Das Büro der Frauenorganisation Roza in Zrenjanin liegt in einer ruhigen Passage, nicht weit entfernt von der Fußgängerzone. Vor der Tür steht Milica Lupšor, zusammen mit zwei jungen Volontärinnen, und raucht. Die Unterhaltung dreht sich um die Zahlen zum neuen serbischen Durchschnittseinkommen, die gerade veröffentlicht wurden. Es soll 2019 bei etwa 500 Euro gelegen haben.
Milica Lupšor kann da nur spöttisch lachen. "Ich kenne vielleicht zwei, drei Leute, die das bekommen. Die meisten verdienen 200 bis 250 Euro im Monat, was dem Mindestlohn entspricht. Und viele bekommen sogar noch weniger. Wir wissen, dass Frauen in einigen Firmen 12.000 Dinar verdienen, das ist weniger als 100 Euro monatlich."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Serbien - Arbeiten im Billiglohnland.
Die Durchschnittszahlen, sagt Milica Lupšor, ergeben ein völlig falsches Bild von der Situation, in der die meisten Menschen leben. Und das gelte auch für angeblich ständig sinkende Arbeitslosenzahlen, die dazu noch künstlich niedrig gerechnet würden. "Ich kenne niemanden, der arbeitslos ist und bei der Arbeitsagentur gemeldet wäre. Selbst wenn man nur eine Stunde arbeitet, egal ob man ein Gehalt bekommt oder vielleicht nur ein Stück Brot, ist man offiziell nicht mehr arbeitslos. Bei einer Stunde wöchentlicher Arbeit."
Roza setzt sich für die Rechte von Frauen ein
Milica Lupšor weiß, wovon sie spricht. Sie ist 56 Jahre alt. Und nur neun Jahre ihres Arbeitslebens hat sie einen regulären Arbeitsvertrag gehabt. "Ich habe alles gemacht, um mir und meiner Familie die Existenz zu sichern: geputzt, auf Kinder aufgepasst, als Saisonarbeiterin auf dem Feld gearbeitet und in Restaurants - und das alles natürlich schwarz und ohne Krankenversicherung. Es war sehr schwer, aber immer mehr von uns arbeiten unter solchen prekären Bedingungen. Und die Gewerkschaften sind sich dieses Problems fast überhaupt nicht bewusst."
Und deshalb, und weil es insbesondere Frauen trifft, hat sie Roza gegründet: eine kleine Organisation, die sich für die Rechte von Arbeiterinnen einsetzt. Das Büro ist ein kleiner Raum, direkt hinter der Tür. Es gibt einen Tisch für Besprechungen, einen Laptop und ein Kopiergerät. "Als wir uns gegründet haben, sind wir von unseren persönlichen Geschichten ausgegangen, von dem, was uns selbst passiert ist."
Akkordarbeit und unbezahlte Überstunden
Milica Lupšor legt ein kleines Büchlein auf den Tisch. "Und dann wollten wir auch andere Frauen ermutigen, dass auch sie ihre Geschichte erzählen. Wir haben eine Publikation gemacht mit dem Titel "Frauen erzählen". Da sind einige der Geschichten enthalten, die wir in ganz Serbien gesammelt haben." Die Sammlung gibt einen erschütternden Einblick in die Erfahrungen von Frauen in der serbischen Arbeitswelt. Von Mobbing, Diskriminierung und Rechtlosigkeit ist die Rede. Von unbezahlten Überstunden, und anstrengendster Akkordarbeit. Von Gehältern, die weit unter dem offiziellen Mindestlohn liegen und niemals zum Leben reichen.
"Alle Bereiche, in denen besonders schlecht bezahlt wird, sind Domänen der Frauen. In der Textilindustrie ist am schlimmsten: Die Frauen bekommen dort praktisch nur den Mindestlohn und oft noch nicht einmal das. Die ersten Arbeiterinnen, die sich an uns gewendet hatten, wurden während der Arbeit eingesperrt - im Sommer waren sie ohne Klimaanlage bei 40 Grad Innentemperatur, und im Winter hatten sie keine Heizung. Und als sie sich beschwert haben, sind sie gefeuert worden. Alle ihre Sachen, die sie im Schrank hatten, sind auf die Straße geworfen worden."
Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist heute überwiegend in der Hand von ausländischen Investoren. 2016 sorgten Berichte über die Zustände beim italienischen Schuhfabrikanten Geox für große Empörung. Arbeiterinnen sollten Windeln benutzen, um nicht die Toilette aufsuchen zu müssen. Am schwierigsten ist die Situation in Südserbien. Die Region ist so arm, die Arbeitslosigkeit so hoch, dass die Frauen alles bereitwillig hinnehmen, um ihren Arbeitsplatz zu behalten.
"Die furchtbarste Geschichte, die ich von dort gehört habe, ist von einer Frau, die zwei Jahre lang in einer Bäckerei gearbeitet hat. Sie hatte keinen einzigen freien Tag, selbst am 1. Januar nicht. Und sie bekam dafür 50 Euro Monatslohn und täglich einen Laib Brot. Und wenn alles verkauft wurde, dann bekam sie noch nicht einmal das Brot. Dann wurde sie krank, was normal ist bei solchen Arbeitsbedingungen - und ihr wurde gekündigt."
Zusammenarbeit mit Gewerkschaften soll intensiviert werden
Damit diese Geschichten noch mehr Menschen erreichen, haben die Frauen von Roza ein Bühnenprogramm entwickelt. Im Februar waren sie in Kragujevac. Milica Lupšor klappt den Computer auf. Vier Frauen standen dort auf der Bühne, drei weitere Geschichten wurden als Video eingespielt.
"Oft hören wir von den Frauen, ja, das ist so in meiner Fabrik. Nein, ist es nicht! Das passiert in allen Städten, Deshalb haben wir dieses Programm entwickelt. Letztes Jahr waren wir damit in zehn verschiedenen Städten. Und die Reaktionen waren im Wesentlichen: Herzlichen Glückwunsch - aber was sollten wir tun?"
Die Gretchenfrage. Roza bietet Beratungen an, damit sich Frauen juristisch zu Wehr setzen können. Für dieses Jahr soll die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften intensiviert werden. Aber das reicht alles nicht, sagt Milica Lupšor ungeduldig, die trotz eines langen Arbeitstags kein bisschen müde wirkt.
"Wir wollen eigentlich größere Veränderungen: dass jede Frau für ein würdevolles Gehalt arbeiten kann unter würdevollen Bedingungen. Davon sind wir mehr denn je weit entfernt. Ich habe den Eindruck, dass wir uns alles, was wir im 20. Jahrhundert schon einmal erreicht haben, neu erkämpfen müssen. Und wir müssen diesen Kampf führen, gemeinsam. Alleine geht es nicht."