Frauen und Kinder zuerst. Eine Streitschrift
Achtung, meine Damen: Hier spricht ein Mann. Vorsicht Männer, hier geht es um eure Sache. Überparteilichkeit unmöglich. Wer nicht hören will, daß es auf der Welt ungerecht zugeht, schalte jetzt ab. Kein Problem, denkt jede Seite, Ungerechtigkeit widerfährt dem eigenen Geschlecht. Während die Frauenbewegung dies mit Nachdruck seit dreißig Jahren dokumentiert, tut sich die Männerbewegung - gibt's die? - mit der Öffentlichkeitsarbeit herzlich schwer. Jammern und Klagen als Mittel im Geschlechterkampf - naja, ein bißchen unmännlich ist das wohl schon. Deshalb sind im Chor der Opfer, so Paul-Hermann Gruner, ausschließlich Frauenstimmen zu vernehmen, während Männer sich bereitwillig ins militärische Korps einreihen lassen, wo Schweigen die erste Soldatenpflicht ist. Doch vorbei damit, "Frauen und Kinder zuerst" heißt das Auftakt-Pamphlet zur zweiten Runde der Emanzipation. Diesmal: Wie sich Männer von der Frauenherrschaft befreien können. Gar nicht so einfach, denn man sieht sie nicht richtig. Als Patriarchat ettiketiert, wirkt der uns umgebende Status quo wie ein Männerkonstrukt - von Männern für Männer geschaffen. Doch das, sagt Autor Gruner, ist ein Ammenmärchen, zumindest eine starke Verkürzung. Im Patriarchat profitieren sehr wenige Männer (und noch weniger Frauen) von den Vergünstigungen des Systems, während fast ebensoviele Männer wie Frauen unter den Nachteilen leiden. Da das System aber geschlechtsspezifisch statt schichtspezifisch identifiziert wird, generalisiert man von den wenigen Systemprofiteuren auf die breite Masse ihrer Geschlechtsgenossen. Nun kann man mit Recht fragen, warum Männer wie Frauen das klaglos über sich ergehen lassen? Bei den Männern ist es ja noch einleuchtend: Sie sitzen der Propagandalüge von der Teilhabe an der Macht auf, auch wenn sie bestenfalls ihren Kopf dafür herhalten, daß andere an der Macht bleiben. Aber warum revoltieren die Frauen nicht wirkungsvoll gegen das System? Weil sie, sagt Paul-Hermann Gruner und wird dafür viel Prügel einstecken, ganz prächtig damit leben können. Das Patriarchat arbeitet nämlich mit einer Verantwortungs- und Schuldzuweisungsmaschine, deren Herzstück die Frauenbewegung vor dreißig Jahren gekapert hat. "Versager sind männlich, Opfer sind weiblich", heißt es im Buch. Der sekundäre Gewinn der Opferrolle ist so gigantisch, daß man darüber kleinere gesellschaftliche Benachteiligungen ignoriert. Als Opfer steht frau nämlich eine Sonderbehandlung zu, frau kann sich vor Verantwortung drücken - vor Schmutzarbeit und lebensgefährlichen Tätigkeiten sowieso. "Das eigentliche Lebensrisiko eines Menschen", lesen wir, "ist es, Mann zu sein." Belege gibt es zuhauf, vom Soldatenleben über die Bauberufe, deren körperlicher Anteil im Gegensatz zur Hausfrauenarbeit in den letzten hundert Jahren kaum gesunken ist, bis hin zur nachgewiesenen Krankheitsanfälligkeit und früheren Sterblichkeit der Y-Chromosomenträger. "Gonosomale Apartheid!" schallt es uns aus dem rot gewandeten Buch entgegen. Paul-Hermann Gruner ist der Helmut Markwort des Geschlechterkampfes: Fakten, Fakten, Fakten! In ihrer Häufung weitgehend unanfechtbar, könnte dieses Taschenbuch zur Mao-Bibel des Jahres 2000 werden. Heerscharen von Männern, die nur noch dieses Buch zücken, wird ihnen mal wieder vorgehalten, sie seien gewalttätige Unterdrücker und unbelehrbare Ausbeuter. In Wahrheit fügen sie sich als graue Masse klaglos in ihr alltägliches Ernährer-und-Watschenmann-Schicksal. Zielobjekt einer bestens funktionierenden Propagandamasche: Ein männlicher Täter macht alle Männer zu Tätern, ein weibliches Opfer stigmatisiert das ganze Geschlecht. Eben dieser Masche begegnet Gruner auf eine ehrbare, aber ziemlich wirkungslose Weise: mit Statistik. Das ist männliches Denken. Bis wir Männer gelernt haben, unsere Einzelfälle zu Ikonen der Geschlechterunterdrückung zu stilisieren - nur das emotionalisiert wirkungsvoll -, werden wir den Kürzeren ziehen. Vielleicht sollten wir uns dazu ein paar Frauen an Bord holen. Achtung meine Damen, hier sprach ein männlicher Rezensent. Wenn er Sie geärgert hat, lesen Sie das besprochene Buch. Es wird Sie noch mehr ärgern.