Wladimir Perewerzin macht es dem Leser leicht. Er beginnt sein Buch mit einem positiven Moment, mit der Entlassung nach mehr als sieben Jahren Haft.
"Ich beschließe, ein Taxi zu nehmen. Nach zwanzig Minuten fährt mich ein silberner "Renault Megane" mit der Aufschrift "Taxi der Stadt Pokrowa" dem lang erwarteten Treffen mit meinen Nächsten entgegen. Wir treffen uns auf der Autobahn zwischen Wladimir und Moskau (...). Freudentränen, Umarmungen. Ich ziehe normale Kleidung an. Die Gefangenenuniform stecken wir in eine Tasche und verbrennen sie am Straßenrand. Ich bin frei, und das ist kein Traum. Es beginnt ein neues Leben..."
Was auf den rund 300 Seiten folgt, ist, in kurzen, gut lesbaren Kapiteln, ein Zeugnis der Ungerechtigkeit, Brutalität und Menschenverachtung bei der Festnahme, während des Prozesses ebenso wie später in der Haft. Perewerzin beschreibt den ganz alltäglichen Mangel im Lager, zum Beispiel, dass nicht jeder Häftling einen Löffel hat und einige deshalb nacheinander essen müssen. Da die Essenszeiten streng begrenzt sind, bleibt manch einer hungrig. Das bei schwerer Arbeit von bis zu 15 Stunden am Tag. Ein Aufseher lässt die Häftlinge stundenlang völlig sinnlos in Reih und Glied marschieren. Manche Schilderungen sind schwer zu ertragen. Zum Beispiel das Gewaltritual, mit dem Neuankömmlinge "begrüßt" werden.
"Ich hatte Glück. Wir wurden sanft aufgenommen. Die Gefangenen, die mit dem Transport vor mir ankamen, wurden ordentlich verprügelt. Die nach uns bekamen auch ihren Teil ab. Beim Duschen habe ich persönlich die zerschlagenen Köpfe, blauen Augen und Blutergüsse auf den Körpern der Gefangenen gesehen. Jeder Transport wird auf seine Weise empfangen. Die einen werden weniger geschlagen, die anderen mehr. Alles hängt von der Stimmung der Wärter ab."
Nur wenige wagen es, sich zu beschweren. Die prominente Nadjeschda Tolokonnikowa ist so jemand, zu zwei Jahren Haft verurteiltes Mitglied der Performance-Gruppe Pussy Riot. Sie machte vor wenigen Wochen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und Gewaltexzesse in ihrem Lager öffentlich. Paradoxerweise wurde sie dafür von ihren Mithäftlingen bedroht. Perewerzin ist Ähnliches passiert. Er erläutert den Mechanismus, der dahinter steckt. Die Wärter hetzen demnach die Mithäftlinge auf.
"Ich hatte mich beschwert, daraufhin musste die ganze Gruppe 16 Stunden arbeiten (…) und durfte tagsüber nicht mehr schlafen. (…) Zuvor hatten sie uns das eine Stunde am Tag gestattet. Die Leute haben natürlich gefragt, warum das so ist, darauf hieß es: "Wegen Perewerzin. Dem gefällt es hier nicht, wendet euch an ihn." Daraufhin kamen sie zu mir und fragten: Warum müssen wir deinetwegen leiden? Schließlich kam ein anderer Gefangener, der sagte: Ich wurde aufgefordert, eine Prügelei mit dir anzuzetteln. Die Situation wurde immer angespannter."
In so einer Lage erscheint das Krankenhaus als letzte Rettung. Nadjeschda Tolokonnikowa wählte den Hungerstreik, um sich vor ihren Mithäftlingen zu schützen. Perewerzin griff zum Messer, abends beim Appell.
"Sejchas…. Blättern. Sledujushchej idet moja familija...
Mein Name ist an der Reihe.
"Perewerzin" dringt zu mir.
"Wladimir Iwanowitsch", brülle ich und trete vor, zähle dabei die Schritte.
Eins, zwei – mit dem Rücken zum Diensthabenden, trete ich aus der Reihe und öffne die Wattejacke.
Drei, vier – mit Verwunderung blicke ich auf meinen nackten Bauch und die Klinge in der rechten Hand.
Fünf, sechs, - die Klinge dringt in den Bauch wie in Butter.
Der erste Stich ist der schwerste, aber der wichtigste. Danach überschwemmt dich eine Welle Adrenalin, und du gerätst, ohne Schmerz zu spüren, in Rage. (...)
Weiter sehe ich alles wie aus der Ferne. (...) Ich habe keine Kraft mehr, und wahrscheinlich auch nicht den Wunsch, Widerstand zu leisten, und krächze nur mit schwacher Stimme: "Freiheit den politischen Gefangenen!"
Wladimir Perewerzin scheint trotz allem ungebrochen, und das spürt man auch in seinem Buch. Er hat sich sogar seinen Sinn für Humor bewahrt.
"Oft fragst du dich, ob du in einem Straflager oder in einem Irrenhaus bist. (...) Manchmal zum Beispiel werden Chorwettbewerbe organisiert. Stellen Sie sich das mal vor. Da sitzen Leute wegen Mordes, wegen Gewaltverbrechen, Aufrührer, richtig schwere Jungs. Und die müssen zum Chorwettbewerb antreten. (...) Die Leute mit den Schulterklappen sitzen dann da, hören sich das Gesinge an und vergeben Noten. Wir haben den zweiten Platz gemacht. Das ist wirklich der komplette Irrsinn."
Wladimir Perewerzin hat schon zu Beginn seiner Haftzeit beschlossen, ein Buch zu schreiben. Er hat heimlich Notizen gemacht und diese aus dem Lager geschmuggelt.
Entstanden ist daraus ein Buch, über das Olga Romanowa, die Leiterin einer Selbsthilfegruppe von Ehefrauen von Häftlingen, im Vorwort schreibt, es sei das Beste, was sie jemals über Gefängnisse gelesen habe. Gut möglich, dass sie Recht hat.
Wladimir Perewerzin: Zaloschnik. Istorija menedschera JuKOSa,
deutsch: Die Geisel. Geschichte eines Jukos-Managers
Verlag Howard Roark, 312 Seiten, 21,20 Euro
ISBN: 978-5-906-06703-6
"Ich beschließe, ein Taxi zu nehmen. Nach zwanzig Minuten fährt mich ein silberner "Renault Megane" mit der Aufschrift "Taxi der Stadt Pokrowa" dem lang erwarteten Treffen mit meinen Nächsten entgegen. Wir treffen uns auf der Autobahn zwischen Wladimir und Moskau (...). Freudentränen, Umarmungen. Ich ziehe normale Kleidung an. Die Gefangenenuniform stecken wir in eine Tasche und verbrennen sie am Straßenrand. Ich bin frei, und das ist kein Traum. Es beginnt ein neues Leben..."
Was auf den rund 300 Seiten folgt, ist, in kurzen, gut lesbaren Kapiteln, ein Zeugnis der Ungerechtigkeit, Brutalität und Menschenverachtung bei der Festnahme, während des Prozesses ebenso wie später in der Haft. Perewerzin beschreibt den ganz alltäglichen Mangel im Lager, zum Beispiel, dass nicht jeder Häftling einen Löffel hat und einige deshalb nacheinander essen müssen. Da die Essenszeiten streng begrenzt sind, bleibt manch einer hungrig. Das bei schwerer Arbeit von bis zu 15 Stunden am Tag. Ein Aufseher lässt die Häftlinge stundenlang völlig sinnlos in Reih und Glied marschieren. Manche Schilderungen sind schwer zu ertragen. Zum Beispiel das Gewaltritual, mit dem Neuankömmlinge "begrüßt" werden.
"Ich hatte Glück. Wir wurden sanft aufgenommen. Die Gefangenen, die mit dem Transport vor mir ankamen, wurden ordentlich verprügelt. Die nach uns bekamen auch ihren Teil ab. Beim Duschen habe ich persönlich die zerschlagenen Köpfe, blauen Augen und Blutergüsse auf den Körpern der Gefangenen gesehen. Jeder Transport wird auf seine Weise empfangen. Die einen werden weniger geschlagen, die anderen mehr. Alles hängt von der Stimmung der Wärter ab."
Nur wenige wagen es, sich zu beschweren. Die prominente Nadjeschda Tolokonnikowa ist so jemand, zu zwei Jahren Haft verurteiltes Mitglied der Performance-Gruppe Pussy Riot. Sie machte vor wenigen Wochen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und Gewaltexzesse in ihrem Lager öffentlich. Paradoxerweise wurde sie dafür von ihren Mithäftlingen bedroht. Perewerzin ist Ähnliches passiert. Er erläutert den Mechanismus, der dahinter steckt. Die Wärter hetzen demnach die Mithäftlinge auf.
"Ich hatte mich beschwert, daraufhin musste die ganze Gruppe 16 Stunden arbeiten (…) und durfte tagsüber nicht mehr schlafen. (…) Zuvor hatten sie uns das eine Stunde am Tag gestattet. Die Leute haben natürlich gefragt, warum das so ist, darauf hieß es: "Wegen Perewerzin. Dem gefällt es hier nicht, wendet euch an ihn." Daraufhin kamen sie zu mir und fragten: Warum müssen wir deinetwegen leiden? Schließlich kam ein anderer Gefangener, der sagte: Ich wurde aufgefordert, eine Prügelei mit dir anzuzetteln. Die Situation wurde immer angespannter."
In so einer Lage erscheint das Krankenhaus als letzte Rettung. Nadjeschda Tolokonnikowa wählte den Hungerstreik, um sich vor ihren Mithäftlingen zu schützen. Perewerzin griff zum Messer, abends beim Appell.
"Sejchas…. Blättern. Sledujushchej idet moja familija...
Mein Name ist an der Reihe.
"Perewerzin" dringt zu mir.
"Wladimir Iwanowitsch", brülle ich und trete vor, zähle dabei die Schritte.
Eins, zwei – mit dem Rücken zum Diensthabenden, trete ich aus der Reihe und öffne die Wattejacke.
Drei, vier – mit Verwunderung blicke ich auf meinen nackten Bauch und die Klinge in der rechten Hand.
Fünf, sechs, - die Klinge dringt in den Bauch wie in Butter.
Der erste Stich ist der schwerste, aber der wichtigste. Danach überschwemmt dich eine Welle Adrenalin, und du gerätst, ohne Schmerz zu spüren, in Rage. (...)
Weiter sehe ich alles wie aus der Ferne. (...) Ich habe keine Kraft mehr, und wahrscheinlich auch nicht den Wunsch, Widerstand zu leisten, und krächze nur mit schwacher Stimme: "Freiheit den politischen Gefangenen!"
Wladimir Perewerzin scheint trotz allem ungebrochen, und das spürt man auch in seinem Buch. Er hat sich sogar seinen Sinn für Humor bewahrt.
"Oft fragst du dich, ob du in einem Straflager oder in einem Irrenhaus bist. (...) Manchmal zum Beispiel werden Chorwettbewerbe organisiert. Stellen Sie sich das mal vor. Da sitzen Leute wegen Mordes, wegen Gewaltverbrechen, Aufrührer, richtig schwere Jungs. Und die müssen zum Chorwettbewerb antreten. (...) Die Leute mit den Schulterklappen sitzen dann da, hören sich das Gesinge an und vergeben Noten. Wir haben den zweiten Platz gemacht. Das ist wirklich der komplette Irrsinn."
Wladimir Perewerzin hat schon zu Beginn seiner Haftzeit beschlossen, ein Buch zu schreiben. Er hat heimlich Notizen gemacht und diese aus dem Lager geschmuggelt.
Entstanden ist daraus ein Buch, über das Olga Romanowa, die Leiterin einer Selbsthilfegruppe von Ehefrauen von Häftlingen, im Vorwort schreibt, es sei das Beste, was sie jemals über Gefängnisse gelesen habe. Gut möglich, dass sie Recht hat.
Wladimir Perewerzin: Zaloschnik. Istorija menedschera JuKOSa,
deutsch: Die Geisel. Geschichte eines Jukos-Managers
Verlag Howard Roark, 312 Seiten, 21,20 Euro
ISBN: 978-5-906-06703-6