Die Taliban sind zurück an der Macht. Suraya Pakzad erinnert sich noch genau an ihren ersten Gedanken, als sie diese Nachricht im August 2021 hörte: "Es war ein Schock. Ich war darauf nicht vorbereitet. Niemand in Afghanistan war auf diese Nachrichten vorbereitet. Aber für Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten begann eine Tragödie. Speziell Frauenrechtlerinnen ging es wirklich elend. Sie fühlten sich verzweifelt und hoffnungslos angesichts der Umstände, denn sie wussten nicht, wie sie sich selbst, ihre Familie und ihre Privatsphäre schützen könnten. Alles war in Gefahr."
Suraya Pakzad benutzt das Wort "Ich" selten, obwohl sie allen Grund hätte, von sich zu sprechen. Sie selbst war in diesem Moment in besonders großer Gefahr. Die Frau aus Herat ist die bekannteste Frauenrechtlerin Afghanistans. 1998, als die Taliban schon einmal herrschten, begann sie, im Verborgenen Schulen für Mädchen aufzubauen. 2001, als die Taliban nicht mehr regierten, gründete sie offiziell "Voice of Women", die erste Frauenrechtsorganisation im – wie man damals glaubte – neuen Afghanistan.
2008 würdigte die damalige US-Außenministerin Condoleeza Rice das Engagement Pakzads mit dem Internationalen Preis für Frauen mit besonderem Mut. Das "Time"-Magazine zählte sie 2009 zu den 100 einflussreichten Menschen der Welt, Newsweek kürte die Afghanin zu den 150 Frauen, die die Welt bewegen.
"Ich bin der deutschen Regierung dankbar"
In jenen August-Tagen dieses Jahres fühlte sich die vielfach ausgezeichnete Aktivistin machtlos. Am 9. August verließ sie ihre Heimatstadt Herat und floh nach Kabul - wie so viele in der Hoffnung, von dort aus in Sicherheit gebracht zu werden. Und wie so viele machte sich Suraya Pakzad auf zum Flughafen. Drei Tage lang versuchte sie vergeblich, einen der Flüge in die Freiheit zu bekommen.
Sie erzählt: "Am vierten Tag passierte etwas Magisches. Ich stand wieder lange Zeit vor dem Flughafengate. Sie setzten Tränengas ein. Es war eine gefährliche Situation in der Menschenmenge. Dann bekam ich die Information, dass ich Zugang zu einem Gate haben kann. Und ich kam tatsächlich in den Flughafen, wir wurden tatsächlich evakuiert. Ich bin der deutschen Regierung so dankbar, dass sie die Menschenrechte unterstützt – und auch speziell in meinem Fall."
Am 20. August verließ sie Afghanistan. Sie lebt nun in einer deutschen Großstadt und bangt um ihre Mitarbeiterinnen, die nicht evakuiert wurden. Suraya Pakzad und ihre Organisation "Voice of Women" haben in den vergangenen 20 Jahren Schulen für Mädchen aufgebaut, Programme für Existenzgründerinnen entwickelt und weibliche Führungskräfte fortgebildet. "Voice of Women" sprach außerdem ein Tabu-Thema im Afghanistan an: Gewalt in der Ehe. Sie richteten Frauenhäuser ein, gaben den Betroffenen ein Obdach und darüber hinaus medizinische, juristische und psychologische Hilfe.
Schikane und Willkür
Mädchenbildung und Frauenhäuser gelten im Taliban-Regime als Inbegriffe der Unmoral. Mehr noch: Wer dafür kämpft, wird als Feindin identifiziert. Suraya Pakzad berichtet von Schikanen und Willkür gegen Gleichgesinnte.
"Haus für Haus wird durchsucht. Aktivistinnen und Aktivisten können sich nicht mehr verstecken. Sie werden unter dem Vorwand, dass jemand sich über sie beschwert hat, bei der Polizei vorgeladen. Wenn man der Vorladung folgt, wird man verhaftet. Folgt man ihr nicht, wird man abgeholt und alle Nachbarn sehen das. Das ist eine schlimme Situation. Ich suche Menschen in Deutschland, die unsere Mitarbeiterinnen aus dieser gefährlichen Lage herausholen können. Täglich bekomme ich verzweifelte Nachrichten: 'Bitte lass uns wissen, wie wir aus dieser Situation herauskommen können und wie wir die Leben unsere Familienmitglieder schützen können, indem wir ihnen helfen, Afghanistan zu verlassen.'"
Wir sprechen auch darüber, ob sie durch dieses Interview mit dem Deutschlandfunk sich und andere in Gefahr bringt. Suraya Pakzad verneint. "Ich bin so glücklich, dass ich jetzt sicher bin. Aber ich muss sehr vorsichtig sein."
"Todesdrohungen gegen mich und meine Kinder"
Es sei wichtig, sich nicht einschüchtern zu lassen. Gerade jetzt, da das mediale Interesse an Afghanistan abflaut. Ans Vorsichtigseinmüssen ist sie gewöhnt: "Vor zehn Jahren bekam ich Todesdrohungen, gegen mich und meine Kinder. Durch meine Kinder war ich besonders verwundbar. Sie hätten entführt werden können. Mich selbst konnte ich schützen, ich habe meine Wege zur Arbeit ständig verändert, die Zeit variiert und von zu Hause aus gearbeitet. Aber die Kinder konnten das nicht, sie mussten in die Schule und sie mussten sich an den Stundenplan halten. Das wurde viel zu gefährlich. Ich musste dafür sorgen, dass sie nach und nach Afghanistan verlassen konnten."
Sechs Kinder hat Suraya Pakzad, nur ein Sohn war noch bis zur Evakuierung mit in Afghanstan. Sie selbst ist das neunte von 15 Kindern. Sie habe in der Erziehung darauf geachtet, dass die Töchter dieselben Chancen bekämen wie die Söhne. Ihre eigenen Eltern hätten darauf auch Wert gelegt, erzählt sie.
"Mein Vater hat nie Unterricht zum Thema Gleichberechtigung oder Frauenrechte besucht. Aber er war sehr fürsorglich zu all seinen Kindern. Er kümmerte sich darum, dass auch seine Töchter eine gute Bildung bekamen. Er unterstützte uns. Wir lernten, dass man über Mädchenbildung und Gleichberechtigung nicht nur etwas lesen sollte. Man muss daran glauben."
"Die Kriegskultur wirkt sich schlimm auf die Frauenrechte aus, nicht der Islam ist das Problem"
Der Glaube an Gleichberechtigung änderte nichts daran, dass sie selbst mit 14 Jahren zwangsverheiratet wurde. Das war in den 80er-Jahren - ein Jahrzehnt, in dem Afghanistan einerseits zum Schauplatz des alten, kalten Krieges wurde – Ost gegen West – und ein Jahrzehnt, in dem islamistische Krieger zu internationalen Akteuren wurden. Die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert, um die Regierung zu stützen gegen die Angriffe der Mudschaheddin. Der Krieg dauerte zehn Jahre und endete ohne Sieger. Afghanistan versank in einem Bürgerkrieg, den Mitte der 90er-Jahre die Taliban für sich entschieden.
Suraya Pakzad besuchte trotz der frühen Eheschließung eine Universität. Ihr Mann unterstützt sie. 1990 machte sie in Kabul einen Abschluss in Literatur. Weder der Islam noch die Kultur ihres Landes seien für die Unterdrückung der Frauen verantwortlich, sagt die Muslimin. Es sei die Kriegskultur, die Frauen zurückgedrängt habe.
"Afghanistan hat eine komplizierte Geschichte. Wenn man zurückblickt ins Jahr 1985 – die Zeit der Sowjetischen Invasion – da hatten Frauen noch dieselben Möglichkeiten wie Männer. Es gab sogar Busfahrerinnen! Wir waren auch damals schon Muslime. Wir hatten dieselbe Kultur. Das heißt: Der Grund liegt nicht in der Religion, nicht in der Kultur. Es ist die Kriegskultur, die sich so schlimm auf die Frauenrechte ausgewirkt hat. Wir waren vor 40 Jahren Muslime, wir sind immer noch Muslime. Aus meiner Sicht ist nicht der Islam das Problem, aber er wird politisch genutzt, um Frauen fernzuhalten und ihnen den Zugang zu Bildung zu verwehren."
"Meine Mutter hatte in den 1970er-Jahren mehr Freiheit als ich sie bis vor Monaten hatte"
Jenes Afghanistan der 1960er- und 70er-Jahre, in dem Frauen studieren und zumindest in den Städten ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit auftreten durften, kennt Suraya Pakzad nur von alten Fotos und aus den Erzählungen ihrer Mutter. Den Stand von damals habe die Gleichberechtigung nicht mehr erreicht, auch nicht nach 2001, als die Taliban besiegt schienen.
"Meine Mutter hatte in den 1970er-Jahren mehr Freiheit, als ich sie bis vor ein, zwei Monaten in Afghanistan hatte. Als sie jung war, war das Kopftuch nicht verpflichtend, es war freiwillig. Bei Hochzeitsfesten zum Beispiel durften Frauen und Männern zusammen feiern. Das änderte sich danach. Es ging zurück. Nur in der Hauptstadt konnte man vor dem August dieses Jahres ab und an gemischte Hochzeitsfeiern sehen, in der Provinz waren diese Feiern nach Geschlechtern getrennt. Verglichen mit der Situation der 1970er war das weniger Freiheit. In den vergangenen 20 Jahren, als die internationale Gemeinschaft sich in Afghanistan einschaltet, wurde es zwar besser für Frauen, aber jetzt sind wir wieder auf dem Stand von 1996."
Die Homepage ihrer Organisation "Voice of Women" ist noch online. Das Kapitel mit den Informationen zur Gründerin fehlt. Die erste Seite zeigt ein Foto mit acht Frauen, alle tragen Kopftuch. Auch Suraya Pakzad zeigt ihre Haare öffentlich nicht unbedeckt.
Warum sie ein Kopftuch trägt
"In Afghanistan habe ich ein Kopftuch getragen, denn das bringt einer Frau Respekt ein. Wenn du kein Kopftuch trägst, dann zeigen sie mit dem Finger auf dich, sie verbreiten Bilder von dir in den sozialen Medien, beleidigen dich. Verknüpfen das mit der Aussage: Du bist keine gute Frau. Für die Arbeit, die ich mache, war es wichtig, ein Kopftuch zu tragen. Es setzt mich nicht in meiner Würde herab, und eröffnet Möglichkeiten für die jungen Frauen, die meinem Weg folgen. Sie bekommen eher die Erlaubnis ihrer Familie, sich für Menschenreichte einzusetzen, wenn sie ein Kopftuch tragen. Ich möchte nicht, dass Menschenrechtsaktivistin gleichbedeutend damit sein soll, dass die Frau kein Kopftuch trägt. Wir können Kopftuch tragen UND für Frauenrechte einstehen, wir können Kopftuch tragen UND unsere Stimmen erheben, die Frauen unterstützen, ihnen helfen, Möglichkeiten für sie schaffen. Wir können ihre Stimme sein."
Auch in Deutschland behält sie das Kopftuch an - aus Vertrautheit und aus Solidarität mit all den Frauen in ihrer Heimat, die anders als sie jetzt keine Wahl haben. "Wenn du jetzt rausgehst ohne Kopftuch, wirst du getötet, wirst du bestraft. Dann kommst du in eine schwierige Situation", sagt sie.
Erfolgsfrau, nicht Bittstellerin
Zu Deutschland hat Suraya Pakzad eine besondere Verbindung. Die Astraia Stiftung, eine Gründung der Hamburger Unternehmerin und Beraterin Kerstin Plehwe, unterstützt ihre Arbeit seit zehn Jahren. Im März 2019, zum Weltfrauentag, wurde daraus die Voice of Women Foundation, deren Vorstand Suraya Pakzad angehört.
"Female Leadership" hat Kerstin Plehwes ihr Buch genannt, es ist eine Porträtsammlung, Menschenrechtsaktivistinnen erscheinen darin nicht als Bittstellerinnen, sie werden als Erfolgsfrauen porträtiert, von denen die Welt lernen kann.
Suraya Pakzad hofft auf die Solidarität deutscher Feministinnen. Ein Teil der feministischen Szene sieht im Kopftuch eine Kapitulation vor dem politischen Islam und nicht – wie die Afghanin und ihre Mitstreiterinnen – die Chance, auch traditionelle Milieus zu erreichen. Seitens der deutschen Regierung wünscht sich Pakzad politischen Druck auf die Taliban.
"Solidarität ist nötig. Wir brauchen nicht nur Evakuierungen, sondern auch Unterstützung im Land. Kinder verhungern, Frauen verlieren ihre Arbeit, es gibt eine Million Witwen, auch sie haben Kinder. Auch sie brauchen Hilfe, sie brauchen eine Möglichkeit, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Ich rufe alle Menschenrechtsaktivistinnen, alle Feministinnen in Deutschland auf, Wege zu finden, um diese Frauen zu unterstützen, Frauenbildung zu ermöglichen und diejenigen, die in Gefahr sind, herauszuholen."
"Bildung ist der Schlüssel"
Auch Männer hätten unter den Taliban zu leiden, sagt die Aktivistin. Aber die Lage der Mädchen und Frauen sei hoffnungslos, wenn sich die Geschichte von 1996 bis 2001 wiederhole. Jene Mädchen, die 1996 die Schule verlassen mussten, konnten daran fünf Jahre später nicht wieder anknüpfen. Suraya Pakzad befürchtet wieder eine verlorene Generation geben könnte und mahnt.
"Bildung ist der Schlüssel für eine hellere Zukunft. Wenn sie diese Gelegenheit verpassen, wird ihre Zukunft düster sein. Wie können wir über Demokratie sprechen, wie über Menschenrechte, wenn Frauen missachtet werden?"