Bürgerkriegs in den frühen 90-er Jahren, als Kabul unter Dauerfeuer lag und immer mehr Menschen verzweifelt nach Schutz suchten. "Wir haben unser Haus hier oben alleine gebaut - meine Kinder und ich. Es hat ein Jahr gedauert", erzählt Mehro. So entstand nach und nach Zanabad, der Hügel der Witwen.
    Heute leben hier rund 500 Frauen ohne Männer, in selbst gebauten Häusern aus Lehm, oft in gefährlicher Schräglage. Die Fenster sind aus Plastikfolie, weil Glas zu teuer ist. Und Zanabad wächst. Afghanistans Dauerkrieg macht jeden Tag neue Frauen zu Witwen und ihre Kinder zu Waisen. In Kabul kommen jeden Tag neue Flüchtlingsfamilien an, die alles zurückgelassen haben, um den Kämpfen zu Hause zu entfliehen.
    "Ich habe meinen Mann durch einen Selbstmordanschlag verloren"
    "Ich habe meinen Mann vor ein paar Monaten durch einen Selbstmordanschlag verloren", berichtet Najia. Sie ist beides: Ein Flüchtling und jetzt auch eine Witwe. Die Familie floh vor etwa sechs Jahren vor dem ewigen Krieg nach Kabul und zog nach Zanabad. Und dann kam der Tag, an dem sich ein Selbstmordattentäter auf dem Basar in die Luft sprengte, auf dem Najias Ehemann als Tagelöhner etwas Geld verdienen wollte.
    "Eine Frau ohne Mann hat keinen Wert, das ist alles zu viel für mich", berichtet Najia, die sieben kleine Töchter durchbringen muss. Zanabad, der Hügel der Witwen, ist ein Psychogramm des afghanischen Krieges. Shah Jan hat ihren Mann und ihre beiden Söhne vor 15 Jahren verloren - im Herbst 2001, als der US-geführte Einmarsch des Westens in Afghanistan begann. Shah Jan war damals mit ihrer Tochter schwanger. Sie überlebte die Explosion, die ihr Haus zerstörte. Wer mit was gefeuert hat, bleibt unklar.
    "Ich bin krank. Mein Kopf ist krank"
    Die junge, schwangere Witwe floh aus der Provinz Logar nach Kabul und brachte ihr Kind auf dem Witwenhügel zur Welt. "Alles hier ist schwierig, aber am schwierigsten ist es, Arbeit zu finden und Geld zu verdienen", berichtet auch Shah Jan. Sie sagt im Gespräch immer wieder: "Ich bin krank. Mein Kopf ist krank. Mein Kopf ist kaputt." Viele Frauen auf dem Witwenhügel leiden unter psychischen Problemen.
    In einem männerdominierten Land, im dem Frauen erst der Besitz ihres Vaters und dann der Besitz ihres Ehemannes sind, sind Witwen Frauen ohne Identität. Sie fühlen und bewegen sich unsicher. Die Gesellschaft nennt sie "Töpfe ohne Deckel" und beäugt sie misstrauisch. Wenn die männerlosen Frauen nicht bei ihrer Familie Unterschlupf finden, sind sie Freiwild. Viele betteln, andere prostituieren sich.
    Verteilkämpfe und Handgreiflichkeiten auf dem Hügel
    Nach fast 40 Jahren Krieg soll es in Afghanistan bis zu 1,5 Millionen Witwen geben, schätzen die Vereinten Nationen. Vom Staat können sie keine Hilfe erwarten. Der afghanische Staat kämpft selber um sein Überleben.
    "Ich wohne gerne hier, ich verstehe mich gut mit meinen Schwestern", betont Anisa, die selbst ernannte Chefin auf dem Witwenhügel. Sie arbeitet bei der Polizei. Es ist kein Zufall, dass die einzige Waffenträgerin das Regiment auf dem Hügel führt. Zanabad ist keine Kuschel-WG. Es gilt das Recht der Stärkeren. Die Armut ist groß. Auch auf dem Hügel der Witwen gibt es Verteilkämpfe und Handgreiflichkeiten. Trotzdem vermittelt das Leben unter anderen Witwen den Frauen ein Gefühl von Sicherheit - und das ist viel wert in Afghanistan.