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Freie Enzyklopädie?

Das Online-Lexikon Wikipedia wurde zu Anfang als eine für alle zugängliche Wissensfundgrube gefeiert. Dessen Autoren sollen nun aber nach Bestreben der Wikipedia-Betreiber weitergehende Nutzungsrechte an den Texten einräumen. Droht hier eine Kommerzialisierung von Wikipedia?

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Es gehört zu den Strukturmythen des Internets, dass man immer wieder morgen etwas völlig Neues erwartet. Denn wahrhaftig, das Internet hat uns die Unabsehbarkeit des technischen Fortschritts in den relativ wenigen Jahren seiner Existenz drastisch vor Augen geführt. Fast jeder, der heute täglich im Netz unterwegs ist und all die Kommunikations-, Recherche- und Unterhaltungsmöglichkeiten, die es bietet, wie selbstverständlich nutzt, kann sich noch an eine Zeit erinnern, als es das Ganze noch nicht gab. Das führt zu einer Art verschärfter Zeitgenossenschaft und in der Folge zu einer lodernden Vorstellung vom nächsten bevorstehenden Umsturz – zumindest auf technologischem Gebiet.

    So erklärt sich – zumindest teilweise – der prophetische Eifer, mit dem die meisten Debatten über die künftige Entwicklung des Internets geführt werden. Und so erklärt sich der Aufstieg regelrechter Web-Philosophen, die zwar mit Irokesenfrisur und schrillem Benehmen auf Millionen Fachkongressen für salbungsvolles Staunen sorgen, aber natürlich auch nicht wissen, was auf die Welt zukommt. Bloß dass die Internet-Revolution weitergeht, das ist sicher: Web 2.0, Twitter oder Google Büchersuche sind Chiffren für diese Erwartung.

    Vor diesem Hintergrund ist auch die aktuelle Aufgeregtheit in Sachen Urheberrecht zu verstehen. Die Digitalisierung der Bibliotheken, ihre Erschließung durch Google, die Verbreitung und Archivierung von Zeitungsartikeln sowie die Vergemeinschaftung von Musik- und Videodateien sind in vollem Gang, ohne dass die Fluch- und Segensanteile dieses Prozesses absehbar wären. Der Heidelberger Appell mit seinem "Nun reicht es aber"-Gestus beruht ebenso auf Mutmaßung und Gutdünken wie die Verheißung einer schrankenlosen Netzwelt, in der Geld durch Gemeinsinn ersetzt wird.

    Dafür, dass letzteres nicht völlig utopisch ist, gibt es ein schlagendes Beispiel namens Wikipedia. Dieses Online-Lexikon mit bald drei Millionen Artikeln in der englischen und knapp einer Million Artikeln in der deutschen Fassung, von den weiteren Sprachversionen ganz zu schweigen, beruht auf nichts als unbezahlter Geistesarbeit. Alle Autoren unterstellen ihre Texte einer GPL genannten weitgefaßten Lizenz, die das Benutzen, Kopieren und Bearbeiten in nahezu beliebigem Umfang erlaubt, vorausgesetzt, der Wortlaut dieser im amerikanischen Recht verankerten Lizenz wird vom jeweiligen Benutzer, Kopierer oder Bearbeiter stets mitgeliefert – was in der Praxis natürlich so gut wie nie geschieht.

    Vor anderthalb Jahren hat deshalb Wikipedia-Gründer Jimmy Wales vorgeschlagen, anstatt der bisher verwendeten GPL-Lizenz die inzwischen entwickelten Creative Commons (abgekürzt: CC)-Lizenzen zu benutzen. Dies würde den Autoren einerseits eine abgestufte Rechteerteilung erlauben (zum Beispiel: das Werk darf oder darf nicht verändert werden) und andererseits auch eine kommerzielle Nutzung nicht mehr ausschließen, was allerdings in den Augen vieler Wikipedianer einem Sakrileg gleichkäme. In der Community findet derzeit eine Abstimmung über diese Möglichkeit statt.

    Mit einer eventuellen Kommerzialisierung von Wikipedia bekäme das Internet in der Tat ein neues Gesicht. Es wäre einer jener großen Umbrüche, von denen die Internet-Welt ständig redet. In der Tat hat dieser Umbruch an anderen Stellen schon begonnen: Immer mehr Presseverleger, zuletzt sogar Rupert Murdoch, wenden sich von der Hoffnung auf Werbefinanzierung der journalistischen Gratisinhalte ab und errichten für Ihre Zeitungen wieder klassische Bezahlschranken. Wenn es aber ans Verdienen geht, dann möchten Wikipedia-Autoren, die den Journalisten soviel Futter liefern, natürlich nicht abseits stehen.

    Update (15.5.2009):

    Anders als in diesem Beitrag dargestellt, stehen Wikipedia-Texte bisher unter der Lizenz GFDL und nicht der GPL. Beide Lizenzen erlauben auch eine kommerzielle Nutzung, so dass sich auch mit einer Änderung der Lizenzbedingungen daran nichts ändern wird.
    Die Red.