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Frauenbilder und Integration
Das Private wird wieder politisch

Zu den Forderungen, die Politik und Gesellschaft an Flüchtlinge und Zuwanderer stellen, gehört die Anerkennung der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die meisten muslimischen Migranten jedoch sind skeptisch. Ihr Frauenbild spiegelt eher eine unterwürfige Weiblichkeit. Ändert man daran nichts, scheitert die Integration am Ende.

Von Barbara Sichtermann |
    Die Publizistin Barbara Sichtermann.
    Die meisten muslimischen Migranten seien skeptisch, wenn es um die Gleichstellung von Mann und Frau gehe, schreibt die Autorin und Publizistin Barbara Sichtermann. (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Es gibt Kanäle zwischen Haus und Öffentlichkeit, Privatleben und Politik, inneren Einstellungen und wahrnehmbaren Handlungen, über die Einfluss genommen werden kann. Das Frauenbild von Migranten hat die Integrationspolitik der vergangenen Jahre (und Jahrzehnte) nur oberflächlich zu verändern versucht.
    Selbst jüngere Feministinnen fürchten, der Ausländerfeindlichkeit bezichtigt zu werden und weichen in Kulturrelativismus aus. So geht es nicht weiter, sagt Essay-Autorin Barbara Sichtermann. Die Probleme gehörten auf den Tisch. Es muss Wege geben, sie zu lösen, ohne die Willkommenskultur zu beschädigen.
    Barbara Sichtermann, geboren 1943, ist seit 1978 freie Publizistin. Sie arbeitet regelmäßig für verschiedene Zeitungen und für den Rundfunk und ist Jurorin des Adolf-Grimme-Preises.

    Am 16. Juni 2017 wurde in Berlin-Moabit eine Moschee eingeweiht. Mehrere Polizeifahrzeuge parkten ringsum, Übertragungswagen von Fernsehsendern bezogen Posten. Es handelte sich um ein ungewöhnliches Ereignis. Die neue Moschee liegt auf dem Gelände der protestantischen St. Johannis‑Kirche und sie soll in Zukunft nicht nur Muslimen, sondern auch Christen und Juden Räume für Gebet und Einkehr offen halten. Ferner sind alle muslimischen Glaubensrichtungen willkommen. Sogar Nichtgläubige sollen Zutritt haben. Außerdem erst- und einmalig: Frauen dürfen unverschleiert neben Männern knien, und sie können sogar in diesem Gotteshaus predigen.
    Die Initiative zu einer solchen "liberalen Moschee" stammt von der Anwältin und Feministin Seyran Ateş; der Name des Gebetshauses lautet Ibn‑Rushd‑Goethe‑Moschee, wobei Ibn Rushd für einen muslimischen Theologen aus dem 12. Jahrhundert steht, der seinen Glauben mit Aristoteles, also der griechisch-römischen Antike, zu versöhnen trachtete. Und Goethe wurde Namenspatron, weil nicht zuletzt sein West‑Östlicher Diwan, ein lyrisches Werk, zeigt, wie hoch der Dichterfürst die arabische Kultur schätzte. Auch er war ein Brückenbauer zwischen den Kulturen.
    Aber warum so viele Polizeiautos? Die Idee der Frau Ateş findet nicht überall Zuspruch. Da gibt es Islam-Vertreter, die an ihren Traditionen festhalten wollen und eine solche Liberalisierung als Blasphemie empfinden. Aus dem fernen Kairo traf sogleich eine Fatwa von der Universität ein: Das neue Gotteshaus sei umgehend zu schließen.
    Von der Idee einer toleranten Weltkirche
    Es gibt auch Christen, denen es nicht gefällt, wenn die Tore ihrer Kirchen sich für Andersgläubige öffnen. Ein protestantisches Ehepaar verteilte Flugblätter, auf denen es Ateş und ihre Mitstreiter als "Traumtänzer" abwertete und seinen Austritt aus der evangelischen Kirche bekannt gab. Aber Superintendent Berthold Höcker, der bei der St. Johannis-Kirche Platz für die Moschee macht, hält an der Idee einer toleranten Weltkirche und ihrer Verwirklichung in Moabit fest. Er spricht sogar von einem "Meilenstein".
    Vielleicht kommt es ja so weit, dass die Berlinerinnen und Berliner mit und ohne Migrationshintergrund irgendwann sagen: Die Ibn‑Rushd‑Goethe‑Moschee, das war ein Wendepunkt damals, jetzt wissen wir, was zu tun ist. Vielleicht aber scheitert das mutige Projekt. Heute kann das niemand wissen. So viel jedoch ist sicher: Wenn Integration gelingen soll und Deutsche und Neudeutsche und Zugewanderte friedlich und freundlich zusammenleben wollen, brauchen wir viele Ibn-Rushd-Goethe-Moscheen. Sie mögen in Zukunft anders heißen und auch an anderen Orten entstehen als auf dem Gelände einer protestantischen Kirche. Aber eines müssten sie alle gemeinsam haben: Dass sie Menschen ungeachtet ihres religiösen Bekenntnisses als Brüder und Schwestern akzeptieren. Und dass sie Frauen und Männer nicht mehr separieren, Frauen keine Verhüllung mehr abverlangen und ihnen stattdessen das Wort erteilen. Solche "Erlaubnisse", solche Freiheiten, solche Gleichheiten sind letztlich der Schlüssel zur Integration.
    Es ist viel vom Grundgesetz die Rede, wenn es um Integration geht. Diesen Normenkatalog müssten Neubürger achten, und damit sind sie in aller Regel auch einverstanden. Was aber nun die Religion betrifft, so leidet die Debatte an einem elementaren Missverständnis. Im Grundgesetz steht, dass in Deutschland Religionsfreiheit herrscht. Das klingt gut. Es heißt in der Praxis, dass die Bundesrepublik verschiedenste Bekenntnisse zulässt, christliche ebenso wie jüdische, freikirchliche ebenso wie muslimische. Sie alle und noch viel mehr sollen ihre Gotteshäuser bauen und ihre Rituale pflegen dürfen. Diese Freiheit wiederum impliziert, dass jede Gemeinde und jeder Gläubige das Recht anderer Menschen auf ihren eigenen religiösen Weg anerkennt. Der Christ soll die Synagoge respektieren und der Jude die Moschee. Ist das so? Es ist komplizierter. Wirklich durchgesetzt hat sich die Toleranz nicht. Es gibt immer noch die Idee des wahren Glaubens, für den gekämpft werden müsse - in allen Religionen.
    Religion: Für viele Migranten Politik statt Privatsache
    Der zweite wunde Punkt im Kontext Grundgesetz ist die Gleichberechtigung. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass Männer und Frauen gleiche Rechte haben und feilt an den Ausführungsbestimmungen. Die meisten muslimischen Migranten jedoch sind skeptisch. Sie haben ihre eigene Art des Umgangs und des Verhaltens, dazu gehört, dass die Geschlechter möglichst jeweils unter sich bleiben und die Öffentlichkeit eine Sphäre ist, in der Frauen nichts zu suchen haben. Besonders verzwickt ist die Tatsache, dass das Geschlechterverhältnis und das Nachdenken darüber bei ihnen religiös durchwirkt ist. Auch in der Bibel steht, dass die Frau dem Manne untertan sei. Unter westlichen Christen aber gilt dieses Dogma nicht mehr. Hier hat man umgedacht. Im Koran kann man ebenfalls lesen, dass die Frau dem Manne Gehorsam schulde - und diese Überzeugung ist in der muslimischen Welt noch weit verbreitet, unter Männern ebenso wie unter Frauen. Man hat dort noch nicht konsequent umgedacht. Das Frauenbild vieler Migranten spiegelt eine unterwürfige, wenn nicht gar verhüllte Weiblichkeit. Zwar wird ihnen, wenn sie in Deutschland bleiben wollen, die Akzeptanz der Gleichstellung nahe gelegt - sie können aber nicht so schnell umdenken. Und so stehen sie trotz bester Absichten einigermaßen ratlos vor den ineinander verschlungenen Aufgaben, das Grundgesetz mit dem Postulat der Religionsfreiheit zu achten und die Gleichberechtigung anzuerkennen, obwohl beide Forderungen ihren Überzeugungen zuwider laufen - was nicht für alle gilt, aber für diejenigen, die aus stark traditionsverhafteten Gesellschaften kommen. Die Religion ist bei ihnen keine Privatsache, sondern Politik. Und das Private ist religiös aufgeladen. Kann man unter diesen Umständen darauf vertrauen, dass Integration gelingt - die doch davon abhängt, dass Zuwanderer das Grundgesetz mit seinen beiden Zumutungen: Toleranz und Gleichstellung, bejahen? Oder muss man die Latte tiefer hängen?
    Es gibt keine einfache Antwort, schon gar nicht ein Ja oder Nein. Das Problem mit den großen Worten, vom Grundgesetz über die Gleichberechtigung bis zur Toleranz ist, dass in ihnen etwas Einschüchterndes, ja fast Bedrohliches mitschwingt und dass der erschöpfte Flüchtling, der oft ein schlimmes Schicksal und immer einen weiten Weg hinter sich hat, erst mal wenig mit diesen Vokabeln anfangen kann. Auch der Nachbar mit Migrationshintergrund, der schon lange hier lebt und gut zurechtkommt, möchte sich nicht umerziehen lassen. Die großen Worte riechen nach Vorwurf, nach Verweis, vielleicht gar nach Ablehnung. Sie nageln den Migranten auf seinen Hintergrund fest, sie klingen nicht optimistisch und auch nicht zukunftsträchtig. Das zuständige politische Personal weiß das und reitet deshalb nicht gern auf ihnen herum. Aber da es seinem Wahlvolk verpflichtet ist, nimmt es die großen Worte dann doch in den Mund. Die Menschen sollen wissen, dass Zuwanderer unsere Gesetze zu achten haben, auch Zuwanderer sollen das wissen. Abstrakt-allgemein betrachtet ist man sich meist schnell einig. Aber im Grunde wissen alle Beteiligten, dass es nicht reicht, große Worte in den Raum zu stellen, sondern dass man sie konkretisieren muss. Dass man nicht darum herum kommt, zu den Gesetzen und den Werten, für die sie stehen, so etwas wie Ausführungsbestimmungen zu formulieren. Was fehlt, ist das Kleingedruckte, das Spezielle, das Alltägliche, das Brauchbare. Die großen Worte müssen auf die Lebenspraxis heruntergebrochen und dort in Handlungsmöglichkeiten umgesetzt werden. Und das kann man nicht erschöpfend auf- und vorschreiben. Das kann man nur im wirklichen Leben und von Fall zu Fall erproben, verlangen, prüfen, durchführen, entscheiden. Ganz besonders gilt das für den Begriff Gleichberechtigung.
    Erfahrungen sind besser als Merkblätter
    Beispiel: Ein Flüchtling aus Afghanistan kommt in eine Beratungsstelle und findet dort am Schreibtisch eine Frau vor. Er weigert sich, mit ihr zu sprechen. Der Leiter der Beratungsstelle, der keinen Ärger wünscht, geht und holt einen Mann. Diesen Vorfall hat es wirklich gegeben, wahrscheinlich nicht nur einmal. Man versteht den Leiter. Er hat genug am Hals. Seine Institution ist überlaufen. Er kann jetzt nicht auch noch für die Gleichberechtigung werben. - Kann er nicht? Sollte er vielleicht doch? Ist der kleine Konflikt im Beratungszimmer nicht am Ende eine gute Investition in eine friedliche Zukunft? Der junge Mann aus Afghanistan hätte lernen müssen: In Deutschland sitzen auch Frauen in Beratungsstellen an Schreibtischen. Sie leiten sogar manchmal solche Büros. Und wenn ein Klient nicht bereit ist, eine Frau als Gesprächspartnerin zu akzeptieren, bekommt er keine Beratung. So eine Erfahrung hätte ihm mehr über das große Wort Gleichberechtigung beigebracht als noch so viel Merkblätter und Instruktionen über Leitkultur. Er wäre womöglich erst einmal verstimmt gewesen. Aber wenn er eine vergleichbare Erfahrung beim Sprachkurs oder auf dem Bürgeramt gemacht hätte, wäre er vielleicht bereit umzudenken. Dass Gleichberechtigung etwas Praktisches und Lebendiges ist und kein bloßer Kampfbegriff, diese Einsicht lehrt das Leben, auch wenn sie zu Beginn manchmal bitter ist. Und die Bereitschaft der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, Frauenrechte und Frauenbilder, so wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben, zu verteidigen und zu ihnen zu stehen, zeigt sich deutlich in Situationen wie jener, in der ein Migrant sich nicht von einer Frau beraten lassen will. Da muss das Verlangen des Migranten nach einem männlichen Berater dem kulturellen Standard, der hierzulande herrscht, nachgeordnet werden. Ein solches Signal muss sein. Es gehört in erster Reihe zu einer klugen Politik der Integration.
    Die Schwierigkeit mit der Anerkennung von Gleichberechtigung im Prozess der Integration liegt darin, dass sie nicht nur Frauen den Weg ins Arbeitsleben öffnen und es ihnen erlauben soll, Beraterinnen zu werden, sondern dass sie das Verhältnis von Mann und Frau auch im privaten Raum betrifft, da wo sich der Staat, so heißt es, bitteschön raushalten soll. Das kann er aber nicht immer und er tut es auch nicht. Wir haben in Deutschland ein Familienrecht, das Ehestands-, Scheidungs- und Sorgerechtsfragen regelt und sich immer wieder lebhaft ändert; die Vergewaltigung in der Ehe wurde erst nach langem Tauziehen strafbar. Gleichwohl zucken sowohl Frauenrechtlerinnen als auch Politiker und Verbände, die sich mit der Integration befassen, sofort zurück, wenn sie von Familienkonflikten unter Migranten hören; sie verweisen dann auf Gesetze in ihrer Allgemeinheit und sie helfen und verklagen auch, wenn es Gewaltopfer gibt, aber Sitten und Gebräuche möchten sie ungern antasten. Und das ist verständlich. Was sie aber tun können, ist, Sitten und Gebräuche, so weit sie hierzulande das Verhältnis der Geschlechter regeln, zur Messlatte zu erklären, auch und obwohl sie auch hier noch nicht immer perfekt sind.
    Man muss sich trauen einzugreifen
    Beispiel. Eine Lehrerin, seit Kurzem pensioniert, meldet sich, um Deutschkurse für Ausländer zu geben. Zum ersten Treffen erscheinen 15 Flüchtlinge aus verschiedenen arabischen Ländern, sechs davon Frauen. Beim zweiten Treffen fehlen diese Frauen - bis auf eine, die älter ist und Englisch spricht. Von ihr erfährt die Lehrerin, warum die anderen nicht wieder gekommen sind: Es seien zu viele fremde Männer anwesend. In so einer Umgebung fühlten sie sich nicht wohl, ihre Väter, Brüder und Ehemänner hätten sich auch gegen eine Fortsetzung der Teilnahme ausgesprochen. Mit Hilfe der Englisch kundigen Frau, die für sie dolmetscht, bittet die Lehrerin ihre Schüler inständig, doch dafür zu sorgen, dass ihre Töchter, Schwestern und Ehefrauen wiederkämen - sie garantiere für ein gutes Lernklima. Die Männer schweigen. Die Frauen bleiben weiterhin weg. Die Lehrerin wendet sich an ihren Träger, in diesem Fall die Kommune, und bittet darum, einen zweiten Kurs nur für Frauen anbieten zu dürfen. Nein, sagt die Kommune, Geschlechtersegregation wollen wir nicht unterstützen. Die Lehrerin schüttelt den Kopf. Man muss abwägen, sagt sie. Ist es beim jetzigen Stand der Dinge nicht wichtiger, dass zugewanderte Frauen Deutsch lernen? Anstatt stur zu bleiben in Sachen Geschlechtertrennung? Ein zweiter Kurs wird nicht genehmigt. Die Lehrerin bietet ihn privat an - unbezahlt. Auch diesen Fall hat es wirklich gegeben. Und das Argument der Lehrerin geht so: Wenn die Geschlechtertrennung in jenen Kulturen, aus denen die Flüchtlinge stammen, je gelockert und aufgehoben wird, dann wird die Initiative dazu von Frauen ausgehen, die womöglich in meinem Kurs Deutsch gelernt haben, in einem nicht-genehmigten und nicht-bezahlten Kurs. Sie hat Recht. Man muss den Einzelfall sehen. Leitlinien sind unumgänglich, aber sie hauen nicht immer hin. Man muss schauen, was möglich ist. Und man muss sich trauen einzugreifen.
    Dabei geht es nicht darum, dass emanzipierte Frauen in München, Köln oder Berlin zugewanderten Frauen aus Damaskus, Tunis oder Kabul ihre Lebensweise aufdrängen. Doch es gibt die Möglichkeit, vielleicht sogar die Verpflichtung, eine Lebensweise zu erklären und zu unterstützen, die im sogenannten aufnehmenden Land, also in unserem Kontext: in der Bundesrepublik, selbst noch erst in der Entwicklung ist, die entsprechend fragil und auch immer mal bedroht ist, und dazu gehört die Gleichberechtigung. Wie man weiß, steht sie im Grundgesetz. Aber ihre Umsetzung war ein langer Weg und der ist noch nicht zu Ende gegangen. Frauen mussten von der Nachkriegszeit bis heute vor Gericht ziehen, um vom eigenen Konto bis zur Erlaubnis, beim Militär Dienst zu tun, für ihre Rechte zu kämpfen. Gleichberechtigung hieß erst mal nur, dass dieser Rechtsweg ihnen offen stand, dass ferner die Gesetzgebung aufgerufen war, entsprechende Erweiterungen und Änderungen vorzunehmen. Wir arbeiten immer noch daran.
    Emanzipation ist ein mühsamer Prozess. Sie lässt sich nicht exportieren, sie lässt sich nicht befehlen. Auch Integration ist ein mühsamer Prozess. Sie lässt sich nicht erzwingen, aber sie lässt sich fördern. Wenn Frauen aus dem Orient hierzulande ohne Begleitung nicht auf die Straße oder zum Sprachkurs dürfen, so sollte man es, das scheint Konsens zu sein, ihnen überlassen, daran etwas zu ändern. Aber stimmt das wirklich? Die eben erwähnte Lehrerin sah es nicht so und hat das ihre getan, etwas in Bewegung zu bringen: Sie hat einen Kurs nur für Frauen angeboten und sie hat in diesem Kurs darüber gesprochen, was es heißt, als Frau gleichberechtigt zu sein: Bildung, Ausbildung, eigene Arbeit, eigenes Geld, eigene Lebensplanung. Sie hat die verschiedensten Reaktionen erfahren - keineswegs nur Zuspruch. Ihre Enkelin, Studentin der Philosophie, fand, dass es ihrer Großmutter nicht zustünde, das Frauenbild ihrer meist muslimischen Kursteilnehmer zu kritisieren und ihnen patriarchalische Voreingenommenheit zu unterstellen. Denn die meisten deutschen Männer seien auch nicht besser.
    Gleichberechtigung: Zuerst im eigenen Haus aufräumen
    Dieser Schlussfolgerung begegnet man gerade unter jungen Feministinnen häufig - sie basiert auf einer verqueren Logik. Solange Frauenfeindlichkeit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht endgültig besiegt sei, das implizieren die Stellungnahmen dieser Netzaktivistinnen, dürfe man auf Zuwanderer aus Kulturen, in denen die Abhängigkeit der Frauen normal sei, nicht mit Fingern zeigen. Es gelte, zuerst im eigenen Hause aufzuräumen, und außerdem sei Kritik an Migranten nur Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer Strömungen.
    Der Fehler an diesem Standpunkt ist, dass es gar nicht darum geht, wer sich stärker an den Prinzipien der Gleichberechtigung versündigt: der deutsche Mann, der am Stammtisch gegen das Weibervolk wettert oder der arabische Zuwanderer, der seiner Tochter den Schwimmunterricht untersagt, sondern darum, dass diese beiden Gruppen und noch viele andere hier in Deutschland miteinander auskommen müssen. Und zwar so, dass die Gleichstellung der Geschlechter in der Diskussion ebenso wie in der täglichen Praxis reflektiert, geübt und vorangebracht wird. Dafür ist es wichtig, den Unterschied in Sachen Gleichberechtigung anzuerkennen, der die westliche Welt von den meisten Gesellschaften mit muslimischer Bevölkerung trennt. Die kritischen Feministinnen, die überall nur "das Patriarchat" sehen, in Deutschland ebenso wie im Iran, in Amerika ebenso wie in Ägypten, lassen die großen Fortschritte der Gleichstellung, die während der vergangenen Jahrzehnte im Westen erstritten worden sind, in einem allgemeinen Kulturrelativismus untergehen. Das ist ignorant und bringt uns keinen Schritt weiter.
    Die Angst davor, Rechtspopulisten und Neonazis das Wort zu reden, wenn man das Frauenbild von Migranten hinterfragt, ist ferner kein guter Ratgeber. Denn wer auf Kritik verzichtet, um dem Beifall von der falschen Seite zu entgehen, ist ein Duckmäuser und hilft der falschen Seite sogar, weil er die Gelegenheiten verringert, zu denen er sich in anderen Punkten von ihr abgrenzen kann. Wenn sich die AfD gegen Frauenunterdrückung in Parallelgesellschaften ausspricht, so hat sie damit Recht. Wenn sie daraus den Schluss zieht, dass die Zuwanderer ausgewiesen werden müssen, so hat sie damit Unrecht. So zu diskutieren bringt viel mehr als die Klappe zu halten, damit sich Rechtspopulisten nicht bestätigt fühlen. Keine Kritikerin der Verschleierung bestätigt nur eine Position der Rechten. Sie bestätigt vielmehr eine Position der westlichen, eher linksgerichteten Frauenbewegung und damit den Motor der Gleichstellung in den letzten Jahrzehnten.
    Verschleierung. Ist das nicht Privatsache? Sollte man nicht einer Frau, die es aus ihrer Kultur nicht anders kennt, die Möglichkeit, sich zu verhüllen, einräumen? Nach dem Motto: Das müssen wir in unserer freiheitlichen Gesellschaft aushalten? Gastfreundschaft schließt Toleranz in Bekleidungsfragen unbedingt ein... Wenn es denn mehr nicht wäre! Lange hat man versucht, die Diskussion um die Verhüllung mit Modefragen oder Problemen des Klimas oder der Arbeit in der Landwirtschaft zu vermengen. ‚Meine Großmutter trug auch immer ein Kopftuch', hat so manche großzügige Diskussionsteilnehmerin dazu angemerkt. Aber im Grunde haben wahrscheinlich alle gewusst, dass die scheinbar so private Kleiderordnung, die zugewanderten Frauen vorschreibt oder nahe legt, ein Kopftuch oder eine Burka zu tragen, ein Reflex der Abhängigkeit, um nicht zu sagen: Unterdrückung ist, der Frauen in einer patriarchalischen Gehorsamskultur ausgesetzt sind. Aber man wollte die Debatte, die so sehr ins Privatleben eingreift, nicht vertiefen.
    Die Vollverschleierung: Ein Einspruch gegen die Gleichstellung
    Es ist nun so, dass just die Burka, die zu tragen als eine ganz persönliche Entscheidung gelten kann, den Punkt markiert, an dem das Private ins Politische übergeht. Denn sie ist nicht nur ein Gewand, sondern darüber hinaus ein Zeichen: Seht her, sagt die Trägerin, oder besser: seht nicht her! Denn ich, die Verhüllte, bin eigentlich gar nicht da. Ich weiß, dass mein Platz das Innere des Hauses ist und dass ich in der Öffentlichkeit der Straße nicht in Erscheinung treten sollte. Da ich nun aber doch einkaufen gehen muss, nehme ich mich in die Unkenntlichkeit zurück, und so ist mein Mann, der nicht will, dass fremde Augen mich sehen, so ist mein Vater, der nicht will, dass ich unbegleitet unterwegs bin, so ist Gott, der mich als Frau erschaffen und dem Manne unterstellt hat, zufrieden. Das ist die Botschaft der Burka oder des Niqab oder was es sonst noch für Namen für dieses Kleidungsstück gibt. Was da also vollverschleiert herumläuft, ist nicht nur eine Frau mit ihrer ganz persönlichen Art, sich zu kleiden, sondern zugleich ein Statement, das davon spricht, dass Frauen in der Öffentlichkeit der Straße - zu schweigen von anderen Foren - nicht vorgesehen sind. Dass sie, wenn sie doch vor die Tür müssen, sich entsprechend zurückzunehmen haben. Es ist ein Einspruch gegen die Gleichstellung und zwar ein sehr nachdrücklicher. Und somit hochpolitisch.
    Minister des Inneren Thomas de Maizière hat nun Stellung bezogen. In seine Überlegungen zur deutschen Leitkultur ließ er den Satz einfließen: "Wir sind nicht Burka". Die vermeintlich hippe Formulierung sollte die Message wohl ein wenig entschärfen, also den Zuwanderern klar machen, dass man das alles nicht so eng sehe. Über ein Burka-Verbot wird ja schon seit Langem diskutiert. Die Franzosen haben es erwirkt, der Europäische Gerichtshof hat es nicht kassiert. Sollten wir da mitgehen? Oder doch lieber ein wenig mehr Multikulti zulassen? Die Frage ist offen. Pro und Contra halten sich die Waage. Aber immerhin hat der Innenminister ein klares Wort gesprochen.
    Seine Gegner merken an, dass es nur wenige Burkas in Deutschland gebe, also brauche man doch die Gesetzgebung nicht zu bemühen. Sie behaupten ferner, so ein Verbot sei reine Symbolpolitik, womit sie wohl sagen wollen, dass sich in Wahrheit Ausländerfeindlichkeit dahinter verberge. Beide Argumente taugen nichts. Nur weil eine unerwünschte Erscheinung selten ist, muss man sie nicht zulassen. Die Sache mit der Symbolpolitik ist noch unsinniger. Eine große Anzahl der politischen Schritte, die eine Regierung tut oder die ein Parlament plant, ist symbolischer Natur. Was hat es zum Beispiel mit dem Verbot von Nazi-Abzeichen in der Öffentlichkeit auf sich? Oder mit der Abschaffung eines Paragrafen, der die Beleidigung eines Staatsoberhauptes unter Strafe stellt? Der Mensch ist das Tier, das mit Symbolen kommuniziert. So viel dazu.
    Nicht weniger interessant sind die Begründungen, die de Maizières Position untermauern. Sie schließen im Wesentlichen an die Argumente für das Vermummungsverbot auf Demonstrationen an. Man solle und wolle einander in die Augen sehen, auf der Straße und erst Recht auf dem Bürgeramt, wenn es etwa darum gehe, einen Pass zu beantragen. Der freie Blick ins Angesicht des anderen sei hier im Westen üblich. Die Verhüllung erscheint mithin als eine Art Geheimnistuerei, die nicht ins Land passe - so oder so ähnlich laufen die Argumentationslinien pro Verbot. Hat sich mal jemand die Mühe gemacht, die Verhüllung historisch und geschlechterpolitisch zu interpretieren und herauszuarbeiten, dass sie der Gleichstellung widerspricht? Und damit nichts weniger ist als ein Schlag ins Gesicht aller Frauen, die sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich, journalistisch, künstlerisch oder politisch mit den noch längst nicht zu Ende gedachten Fragen der Frauenemanzipation auseinandersetzen? Die sich vor über 200 Jahren das auch ihnen einst verwehrte Recht, allein herumzulaufen, erstritten und genommen haben? Bei uns schaut man einander an, sagt der Minister zu den Migranten. Das klingt so, als müssten auch männliche Muslime sich verschleiern. Als ginge es bei der Ganzkörperverhüllung bzw. deren Kritik um eine Spielart von Aufrichtigkeit und nicht einzig und allein darum, Frauen ihren Platz zuzuweisen und ihre Nachrangigkeit zu bestätigen. Im Grunde weiß wohl jeder, dass es das ist, was es mit der Burka auf sich hat. Warum sagt man es dann nicht? Warum eiert man herum und spricht über Teilverbote, so etwa im Zeugenstand oder bei Ausweiskontrollen? Warum werden wir in der Bundesrepublik nicht deutlich und entschließen uns wegen eines Verstoßes gegen das Prinzip der Gleichstellung zu einem Verbot? Das wäre doch eine gute Idee, wenn es stimmt, das die Integration diese Hürde nehmen muss: Anerkennung des Grundgesetzes mit all seinen großartigen Artikeln, einschließlich desjenigen, der die Gleichberechtigung garantiert?
    Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee: ein möglicher Meilenstein?
    Ein Problem ist, dass die Nicht-Sichtbarmachung der Frau auf der Straße religiös begründet werden kann. Das ist so, es gilt auch fürs Kopftuch - obwohl etliche gescheite Islamwissenschaftler schon erläutert haben, dass der Koran eine Verhüllung von Frauen gar nicht fordert. Aber selbst, wenn es so wäre: Eine Religion, die auf solche Weise politisch wird, dass sie die Freiheit der Frauen einschränkt und damit der Gleichstellung widerspricht, müsste nach der praktischen Seite von der deutschen Politik ins Gebet genommen werden: dass es hier einen Widerspruch gebe, eine Kollision, eine Unverträglichkeit. Aber das geschieht nicht. Die Furcht davor, religiöse Überzeugungen, familienkulturelle Traditionen und die Frauenbilder der Migranten in Frage zu stellen, sitzt zu tief. Es ist ja auch eine schwierige Situation. Denn Respekt vor den Sitten und Gebräuchen Fremder war und ist in Geschichte und Gegenwart immer wichtig. Der Respekt vor den eigenen Werten ist aber genauso wichtig. Und wenn es zu einem Zusammenstoß kommt, muss man eine Güterabwägung vornehmen und sehen, wo man im Einzelfall einlenken muss und wo man das auf keinen Fall tun darf. Was die Freiheit der Frauen betrifft, ihren eigenen Weg zu gehen, so ist die Bereitschaft der hiesigen Integrationspolitik, daraus ein großes, wichtiges Thema zu machen, an dem sich die Geister scheiden, nicht ausgeprägt.
    Für die Integration ist es aber nicht nur entscheidend, dass Zuzügler verstehen, was das Grundgesetz ist. Es ist ebenso relevant, dass sie ein Land erleben, das seine Geschichte und seine Errungenschaften in Bezug auf Toleranz und Gleichberechtigung hoch schätzt und verlangt, dass diese Werte anerkannt - und schließlich geteilt werden. Auch wenn es seine Zeit dauert - man darf nicht aufhören, diese Forderung nach Anerkennung immer wieder im wirklichen Leben, konkret und hier und heute, zu erheben. Sonst kommt es zu Parallelgesellschaften mit all den unerwünschten Folgen. Und die Integration scheitert. Ein Ort, wo Integration auf beispielhafte Weise vorangebracht werden kann, ist die Moabiter Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. Die ist deshalb ein möglicher Meilenstein, weil sie so Vieles bündelt: die religiöse Toleranz und die Gleichberechtigung, die "Weltkirche" und die weibliche Priesterschaft. Das ist wirklich viel - vielleicht zu viel? Die Fatwa aus Kairo führte als wichtige Begründung für ihre Verurteilung dieser Moschee an, dass Frauen in ihr das Wort ergreifen sollen. Weibliche Vorbeter, so heißt es, dürfe es niemals geben. Womöglich wird das kühne Experiment zwischen all seinen Gegnern zerrieben und aufgegeben werden. Dann bleibt nur sein Symbolcharakter übrig. Aber auch der ist viel wert.