Über Jahrzehnte haben Sportmediziner der Universität Freiburg Spitzensportlerinnen und Spitzensportler aus unterschiedlichen Sportarten gedopt. Der organisierte Sport, die Politik, die beteiligte Wissenschaft haben dieses System gedeckt und zum Teil auch die Aufklärung behindert. Auch die beteiligten Sportlerinnen und Sportler dürften in den meisten Fällen gewusst haben, was sie tun. Wie geht das zusammen mit dem Anspruch von Mündigkeit von Athletinnen und Athleten? Für den Sportpädagogen und -philosophen Timo Stiller von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd ist das ein Widerspruch.
Doping sei ein Mittel, den Sieg planbar und verfügbar zu machen, erklärte Stiller im Deutschlandfunk. Das Problem dabei sei jedoch: "Sobald diese Verfügbarkeit eingetreten ist, wird es langweilig. Und der Sport ist im Grunde das letzte Biotop, wo die Unverfügbarkeit Teil des Systems ist. Und sobald ich jetzt diese Unverfügbarkeit planbar werden lasse, bricht das System zusammen."
Denn je planbarer der Sport werde, desto mehr schaffe er sich ab, sagte Stiller. "Weil ja schon kleine Kinder lernen: Wenn ich weiß, ich verliere, spiele ich nicht mit." Es braucht die Unverfügbarkeit, die Offenheit des sportlichen Wettstreits, damit der Sportwettkampf auf Resonanz stößt.
"Wozu brauchen wir den Spitzensport?"
Doping hinterläuft dieses Prinzip, auch wenn scheinbar wieder gleiche Voraussetzung geschaffen würden. Es stecke aber der Wunsch nach Planbarkeit von Erfolgen dahinter. "Genau deswegen müssen wir ja als Gesellschaft endlich diese entscheidende Frage stellen: Wozu brauchen wir den Spitzensport und wozu wollen wir den Spitzensport?"
Nur, was passiert, wenn dann Erfolge ausbleiben? Und das Mitfiebern der Zuschauenden mit den eigenen Landsleuten keine Protagonisten mehr hat? Für Zuschauerinnen und Zuschauer gehe es in letzter Linie immer um Identifikation, sagt Sportpädagoge Stiller. "Und deswegen will ich den Spitzensport nicht abschaffen, sondern ich will im Grunde den unpersonalisierten Spitzensport abschaffen. Und er wird dann unpersonalisiert, wenn nur das Ergebnis zählt. Und er wird personalisiert, wenn der Mensch im Mittelpunkt steht. Und dann wird es sehr interessant, denn dann zählt sogar die Niederlage. Wenn diese mit der größten Mühe erbracht wurde oder toleriert werden musste, dann betrachten wir diesen mündigen Verlierer wesentlich höher als den unmündigen Sieger."
Das zeige sich unter anderem im Profifußball. "In dem professionellsten und pervertiertesten System offenbart sich diese Gegenüberstellung, dass wir nur im Fußball beispielsweise das Schimpfwort des 'Erfolgsfans' haben, der dann wiederum keiner ist, den wir haben wollen. Sondern wir wollen denjenigen haben, der die Leidenschaft hat, selbst in der Niederlage zu einem Verein zu stehen, wenn der Verein, wenn die Spieler gekämpft haben."
Entwicklung von Persönlichkeiten als Ziel von Förderung
Das Ziel der öffentlichen Förderung von Spitzensport solle deshalb nicht mehr die Zahl der Medaillen sein, sondern die Entwicklung von Persönlichkeiten, die Vorbildcharakter haben. "Sind wir doch mal ehrlich: Der, mit dem wir am meisten mitfiebern ist der, der die meiste Mühe aufbringt und das auch noch uns zu verstehen gibt. Die Leidenschaft können wir nicht erklärt bekommen, aber wir verstehen, was da möglicherweise passiert. Also es ist der Unterschied zwischen dem, was wir an Leidenschaft verstehen und dem, was wir erklärt bekommen. Und da kommen wir nicht mehr weiter. Wir brauchen endlich ein Verständnis dafür, was die Leidenschaft dieser Sportler ausmacht."
Wäre ein Sportfördersystem auf dieses Verständnis ausgerichtet und nicht auf Ergebnisse würde ein System wie in der Freiburger Sportmedizin implodieren, so Stiller. "Es implodiert ja schon, wenn einzelne Sportler ihre Mündigkeit ernst nehmen. Als Max Hartung beispielsweise im Aktuellen Sportstudio gesagt hat, er fährt nicht zu Olympischen Spielen in der Corona-Pandemie, haben alle noch herumgeeiert. Er hat seine Mündiugkeit wahrgenommen. Und das, was ich von Sportlern verlange, ist eine Haltung. Und zwar eine Haltung zum Fairplay. Und wenn sie die aufgeben, dann ist logischerweise das System kaputt."