"You'll never walk alone", die berühmteste Fußball-Hymne der Welt, die Fans nicht nur in Liverpool vor jedem Spiel anstimmen. Rund um den Globus stiften solche Gesänge jenes Gemeinschaftsgefühl im Stadion, das zumindest für die eingefleischten Anhänger ebenso wichtig ist wie das Match selbst, berichtet der Politologe Andrei Markovits von der University of Michigan in Ann Arbor.
"Fast alle echten Fans betrachten ihr Team quasi als eine Verlängerung des eigenen Ichs. Sie ziehen die gleichen Hemden an wie die Spieler, bringen Schals und Transparente in Vereinsfarben mit und skandieren ihre Schlachtrufe. Sie verschmelzen regelrecht mit ihrem Team."
Das ist nicht nur ein Gefühl oder gar eine Illusion. Jede Statistik zeigt, dass Mannschaften ihre Heimspiele häufiger gewinnen als Auswärtsbegegnungen. Lautstarke Unterstützung macht sie stark. Das Geschehen auf den Tribünen bestimmt also das Spiel mit, erzählt Robert Claus von der "Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene soziale Arbeit".
"Vor allem ist es bunt und aktionsgeladen. Junge Leute können sich dort ausleben, können sich dort ganz kreativ betätigen, erfahren eine große Öffentlichkeit und damit auch eine Wirkmächtigkeit. Welche Öffentlichkeit gibt es sonst in Deutschland, wo junge Leute eine Choreografie gestalten, die in der Öffentlichkeit abhalten und die wird dann abends in der Sportschau vor einem Millionenpublikum gesendet. Diese Öffentlichkeit findet man nirgends anders als im Fußball."
Mentalität von Kriegern
Vor allem junge Männer zwischen 16 und 26 Jahren dominieren jene Fan-Gruppen, die sich Ultras nennen und im Stadion die Blicke auf sich ziehen. Sie widmen fast ihre gesamte Freizeit ihrem Verein, entwerfen vor jedem Spiel neue Choreographien und Plakate. Sie fahren selbst unter der Woche in die entlegensten Winkel des Landes, wenn ihre Mannschaft dort ein Auswärtsspiel austrägt. Manche entwickeln dabei eine Mentalität von Kriegern, meint Andrei Markovits.
"Warum sind Neid, Missgunst und Verachtung so allgegenwärtig in Fankurven? Weil diese Kurven ein Hort der Männlichkeit sind, seit im 19. Jahrhundert die Zeit der Massen-Sportveranstaltungen begann. Männer haben dort einen Ort gefunden, um ihre Aggressionen auszuleben und um das tun zu können, suchen sie ständig nach jemanden, den sie hassen."
Solche Ultra-Fans sind weniger Zuschauer als Mitkämpfer.
Emma Poulton: "Leute, die sich mit Fankultur nicht auskennen, empfinden das lärmende und aggressive Auftreten mancher Anhänger sicherlich als abstoßend und furchteinflößend. Doch sie übersehen, dass das Teil des Spiels ist. Es gehört zur Rolle der Fans, dass sie den Gegner einschüchtern und ihm unter die Haut gehen wollen, um dem eigenen Team einen Vorteil zu verschaffen."
Emma Poulton ist Professorin für Soziologie in Durham und Anhängerin von Tottenham Hotspur, einem Londoner Spitzenclub mit einem relativ hohen Anteil an jüdischen Mitgliedern. Die Mannschaft und ihre Fans sind deshalb häufig Schmähungen ausgesetzt, etwa wenn sie als "Yids" bezeichnet werden.
"Im Jiddischen hat dieser Begriff keinen diskriminierenden Beigeschmack, aber seit den 20er Jahren haben Antisemiten begonnen, ihn als Schimpfwort zu benutzen und das haben gegnerische Fans irgendwann aufgegriffen. Doch die Tottenham-Anhänger fühlen sich davon nicht getroffen. Sie wollen sich keine Blöße geben wollen. Sie bezeichnen sich selbst stolz als 'Yids' und genießen diesen verbalen Schlagabtausch."
Sponsoren versuchen, Fans zu disziplinieren
Mit ihrem für Außenstehende manchmal etwas rauen Humor könnten Fans ihre Rivalitäten meist gewaltfrei regulieren, meint Emma Poulton. Doch sie sind längst nicht mehr unter sich, überall im Stadion befinden sich Kameras und Mikrofone. Die Spitzenspiele werden weltweit übertragen. Sponsoren wollen keine Skandale wegen missverständlicher oder rassistischer Sprüche. Also versuchen die Verbände, die Fans zu disziplinieren. Doch die müssen noch aus einem anderen Grund Rücksicht nehmen. Etwa ein Drittel des Publikums ist mittlerweile weiblich, und Frauen gehen nicht nur in den Familienblock, sondern auch in die Kurven der Ultras. Auch wenn man sich manchmal fragen könne, warum sie sich das antun, gibt Robert Claus zu.
"Man muss diese Ambivalenz verstehen, dass diese männlich geprägte Sphäre auch einen Raum zur Emanzipation bietet. Warum? Eine bürgerliche Erziehung von Mädchen beinhaltet selten, dass Frauen rülpsen, schimpfen und auch mal Gewalt anwenden. Im Stadion können das junge Frauen aber. Ob man das gut findet, ist eine andere Frage, aber im Stadion können sich junge Frauen weit jenseits bürgerlicher Weiblichkeitsnormen bewegen."
Diese Frauen engagieren sich genauso enthusiastisch für ihren Verein wie die Männer. Doch in die Führungszirkel der Ultra-Gruppen, die bestimmen, welche Schlachtrufe gebrüllt werden und wie die Gruppe sich inszeniert, stoßen sie bisher kaum vor.
"Wie wir in der Forschung herausgefunden haben, sind die Anforderungen, die Frauen in der Fan-Szene zu erfüllen haben, um Anerkennung zu kriegen, höchst ambivalent. Junge Männer müssen sich einfach beweisen, dann geht es auch höher; bei Frauen ist es ambivalenter, weil sie einerseits aufgefordert werden, Aufgaben in Gruppen zu übernehmen, gleichzeitig sollen sie aber unsichtbar bleiben. Es gibt vielfach Berichte, wie Frauen, die für die Gruppe wichtig sind, auf Gruppenfotos in die hinterste Reihe gehen müssen, damit Weiblichkeit nicht so sichtbar ist."
Wenn Frauen jetzt auch ihren Anteil an der Ultra-Szene erkämpfen, ist das die logische Fortsetzung einer langen Emanzipationsgeschichte. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren sie weder auf den Rängen, noch auf dem Platz geduldet. Das galt nicht nur für Europa, wo das Spiel traditionell proletarisch geprägt war und kraftbetont interpretiert wurde. Sondern auch für Brasilien, ein Land, das stets stolz darauf war, eine eigene, elegantere und spielerischere Variante entwickelt zu haben, sagt Julia Haß vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.
Frauenfußball als komödiantisches Vorprogramm
"Fußball hat eine große nationale Bedeutung und wurde in den 30er und 40er Jahren als ein Ort der Demokratie betrachtet. Als ein besonderer gesellschaftlicher Raum, weil dort Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft und Rasse, sagt man im Portugiesischen, also ethnischer Herkunft, teilnehmen konnten."
Nur eben keine Frauen.
"Die Frauen, die Fußball gespielt haben, wurden lächerlich gemacht, es wurden teilweise vor Fußballspielen der Herren als komödiantisches Vorprogramm Frauenspiele ausgetragen, das Fußballspielen von Frauen wurde nicht ernst genommen."
Von 1941 bis 1979 wurde es sogar offiziell verboten. Mittlerweile sind Brasiliens Frauen in die Weltspitze aufgerückt, doch zu Hause finden sie weder bei Fans, noch in den Medien oder beim Fußballverband die Anerkennung, die sie sportlich verdient hätten.
"Ich war bei einem Spiel, es wirkte wie ein Übungsplatz, es gab keine Sitzplätze, keine Tribünen, die Leute standen nur drumherum, es war eine nationale Meisterschaft, zwei sehr starke Teams, die gegeneinander angetreten sind, und dort waren dann auch nur ganz wenige Leute, die zugeschaut haben."
In Skandinavien, den USA und auch Deutschland hat der Frauenfußball mit den wachsenden Erfolgen der jeweiligen Nationalteams auch eine beachtliche Zahl an Fans gefunden, die sich weit weniger martialisch aufführen als die Anhänger männlicher Profis. Dass der Frauenfußball aber hinsichtlich der Fankultur eine Vorbildfunktion einnehmen könnte, glauben weder Emma Poulton noch Andrei Markovits.
Neue Männlichkeit - auch im Stadion?
Emma Poulton: "Die etwas simple Anti-Diskriminierungspolitik von Vereinen und Verbänden, die bestimmte Worte, Slogans oder Gesänge verbieten will, wird auch nicht fruchten. Denn auch das bürgerliche Publikum auf der Haupttribüne, das in der Pause Sekt und Häppchen genießt, will aus sicherer Entfernung doch die spektakulären Choreographien der Fankurven beobachten und nicht auf diese vibrierende Atmosphäre von Leidenschaft und Sticheleien verzichten."
Andrei Markovits: "Die Fankulturen aller wichtigen Mannschaftssportarten sind seit jeher eine Domäne von Männern. Die werden sich ihren Platz auch nicht nehmen lassen, aber sie müssen ihn in Zukunft teilen und lernen, dass das ihrer Männlichkeit keinen Abbruch tut."
Was Männlichkeit bedeutet, wird auf der Tribüne ebenso neu ausgehandelt wie anderswo in der Gesellschaft. Und auch wenn der Ausgang offen ist, wird sich einiges ändern. Doch die kultischen Gesänge werden bestimmt bleiben.