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Freedom Day in England
Gefährliche Freiheit ohne Lockdown

England beendet alle Lockdown-Maßnahmen. Doch zum Feiern ist angesichts galoppierender Corona-Zahlen immer weniger Briten zumute - aus Angst, dass die Regierung ihre Wette gegen das Virus verliert. Kritiker werfen Premierminister Johnson eine hochriskante und falsche Corona-Strategie vor.

Von Christine Heuer |
Junge Menschen in einem Londoner Nachtclub
Für die Nacht des Freedom Day sind zahlreiche Party geplant - doch viele Briten ziehen sich aus Sorge vor Ansteckung aus dem öffentlichen Leben zurück (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Alberto Pezzali)
"I’ve been pinged." - Nun also auch der Premierminister: Wie bei mehr als 500.000 weiteren Briten in nur einer Woche hat bei Boris Johnson die Corona-Warn-App angeschlagen. Die Pings, die Warnmeldungen, explodieren parallel zu den Fallzahlen im Vereinigten Königreich, es ist die reinste "Pingdemic". Wer gewarnt wird, muss für zehn Tage in Isolation.
Boris Johnson und Finanzminister Rishi Sunak wurden nach einer Sitzung mit dem frisch erkrankten Gesundheitsminister von der App angemorst. Anders als "Otto-Normalbrite" wollten sie sich aber lieber täglich testen, als in Quarantäne zu gehen. Früh am Sonntagmorgen verkündeten sie, dies sei ein Pilotverfahren und an dem würden sie teilnehmen. Es folgte ein Sturm der Entrüstung. Twitter-User schimpften, die Mächtigen wollten sich wieder mal eine Extrawurst braten. Nach exakt zwei Stunden und 38 Minuten legte Johnson eine Kehrtwende hin:
"Wir haben kurz die Möglichkeit erwogen, an dem Pilotverfahren teilzunehmen. Aber es ist viel wichtiger, dass jeder sich an dieselben Regeln hält. Deshalb werde ich bis zum 26. Juli in Isolation gehen."

Ende des Lockdowns trotz hoher Fallzahlen

Es war kein guter Tag für den Regierungschef. Und er verhagelt ihm wohl endgültig den Freedom Day, den er heute gern gefeiert hätte. Ursprünglich wollte Johnson vor historischer Kulisse den Sieg über die Pandemie verkünden. Mit Anklängen an den Victory Day und sein großes Vorbild Winston Churchill. Nun sitzt der Premier auf seinem Landsitz Chequers fest. Und muss wohl über Zoom das Ende aller Lockdown-Pflichten verkünden: kein Abstand mehr, keine Masken, kein Limit für Massen-Events, Pubs, Theater und Nachtclubs, keine Aufforderung mehr, von zu Hause zu arbeiten. Und das bei derzeit um die 50.000 neuen Fällen jeden Tag. Bald werden es 100.000, am Ende vielleicht sogar 200.000 sein.
Die Engländer, lange in freudiger Erwartung, beschleicht mittlerweile ein mulmiges Gefühl. Selbst die Regierung klingt nicht mehr sehr euphorisch. Denn wenn es so kommt, dann verliert sie ihre Wette gegen das Virus. Dann kollabiert das Gesundheitssystem doch noch. Und das Risiko impfresistenter Varianten wächst. 100 international renommierte Forscher nennen Boris Johnsons Corona-Politik inzwischen eine "Bedrohung für die Welt".

Angst vor Ansteckung

In Großbritannien kämpfen derweil Geschäfte und Gastronomie ums Überleben. Der Freedom Day verbessert ihre Lage nicht etwa, er macht sie schlimmer. Sie brauchen mehr Arbeitskräfte als im Lockdown, aber weil immer mehr krank oder von der Warn-App aufgefordert werden, zu Hause zu bleiben, melden sich Zigtausende krank. Viele, die es sich leisten können, ziehen sich freiwillig aus dem öffentlichen Leben zurück. Aus Angst vor Ansteckung, etwa in überfüllten Bussen und Bahnen.
Nicht erst seit den Szenen von hemmungslos feiernden Fußball-Fans bei der Europameisterschaft vertrauen sie lieber nicht auf das Verantwortungsbewusstsein aller Mitbürger. An genau das aber appelliert Boris Johnson: Denn jetzt, wo die Regeln wegfallen, ist jeder allein dafür zuständig, sich und andere vor Corona zu schützen: "Bitte, bitte seid vorsichtig. Geht mit Klugheit und Respekt vor anderen in die Freiheit. Und vor allem: Bitte lasst Euch impfen."
[Anm. d. Red:] In Titel und Vorspann haben wir die Länderangabe korrigiert.

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