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Freies Schreiben versus Rechtschreibfibel

Beim Prinzip "Schreibe wie Du sprichst", das an Grundschulen praktiziert wird, bleibe das Lesen auf der Strecke, kritisiert Pädagogikprofessorin Agi Schründer-Lenzen. Es sei wichtig zu verstehen, dass Wörter aus Silben bestehen. Schulleiter Falko Peschel hat da andere Erfahrungen gemacht.

Agi Schründer-Lenzen und Falko Peschel im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Tobias Armbrüster: Ist es ein Fehler, wenn man das Wort Hemd mit "ä" schreibt und mit einem "t" am Ende, vielleicht sogar mit einem "p" zwischen dem "m" und dem "t", also "Hämpt"? Bis vor wenigen Jahren hätte ein Lehrer noch gesagt, klar, das sind drei Fehler in einem Wort, drei rote Striche also. Heute sagen dazu viele Lehrer gar nichts mehr. Solche Fehler gehen an vielen Grundschulen einfach durch. Verantwortlich dafür sind neue Lehrmethoden, die Kindern zunächst mal die Möglichkeiten geben sollen, so schreiben zu lernen wie sie sprechen. Und dabei dürfen sie dann natürlich ruhig auch Fehler machen. Viele Eltern machen sich allerdings Sorgen, dass die Kinder auf diese Weise nie im Leben richtig schreiben lernen. Müssen wir uns also Sorgen machen um die Rechtschreibung an unseren Schulen? Das wollen wir in den kommenden Minuten diskutieren, und zwar mit Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Grundschulpädagogik an der Uni Potsdam. Schönen guten Morgen!

    Agi Schründer-Lenzen: Guten Morgen!

    Armbrüster: Und auf der anderen Leitung ist Falko Peschel, Schulleiter der Bildungsschule Harzberg in Nordrhein-Westfalen. Auch an Sie guten Morgen!

    Falko Peschel: Ja guten Morgen.

    Armbrüster: Frau Schründer-Lenzen, fangen wir mit Ihnen an. Lernen die Kinder in Deutschlands Grundschulen noch richtig schreiben?

    Schründer-Lenzen: Ja natürlich lernen sie das, aber eben nicht alle. Das ist genau das Problem.

    Armbrüster: Wo liegt das Problem?

    Schründer-Lenzen: Ja, dass Kinder, die es nicht so leicht haben mit dem lesen und schreiben lernen, eine Methode brauchen, mit der sie es am besten lernen. Und da ist natürlich die Frage, wenn sie immer nur so schreiben dürfen wie sie wollen, ob sie dann auch wirklich zu einem Lernerfolg kommen.

    Armbrüster: Können Sie uns diese Methode kurz erklären?

    Schründer-Lenzen: Im Prinzip geht es darum, am Anfang den Kindern eine sogenannte Anlauttabelle in die Hand zu geben: eine Tabelle, in der Bilder sind und Buchstaben abgebildet, die den ersten Buchstaben des Wortes aufzeigen, und damit sollen sie sich dann alle Wörter dieser Welt selbst konstruieren dürfen.

    Armbrüster: Und warum ist das so problematisch?

    Schründer-Lenzen: Weil eben alle Wörter dieser Welt nicht nach diesem Prinzip funktionieren. Im Grunde genommen geht es darum, ihnen zu sagen: Schreibe wie Du sprichst. Und unsere deutsche Schrift ist etwas komplexer. "Schreibe wie Du sprichst" ist etwas, was für die erste Schulwoche sicherlich erst mal ein guter Einstieg ist, aber die Kinder müssen auch lernen, dass Schrift Silbenstrukturen hat, dass die Schrift Bausteine hat, aus denen schwierige Wörter dann auch konstruiert werden, und dass dieses Prinzip "
    "Schreibe wie Du sprichst" dann letztlich zu Fehlern führt.

    Armbrüster: Und diese Fehler werden nicht ausgemerzt?

    Schründer-Lenzen: Sie entwickeln sich mit der Zeit schon auch in Richtung des richtigen, aber das ist jetzt genau der Punkt. Bei manchen Kindern entwickeln sie sich, aber natürlich nicht bei allen.

    Armbrüster: Gut. Herr Peschel, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind Sie ein Anhänger dieser Anlauttabellen. Stimmt das?

    Peschel: Ja. Das "freie Schreiben", zum Beispiel mit einer Anlauttabelle, wobei es da auch verschiedene Arten gibt, ist etwas, was ganz wichtig ist am Anfang, wenn man in die Schule kommt. Wie Frau Schründer-Lenzen, der ich auch in so ziemlich allem zustimmen kann, ja schon betont hat. Das heißt, wenn man dann Kinder direkt, wenn sie schreiben lernen, konfrontiert mit Orthografie, wenn sie zum Beispiel einen Brief an die Mutter schreiben, "Libe Mama", und ich sage, da kommt jetzt noch ein "e" rein, dann ist das zu diesem Zeitpunkt wirklich tödlich und sehr kontraproduktiv. Weil diese Kinder denken, ich muss noch irgendwelche Buchstaben verschriften, die ich ja gar nicht hören kann. Es heißt ja nicht, "Lieebe Mama". Von daher ist es ganz wichtig, dass sie zunächst phonologisch schreiben mit diesen Lauten, wenn man das einfach ausdrücken will, dann aber natürlich Orthographie eine Rolle spielt.

    Ich glaube, das Problem, das wir haben, ist, dass hier Sachen vermischt werden. Dass dieses anfängliche Schreiben mit der Anlauttabelle, dass daraus gefolgert wird, das bleibt jetzt die ganze Grundschulzeit so. Nein, das ist nicht so. Wenn man das Rechtschreiblernen der Kinder nicht stört – und das ist mir ganz wichtig -, dann entwickeln sie durch Schreiben, durch Lesen eine Orthografie, sodass sich ein Rechtschreibgespür entwickelt. An unserer Schule klappt es jetzt unter meiner Tätigkeit seit 20 Jahren wirklich hervorragend, mit Abschlussergebnissen, die weit, hoch signifikant über dem Durchschnitt liegen. Das heißt, ich glaube, das Problem ist der Rechtschreibunterricht, der dann einsetzt, der wieder nicht diese Unterschiedlichkeit der Kinder berücksichtigt, diese Individualität, die sie dazu brauchen.

    Armbrüster: Ab wann, Herr Peschel, soll man denn dann die Kinder auf ihre Fehler aufmerksam machen?

    Peschel: Ja letztendlich ist das vom Entwicklungsstand des Einzelnen abhängig. Deshalb kann man das gar nicht sagen. Das heißt, wenn jemand in die Schule kommt und der kann schon etwas schreiben, dann kann es durchaus sein, dass ich dann schon "Liebe Mama" statt "Liebe Mama" ihm vorlese und er sagt: Ach ja, ist ja ein langes "i", muss ja noch ein "e" hinter. So, das sind einzelne Kinder. Das Normale ist eher: Die kommen in die Schule und hören prägnante Laute heraus. Und da wie gesagt wäre es ein großer Fehler, auf orthografische Elemente, die ich ja wirklich nicht auslautieren und hören kann, hinzuweisen. Dann kann das aber im Laufe des ersten Schuljahres - in der Regel ist es im zweiten Schuljahr so. Da fangen die an zu überarbeiten, da kommen auf einmal Binde-E's - Knochen, Magen, Sachen, die ich überhaupt nicht hören kann; es heißt ja "Knochn", "Magn" - automatisch rein. Es werden Konsonanten verdoppelt und so weiter. Das Ganze ist etwas: Wenn die in Schrift und Sprache baden und gerne schreiben und lesen, dann ist es unsere Erfahrung, haben sie wirklich absolut tolle Ergebnisse auch beim Rechtschreiben.

    Schründer-Lenzen: Ja, aber an der Stelle zeigen sich jetzt genau die Schwierigkeiten. Ich denke mal, dass im Moment so viele Eltern so stark besorgt sind, liegt ja genau daran, dass das, was jetzt von Herrn Peschel so positiv dargestellt worden ist, eben nicht überall die Praxis ist. Also die Praxis, dass Kinder, die mehr lernen können, auch schon relativ früh dieses Angebot bekommen, mehr lernen zu können. Das heißt, das Problem ist eigentlich dieses, dass man fragen muss: An welcher Stelle reicht es nicht mehr, Kindern nur eine Anlauttabelle in die Hand zu geben und zu sagen: Jetzt dürft ihr frei schreiben. Das Problem ist nämlich, wenn ich dieses auch mit einer hohen Unterrichtszeit mache, dass dann auch der Leselernprozess auf der Strecke bleibt. Das heißt, Lesen ist ja etwas, bei dem ein schneller Leseerfolg auch davon abhängt, dass ich verstehe, dass das Wort, das ich erlesen möchte, nicht nur aus einzelnen Buchstaben besteht, sondern dass es beispielsweise aus Silben besteht. Das heißt, ich muss das Kind aufmerksam machen, wie das Wort strukturiert ist, wie ich es schneller erlesen kann. Und da bin ich ganz schnell weg von den einzelnen Buchstaben und komme zu Silben. Das Problem ist, wenn ich jetzt zu intensiv einen schreiborientierten Anfangsunterricht mache, dann kommt das Lesen einfach zu kurz. Und wir brauchen beides parallel. Die Kinder müssen sowohl lesen als auch schreiben, weil es letztlich so ist, dass eine gute Rechtschreibung sich auch dadurch entwickelt, dass Kinder viel lesen, dass sie gerne lesen und dass sie dann auch Richtiges lesen, das heißt Kinderbücher lesen, richtig geschriebene Texte lesen und nicht nur die Produkte, die sie mit "freiem Schreiben" produzieren, die ja rechtschriftlich falsch sind und insofern keine gute Leselerngelegenheit sind.

    Peschel: Ja da haben wir wirklich andere Erfahrungen gemacht. Das heißt, wenn die Kinder ihre Sachen verschriften, können sie das natürlich am Anfang nicht lesen, weil sie praktisch Zeichen für diese Laute abbilden. Sie müssen das auch noch gar nicht lesen können. Das passiert bei vielen Kindern nach, ich sage mal, zwei, drei Monaten, bei manchen auch etwas später, dass sie irgendwo hingucken und sehen, was da steht.
    Dann kommt ein Prozess, der ist so ähnlich, wie Frau Schründer-Lenzen gerade sagte, Das heißt, dann haben sie Spaß am Lesen, versuchen, Sachen zu erlesen. Aber es sind nicht ihre Texte unbedingt, sondern es sind wirklich Sachen, die sie interessieren, die sie im Computer oder in Büchern finden. Dann haben wir einen tollen Zeitpunkt, wo sie wirklich dann wieder hingucken nur auf etwas und den Sinn entnehmen, und dann bin ich erst beim Lesen. Das heißt, ich hätte eine ganz große Angst vor Leseübungen, wo Laute oder Silben erlesen werden, weil ich zu viele Kinder kenne, die mir etwas vorlesen können, aber den Sinn gar nicht verstehen. Das heißt, Lesen ist für mich irgendwo hingucken und ich weiß, was da steht. Ausnahmen sind natürlich so was wie chemische Verbindungen, Rezeptnamen, die muss ich auch als Erwachsener noch erlesen.

    Armbrüster: Frau Schründer-Lenzen, haben Sie so eine Angst auch?

    Schründer-Lenzen: Es ist jetzt nicht die Frage, wovor man mehr Angst hat, sondern es geht doch darum, für die ganz normale staatliche Grundschule die Form des Anfangsunterrichts anzubieten, die für alle Kinder – und da reden wir jetzt auch über Kinder mit Migrationshintergrund, da reden wir auch über Kinder, die beispielsweise Dialekt sprechen, und wir reden auch über die Kinder, die jetzt in den Grundschulen inklusiv beschult werden sollen, also Kinder mit besonderem Förderbedarf, die explizit Schwierigkeiten haben im Lernen, die auch in ihrer Sprachentwicklung unter Umständen noch nicht auf dem Stand sind, in dem andere Kinder aus der Klasse sind, die also viel Unterstützung und auch Lerngelegenheiten brauchen, die nicht zu komplex sind und mit denen sie dann doch auch richtig lesen und schreiben lernen.

    Armbrüster: Würden Sie dann sagen, dass wir derzeit in Deutschland tatsächlich eine Rechtschreibkatastrophe erleben, dass immer weniger Kinder korrektes Schreiben lernen?

    Schründer-Lenzen: Das, denke ich, kann man aus den bisher vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen nicht sagen. Dass man jetzt sozusagen ganz einfach schlussfolgert, früher waren die Rechtschreibleistungen durchgängig besser als heute. Sondern wir haben ja heute eine ganz andere Schülerschaft. Wir haben eine sehr, sehr große Heterogenität, die natürlich auch schon immer gegeben war, aber die gegenüber Schulklassen in den 50er-Jahren sicherlich zugenommen hat.

    Armbrüster: Herr Peschel, ist das dann Panikmache, was wir häufig in Zeitungen lesen?

    Peschel: Es ist, glaube ich, schon absichtlich lanciert ein Stück weit. Das merkt man auch an manchen Artikeln, wo wirklich auch Sachen doch etwas unseriös dann dargestellt werden. Aber da, denke ich, muss man nicht drauf herumreiten. Eine Rechtschreibdebatte ist ja immer wichtig, um auch herauszukriegen, worum geht es. Und das, hoffe ich, haben wir ein bisschen dargestellt. Diese erste Phase, wo Kinder auslautieren und überhaupt schreiben lernen, wo es noch gar nicht um Orthografie gehen kann, sondern um die hohe Leistung, Laute in Buchstaben zu verwandeln, da kann Rechtschreibung noch keine Rolle spielen. Aber sie zieht dann natürlich ganz schnell rein.

    Ganz wichtig ist mir auch dieser inklusive Gedanke, der gerade genannt worden ist, und für mich ist auch da die Folgerung: Dann kann ich doch gar keinen Lehrgang machen. Wenn der eine schon fast schreiben kann und der andere ist da noch ziemlich weit weg, wenn der in die Schule kommt – wir haben drei bis vier Jahre an Entwicklungsunterschied von Kindern, die in die Schule kommen -, dann können die doch nicht alle jetzt zusammen das "o", das "m" und das "a" irgendwie lernen. Sondern der eine muss schon wirklich schreiben können und der andere braucht eine ganz andere Hilfe. Und die kann ich nur erkennen, wenn nicht ein Lehrgang darüber liegt, eine Fibel. Sonst schreiben die mir alle "Oma" auf und ich weiß gar nicht, wer schreiben kann und wer nicht.

    Armbrüster: Lernen unsere Kinder noch richtig schreiben? Das ist eine Frage, über die sich Eltern gerade in diesen Wochen, wo die Schule wieder anfängt, jede Menge Gedanken machen. Wir sprachen darüber mit Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Potsdam, und mit Falko Peschel, Schulleiter der Bildungsschule Harzberg. Besten Dank an Sie beide.

    Peschel: Ja, ganz vielen Dank.

    Schründer-Lenzen: Danke auch.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.