Hart erarbeitete Schulabschlüsse standen auch für die jungen Frauen im abgelegenen Norden Ghanas am Anfang ihrer Berufskarrieren und Lebenswege, die Andrea Behrends in ihrem Buch nachzeichnet. Befragt hat sie Frauen dreier Altersgruppen, die Ältesten wurden in den Vierzigerjahren eingeschult:
Speziell für die ersten Frauen, die Schulbildung dort erlangten, hat das eine extreme Veränderung in ihrem Leben hervorgerufen. Diese Frauen, die aus einem dörflichen Zusammenhang kamen, wo sie weder Elektrizität noch fließendes Wasser noch all diese modernen Dinge kannten, haben in der Schule eine Welt kennen gelernt, die sie sich so erst mal gar nicht vorstellen konnten, haben Dinge gelernt, die sie in ihrem täglichen Alltag überhaupt nicht gebrauchen konnten und haben sich eigentlich durch diese Bildung dann auch von ihrer Heimat, von ihren Dörfern gelöst.
Die beruflichen Ziele dieser ersten Schülerinnengeneration waren begrenzt: Lehrerin oder Krankenschwester. Anderes war für die jungen, gut ausgebildeten Frauen des Dagara-Volkes nicht vorstellbar. Bereits die nächste von Behrends befragte Altersgruppe, die in den Fünfzigerjahren eingeschult wurde, hatte weiter gefasste Berufsperspektiven:
Nach der Unabhängigkeit, als die Regionen im Norden Ghanas geteilt wurden, da haben viele Frauen, die vorher Lehrerinnen waren oder auch Schulleiterinnen, dann Aufgaben in Ministerien übernommen, und so hat sich das in den jüngeren Generationen auch dazu entwickelt, dass vor allem Juristinnen oder Buchhalterinnen oder solche Berufe, Ärztinnen, das waren dann schon begehrte Ausbildungsziele.
Indem Andrea Behrends, die als Ethnologin am Max-Planck-Institut in Halle arbeitet, die Bildungs- und Berufslaufbahnen ihrer Gesprächspartnerinnen schildert, beschreibt sie zugleich politische Entwicklungen in einem von Kolonialismus und Unabhängigkeitsprozess geprägten Land: Wie Menschen von den Kolonialmächten gesetzte politische und kulturelle Impulse aufnehmen. Wie sie diese Impulse in ihr Leben integrieren, davon profitieren, aber auch, welche Veränderungen und Anpassungen der europäischen Vorgaben sie nach ihren Bedürfnissen vornehmen. Damit illustriert Behrends den Wirkmechanismus von dem, was heute personelle Entwicklungshilfe genannt wird. Aber natürlich wäre es viel zu kurz gegriffen, Schul- und Berufskarrieren als Entwicklungsmotor losgelöst von den familiären Verhältnissen zu betrachten. Deshalb untersucht Behrends ausführlich die gesellschaftlichen Konventionen, die das Leben der von ihr befragten Frauen prägen:
Die ideale Frau, pogminga auf Dagara, also die wahre Frau oder die wirkliche Frau, ist ein Idealbild, was diese Frauen aus ihren Familien kennen - eine Frau soll eine Frau sein, die sehr unterwürfig ist, die alles für ihren Mann, für ihre Kinder, für die Familie tut, die den Nachbarn gegenüber freundlich gesinnt ist, die nie ihre Stimme erhebt und die sich nicht einmischt. Dieses Bild können Frauen, die beruflich vielleicht sogar eine übergeordnete Position als Direktorin oder Leiterin einer Abteilung haben, nicht durchhalten, und sie müssen ja in gewisser Weise Stellung beziehen und ihre Stimme erheben.
Einen Widerspruch zwischen männlich geprägten Konventionen und weiblichem Streben nach Eigenständigkeit und Entwicklung gibt es mittlerweile in vielen Teilen der Welt. In Europa und Nordamerika führt dieser Konflikt zu einer beträchtlich gestiegenen Zahl von Trennungen und Ehescheidungen - Männer, die sich partnerschaftlichen Verhaltensweisen verweigern, finden sich nicht selten ohne Partnerin wieder.
Dagara-Frauen Nordghanas trennen sich dagegen selten. Ein Grund mag sein, dass sie der schlechte gesellschaftliche Status einer nicht verheirateten Frau abschreckt. Dennoch verändern sie in kleinen Schritten die ehelichen Beziehungen, und zwar so...
...dass die Frauen zwar das Bild dieser pogminga, dieser idealen Frau für sich aufrecht erhalten, dass sie auch sagen, dass ihnen das weiterhin von großer Bedeutung ist, eine ideale Frau zu sein, aber sie definieren es anders. Sie definieren es um.
Das heißt zum Beispiel, dass auch gut ausgebildete Frauen gerne mehrere Kinder haben - aber sie sehen sich nicht mehr als Dienerin ihrer Familie, sondern eher als Managerin eines Haushalts mit mehreren Hausangestellten. Die Berufstätige, die gerade von einer Dienstreise zurückkommt in ihr großzügiges Haus in der Landeshauptstadt Accra oder in der Provinzhauptstadt, fühlt sich immer noch zuständig für die Zubereitung des überaus arbeitsintensiven traditionellen Hirsebrei-Gerichtes mit Gemüsesoße. Aber sie lässt es von Hausangestellten zubereiten und trägt nur die Verantwortung; oder sie nimmt die Tagesportion aus der Tiefkühltruhe. Die Tiefkühltruhen-Variante kann allerdings zu ernsthaften ehelichen Konflikten führen, weil das Essen eigentlich täglich frisch gekocht werden muss. Viele Ehemänner legen nämlich ein beachtliches Beharrungsvermögen an den Tag, wenn es um die Abwehr von Verpflichtungen in der Familie geht. Immerhin: Sie akzeptieren oder fördern sogar die beruflichen Karrieren ihrer Frauen. Ein wichtiger Grund dürfte das Geld sein, das die Frauen nach Hause bringen und damit den Männern ermöglichen, weniger von ihrem Einkommen für den Unterhalt der Familie aufzuwenden.
Aber nicht nur in den eigenen vier Wänden vollführen die neuen Frauen aus Nordghana täglich Drahtseilakte zwischen alten Sitten und neuen Anforderungen. Sie bewerkstelligen obendrein einen ständigen Spagat zwischen einem modernen Leben mit Auslandsstudium, Berufskarriere sowie Tiefkühltruhe in der Stadt und dem Lehmhüttendorf, aus dem sie stammen, das immer noch keine Elektrizität besitzt und wo Frauen möglichst unauffällig ihre Pflichten erledigen. Die Bindung an die Herkunftsregion ist stark, der regelmäßige Besuch - wenigstens in den Ferien - selbstverständlich:
Sie gehen ja mit ihren Kindern, mit ihren Familien auch immer wieder zurück in die Dörfer, wollen diese Verbindung aufrecht erhalten, die meisten Familien bauen sich dort ein Haus, aber es gibt auch Frauen, die das für sich selber machen, um eventuell dort wieder zu leben. Die Unterschiede sind natürlich extrem.
Wie weit dieses kraftraubende Modell in Zukunft tragen wird, ist offen. Die jüngsten Frauen, die Andrea Behrends porträtiert, sind heute 30. Nur wenige gehen rigider mit den herrschenden Konventionen um, fühlen sich zum Beispiel nicht mehr an traditionelle Formen von Eheschließung und Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gebunden. Erst bei den noch jüngeren hat Behrends mitunter radikal andere Lebensweisen beobachtet: Als Single in der Großstadt, mit kurzen Haaren, als nicht nur faktisch allein erziehende, sondern auch juristisch nicht verheiratete Mutter. Andererseits ist der Arbeitsmarkt enger geworden: Die Euphorie der Unabhängigkeit ist lange erloschen, die Staatskasse leer, die Schulausbildung auf dem Land ist schlechter geworden, Stellen sind knapp - und da sind es vor allem die jüngeren Frauen, die hart um ihren beruflichen Aufstieg kämpfen müssen.
Was ich gesehen habe ist, dass junge Frauen jetzt wieder häufiger auf den Beruf der Sekretärin zurückgreifen oder irgendwie so eine Angestellte, vielleicht bei internationalen Organisationen, aber dann eher im Hilfsbereich, also nicht leitend - das ist sehr selten geworden.
Mit ihrer sorgfältigen Studie einer begrenzten Bevölkerungsgruppe macht Andrea Behrends Entwicklungsprozesse fassbar - und zwar besser als das so manche weltumspannende, abstrakt-theoretische Großanalyse vermag.
Drahtseilakte. Frauen aus Nordghana zwischen Bildung, Beruf und gesellschaftlichen Konventionen. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel, 11,48 Euro