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Freilassung Peter Steudtners
"Ein erster Schritt zurück zu mehr Rechtsstaatlichkeit in der Türkei"

Die Freilassung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner aus dem Istanbuler Gefängnis könnte ein erstes Anzeichen für ein Tauwetter zwischen EU und Türkei sein, sagte CDU-Europaexperte Michael Stübgen im Dlf. Einen unmittelbaren Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei halte er grundsätzlich für falsch.

Michael Stübgen im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner in Istanbul am 26.10.2017.
    CDU-Europaexperte Michael Stübgen wertet die Freilassung Steudtners als positives Zeichen. (AFP / Yasin Akgul)
    Christiane Kaess: Der deutsche Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner ist freigekommen, zusammen mit anderen Menschenrechtlern, die mit ihm in der Türkei in Haft waren. Ihnen wurde vorgeworfen, Mitglieder einer bewaffneten Terrororganisation zu sein, worauf bis zu 15 Jahren Haft stehen. Was sie tatsächlich getan haben: Sie hatten an einem Seminar von Amnesty International teilgenommen, bei dem es um digitale Sicherheit und die Bewältigung von Stress-Situationen ging. Außenminister Sigmar Gabriel, der spricht von einem ermutigenden Signal, zugleich aber auch von einem ersten Schritt. Die Bundesregierung hatte ja nach der höchst umstrittenen Festnahme im Juli ihre Türkei-Politik neu ausgerichtet.
    Darüber sprechen möchte ich jetzt mit dem Europaexperten der Union, dem Bundestagsabgeordneten Michael Stübgen. Guten Morgen, Herr Stübgen.
    Michael Stübgen: Guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Die Freilassung von Peter Steudtner, ist das jetzt mehr als ein Hoffnungsschimmer in den deutsch-türkischen Beziehungen?
    Stübgen: Zunächst erst mal bin ich sehr froh, dass wir diese Situation jetzt mit Herrn Steudtner und den anderen Menschenrechtsaktivisten haben. Ob das ein erster Schritt für ein Tauwetter zwischen EU und Türkei ist, das kann man im Moment leider noch nicht feststellen. Ich hoffe das selber inständig, dass möglicherweise die Türkei in einigen Fragen, die dort offen sind, einlenkt. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, es sind noch einige Deutsche in Untersuchungshaft in der Türkei und viele tausend türkische Staatsbürger. Insofern ist es ein erstes Anzeichen, was hoffentlich der Beginn von Tauwetter bedeutet.
    Kaess: Dann lassen Sie uns den Fall Steudtner noch mal genauer angucken. Wie deuten Sie das denn, dass es noch tatsächlich unabhängige Justiz in der Türkei gibt, oder glauben Sie, das ist eventuell tatsächlich von ganz oben angeordnet worden als ein Signal der Entspannung?
    Stübgen: Das ist immer schwer zu sagen in der Türkei. Zum einen ist schon auffällig gewesen, das hatten Sie in Ihrem kurzen Bericht vorher ja auch gezeigt, dass dieses Verfahren selber, sagen wir mal, nicht so ganz gut vorbereitet war, einschließlich der Anklageschrift. Wenn das jetzt wirklich ein Ausweis dafür ist, dass Präsident Erdogan die Gerichte selbständig machen lässt, dann ist das ein erster Schritt zurück zu mehr Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Aber wie gesagt, ich bin Optimist und deswegen hoffe ich, dass wir dieses Signal darin sehen können. Aber sicher können wir überhaupt noch nicht sein.
    "Bin gegen unmittelbaren Stopp der Beitrittsverhandlungen"
    Kaess: Sie sind Optimist, sagen Sie. Heißt das auch, es ist jetzt Zeit, wieder mehr aufeinander zuzugehen? Viele in der Union – und das spielt jetzt auch bei den Sondierungsgesprächen eine Rolle -, die wollen ja die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stoppen. Wäre das ein Signal, das jetzt komplett zur Unzeit käme?
    Stübgen: Ich bin grundsätzlich gegen den unmittelbaren Stopp der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Zum einen brauchen wir in dieser Frage einen europäischen Konsens. Das kann Deutschland gar nicht alleine entscheiden. Zum zweiten passiert ja schon seit vielen Jahren leider eigentlich nichts mehr bei diesen Beitrittsverhandlungen. Aber einseitig von EU-Seite diese Verhandlungen aufzukündigen, würde Erdogan (und da kennen wir ihn gut genug) natürlich wieder alle Möglichkeiten geben, den Eindruck zu vermitteln und scheinbar den Beleg zu bringen, dass die EU die Türkei sowieso nicht will und nur gegen die Türkei arbeitet etc. etc. Das heißt, wir würden die Kampagne, die von der türkischen Regierung bedauerlicherweise seit Monaten gefahren wird, eher unterstützen. Deswegen, glaube ich, wäre jetzt ein Abbruch falsch. Auch die sogenannten Vorbeitrittshilfen sind nicht die Thematik, weil die Türkei – das stimmt zwar – bis zu vier Milliarden Euro innerhalb dieser Finanzperiode bis 2020 abrufen könnte, aber jetzt, weit über die Hälfte dieses Zeitraums, knapp 200 Millionen abgerufen hat. Auch da passiert eigentlich gerade nichts. Deswegen glaube ich nicht, dass es das richtige Signal wäre, jetzt einseitig abzubrechen.
    Kaess: Auch die müsste man gar nicht einstellen, Ihrer Meinung nach?
    Stübgen: Darüber wird ja diskutiert. Was ich jetzt nicht im Detail kenne, was für Anträge gibt es. Nach meiner Kenntnis ist es so: Es fließt deshalb so wenig Geld ab, weil es keine ordentlichen Anträge und Projekte von der Türkei gibt. Und ob wir hier ein Signal setzen und sagen, wenn sich die Türkei weiterhin so markant weg vom Rechtsstaat bewegt, ist die EU auch nicht mehr bereit, bestimmte Dinge zu finanzieren – man kann ja auch zum Beispiel die Projektarten reduzieren -, das ist eine Frage, die muss in der EU diskutiert werden. Aber es ist wie gesagt jetzt nicht im Verzug, dass hier laufend Geld abfließt und ein ziemlich brutales Regime EU-Gelder nutzt, um die eigenen Menschen zu unterdrücken. Das findet überhaupt gar nicht statt.
    Katalonien und Madrid müssen "zurück auf Anfang gehen"
    Kaess: Herr Stübgen, wir wollen heute Morgen auch noch über Katalonien sprechen. Das katalanische Regionalparlament kommt heute zusammen, um sich zur Unabhängigkeit zu positionieren, und da ist eigentlich alles möglich: Entweder, dass die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt wird, oder eine Einigung auf Neuwahlen. Was raten Sie den katalanischen Abgeordneten, wie sie sich heute positionieren sollten?
    Hunderttausende protestieren in Barcelona gegen die Entscheidung der Zentralregierung in Madrid. Das Bild zeigt Flaggen und Transparente, Datum: 21.10.2017
    Hunderttausende protestieren in Barcelona gegen die Entscheidung der Zentralregierung in Madrid (imago)
    Stübgen: Zunächst einmal halte ich es für ausgesprochen bedauerlich, sogar ärgerlich, dass der regionale Regierungschef Puigdemont seinen Auftritt beim spanischen Senat abgesagt hat. Denn das war ja auch der Versuch, mal wieder in den Dialog zu kommen. Ich bin immer zurückhaltend, große Ratschläge von außen zu geben bei innerstaatlichen Konflikten. Aber meine Überzeugung ist die, dass es eigentlich nur eine Möglichkeit gibt in Spanien und in Katalonien, nämlich zurück auf Anfang zu gehen. Das heißt, sich mit den kritischen Dingen des Zusammenhalts Spaniens, auch der Finanzverfassung Spaniens und der Regionen einschließlich Kataloniens zu beschäftigen, die offenen Fragen des Autonomiestatuts und natürlich auch die finanziellen Fragen, die in einer föderalen Struktur immer kompliziert sind. Hier kann man ansetzen.
    Kaess: Aber, Herr Stübgen, was heißt das denn jetzt konkret in dieser wirklich sehr verfahrenen Situation? Neuwahlen für Katalonien?
    Stübgen: Ich habe den Eindruck, dass um Neuwahlen nichts herumgeht, weil Puigdemont in Katalonien diese ganze Frage endgültig in die Sackgasse geführt hat. Und ob er noch mal als Person in der Lage ist, vernünftige Verhandlungen mit Madrid zu führen auf der Basis der spanischen Verfassung und des Rechtsstaates - darauf kommt es ja an -, da habe ich so meine Zweifel. Aber wir können uns ja auch überraschen lassen von dem, was heute passiert. Nur wie gesagt, die Weigerung von Puigdemont, in Spanien vor dem Senat und vor der Öffentlichkeit sich zu erklären und auch auf Fragen zu antworten, ist natürlich kein gutes Zeichen für das, was heute noch passieren wird.
    Kaess: Sie haben jetzt sehr viel Kritik an Puigdemont geäußert. Jetzt mal unabhängig davon, welche Seite vielleicht hier mehr Fehler gemacht hat, darf so etwas in der EU passieren, dass in einer Region die Menschen auf mehr Eigenständigkeit beharren und dann unterdrückt und entmachtet werden, die Regierung dann entmachtet wird?
    "Einseitige Unabhängigkeitserklärung darf nicht sein"
    Stübgen: Die Frage ist, was darf. In der EU gibt es eine ganz klare Grundregel, und zwar die Rechtsstaatsgarantie. Spanien ist ebenso wie Deutschland und wie Frankreich ein Rechtsstaat. Da gibt es das Verfassungsrecht und es gibt Einzelgesetze. Bestimmte Dinge dürfen, wenn Sie so fragen, juristisch nicht sein, wie auch in Deutschland ein Bundesland nicht plötzlich die Unabhängigkeit erklären dürfte. Da gibt es den Artikel 37 im Grundgesetz, übrigens ähnlich gefasst wie der Artikel 155 in der spanischen Verfassung. Wenn Sie mich so fragen: Juristisch darf das nicht sein, nicht in diesem Weg einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung.
    Kaess: Und das rechtfertigt dann auch die Bilder, die wir gesehen haben von dem massiven Polizeieinsatz, nur um ein Referendum zu verhindern? Das ist auch für Sie vereinbar mit den Werten der EU?
    Stübgen: Das ist in der Tat eine Problematik. Ich kann das allerdings nicht im Detail bewerten.
    Kaess: Sie haben ja die Bilder auch gesehen.
    Stübgen: Ich habe die Bilder auch gesehen. Ich weiß, es ist fast immer so, wenn es bei Demonstrationen Auseinandersetzungen mit der Polizei gibt, dass eine Seite vorwirft, dass die Polizei unangemessene Gewalt angewendet hat.
    Kaess: Das waren ja gar keine Demonstrationen. Man hat versucht, ein Referendum abzuhalten.
    Stübgen: Ein illegales Referendum, was nach dem spanischen Recht ganz eindeutig und nach Verfassungsgerichtsentscheidung Spaniens illegal war. Also im Prinzip Rechtsbruch. Die Frage ist, ob dieser Polizeieinsatz dann wirklich zu mehr Befriedung beigetragen hat. Das hat er natürlich nicht.
    Ich will nur noch mal eins sagen, was ganz selten kommentiert wird in den deutschen Medien. Für mich ist mindestens ein Indiz dafür, dass das nicht ganz so friedlich alles abgelaufen ist, dass es ja auch eine mittlere zweistellige Zahl von verletzten Polizisten gab. Es muss auch Gewalt von Seiten derer, die unbedingt das Referendum durchführen wollten, gegeben haben.
    Kaess: Darüber wurde aber berichtet in den Medien. – Herr Stübgen, man hat in diesem Konflikt von der EU bisher so gut wie gar nichts gehört. Ist das gerechtfertigt, diese Zurückhaltung, wenn eine regionale gewählte Regierung von einer Zentralregierung entmachtet wird, oder wahrscheinlich entmachtet wird, so wie es wahrscheinlich jetzt kommen wird?
    Stübgen: Wenn das so kommt und solange das auf dem Boden des Rechts und der Verfassung in Spanien, die wie gesagt eindeutig rechtsstaatlich ist, passiert, hat die EU hier keine direkte Zugriffsmöglichkeiten. Die EU ist ja so konstruiert, dass die Mitgliedsländer souveräne Staaten bleiben, wie das Deutschland auch ist. Deswegen ermahnen wir in der Frage, direkten Zugriff gibt es von der EU nicht. Deswegen ermahnen wir ja beide Seiten, für Deeskalation zu sorgen und zu versuchen, wieder zu einem Dialog zurückzukommen, um die wirklich offenen Fragen klären zu können, die natürlich komplex genug sind zwischen Madrid, der Zentralregierung und Katalonien.
    Kaess: … sagt der Europaexperte der Union, der Bundestagsabgeordnete Michael Stübgen. Herr Stübgen, danke für das Gespräch heute Morgen.
    Stübgen: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.