Archiv

Freilassung von Deniz Yücel
"Für mich bleibt die Frage, was war die Gegenleistung?"

Die Linken-Politikerin Dagdelen geht davon aus, dass sich die Bundesregierung für die Haftentlassung von Deniz Yücel auf einen Deal eingelassen hat. Sie verlangte eine Erklärung der Kanzlerin. Der Rechtsstaat in der Türkei sei am Ende, sagte Dagdelen im Dlf.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Sevim Dagdelen (Linke) spricht am 09.03.2017 im Bundestag in Berlin. Die Bundeskanzlerin gab in der Sitzung eine Regierungserklärung zum bevorstehenden EU-Gipfel ab.
    Die Freilassung von Deniz Yücel offenbare die Willkürjustiz in der Türkei, sagte Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Linken (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Jörg Münchenberg: Über ein Jahr saß der Reporter der "Welt", Deniz Yücel, in türkischer Haft, ohne Anklage, wegen angeblicher Terrorpropaganda. Doch zuletzt war Bewegung in den Fall gekommen. So hatte sich zumindest Außenminister Sigmar Gabriel geäußert. Jetzt die Bestätigung: Deniz Yücel ist frei. In der Leitung haben wir jetzt Sevim Dagdelen. Sie ist Abgeordnete der Linkspartei. Frau Dagdelen, ich grüße Sie!
    Sevim Dagdelen: Schönen guten Tag.
    Münchenberg: Frau Dagdelen, wie bewerten Sie die Freilassung jetzt von Deniz Yücel?
    Dagdelen: Das ist natürlich erst mal eine großartige Nachricht. Dass jemand seit über einem Jahr in Isolationshaft eingekerkert war in türkischen Gefängnissen, aufgrund dessen, dass er als Journalist seine Arbeit gemacht hat, bis heute ohne eine Anklageschrift, ohne ein Verfahren. Deshalb ist das natürlich erfreulich. Aber ich muss schon sagen, die Nachrichten seitens der Bundesregierung, die finde ich wirklich grotesk, jetzt sich zu bedanken bei der türkischen Regierung für ein beschleunigtes Verfahren. Es gibt kein Verfahren, es wurde ja noch nicht mal eine Anklageschrift bis heute veröffentlicht. Diese Freilassung von Deniz Yücel offenbart noch mal, dass es eine Willkürjustiz gibt in der Türkei, die auf politische Vorgaben reagiert, Menschen in Haft nimmt oder eben auch frei lässt. Und das ist keine gute Nachricht für die Türkei.
    Münchenberg: Nun melden gerade die Agenturen, dass die türkische Staatsanwaltschaft, der Staatsanwalt 18 Jahre Haft gegen Yücel fordert. Das hieße doch dann, das Thema ist noch immer nicht so richtig vom Tisch.
    Dagdelen: Ja das ist wahrscheinlich das, was ich schon vermutet habe, dass die Türken jetzt wieder ein sogenanntes orientalisches Verwirrspiel starten werden, wie beim Thema Mesale Tolu, die ja kurz freigelassen wurde und dann wieder in Haft genommen wurde, in Polizeigewahrsam war. Jetzt macht man das bei Deniz Yücel: Er wird freigelassen, ohne eine, für einen Rechtsstaat nachvollziehbare Erklärung, muss man ja sagen. Was ist jetzt über Nacht geschehen, dass Deniz Yücel freigelassen wurde, ohne dass die Anklageschrift bis heute vorliegt, ohne dass das Verfassungsgericht in der Sache jetzt entschieden hat, dass er freigelassen werden muss, oder ohne, dass es einen Gerichtsprozess gegeben hat und der Haftrichter eine Haftverschonung erlassen hat und gesagt hat, aber der Prozess geht weiter. Es zeigt, der Rechtsstaat ist am Ende in der Türkei. Aber für mich stellt sich natürlich die Frage, was ist passiert, was ist das Gegengeschäft gewesen, weil wir wissen, die Strategie der türkischen Regierung war hier klar: Deniz Yücel war eine politische Geisel des türkischen Präsidenten. Der hat eine Gegenleistung für seine Freilassung verlangt bisher.
    "Die Justiz macht das, was die politische Ebene vorgibt"
    Münchenberg: Da kommen wir gleich drauf zu sprechen. Trotzdem noch mal die Frage an Sie: Die türkische Seite hat ja immer behauptet und betont, dass die türkische Justiz unabhängig sei. Belegt nun dieser Fall erneut, dass es so nicht ist?
    Dagdelen: Diese Freilassung von Deniz Yücel offenbart, dass der Rechtsstaat am Ende ist. Und ich meine, da kann natürlich der Premierminister noch lange eine Märchenstunde im Kanzleramt abhalten und sagen, die Gerichte sind überlastet, man hätte aber eine unabhängige Justiz, wenn er doch selber erst Anfang des Jahres noch mal belegt hat, als im Januar diesen Jahres das Verfassungsgericht entschieden hat, dass beschuldigte Journalisten nicht allein wegen ihrer Texte verhaftet werden sollen und in Haft bleiben sollen. Da hat er selber gesagt, dass seine Regierung sich an das Urteil des Verfassungsgerichts nicht halten wird, dass das Verfassungsgericht in der Türkei nichts zu melden hat. Zusammenhängend mit der Freilassung von Deniz Yücel zeigt das natürlich, dass es keinen Rechtsstaat gibt, keine unabhängige Justiz, sondern die Justiz macht das, was die politische Ebene vorgibt.
    Münchenberg: Nun hat die Bundesregierung, Frau Dagdelen, heute aber noch mal klargestellt, dass es keinen Deal gegeben habe. Es geht ja dabei um die umstrittene Modernisierung der Leopard-II-Panzer mit deutscher Hilfe. Und wie gesagt, da sagt die Bundesregierung, man sei hier der türkischen Seite nicht entgegengekommen.
    Dagdelen: Ich verlange von der Bundeskanzlerin, dass sie in der kommenden Sitzungswoche eine Regierungserklärung macht und öffentlich dem Parlament gegenüber erklärt, was als Gegenleistung angeboten worden ist. Erdogan hat Deniz Yücel als eine Geisel genommen. Er hat immer für seine Freilassung auch eine Gegenleistung verlangt. Und für mich bleibt die Frage bestehen, was war die Gegenleistung. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber bei der Freilassung von Peter Steudtner haben wir nachgefragt bei der Bundesregierung, was denn bei den vertraulichen Gesprächen, dieser Geheimdiplomatie sozusagen, der Fall gewesen ist zur Freilassung von Peter Steudtner. Bis heute weigert sich die Bundesregierung mit Verweis auf das Staatswohl, eine Antwort uns zu geben. Und ich befürchte, dass die genauen Gründe für die Freilassung von Deniz Yücel in den Archiven des Auswärtigen Amtes für die nächsten 30 Jahre gesperrt bleiben und wir als Parlamentarier nicht wissen werden, was das Gegengeschäft war - es sei denn, die Panzermodernisierung wird so laufen, wie es bisher ja auch scheint zu laufen.
    Kein Deal? "Für mich wirklich schwer vorstellbar"
    Münchenberg: Frau Dagdelen, noch mal: Für sie ist es nicht vorstellbar, dass es keinen Deal gegeben hat?
    Dagdelen: Für mich ist es wirklich schwer vorstellbar, weil der türkische Staatspräsident Erdogan sich nicht durch ein freundliches Gespräch mit Gerhard Schröder, dem Sondervermittler in Sachen auch Peter Steudtner, oder auch von Kanzleramtsminister Altmaier oder auch von Gabriel oder Merkel mit einem freundlichen Gespräch beeindrucken lässt. Er steht wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand in der Türkei. Er braucht Kredite, Finanzhilfen, wirtschaftliche Hilfen, die in letzter Zeit von der Europäischen Investitionsbank gestoppt worden sind. Und er muss die diplomatische Isolierung auf dem internationalen Parkett überwinden, auch jetzt gerade nach dem Konflikt mit den USA.
    Münchenberg: Frau Dagdelen, genau das ist der Punkt: Die Türkei braucht auch wieder die Zusammenarbeit mit den anderen Partnern. Also ist er auch darauf angewiesen, dass sie ein gutes Verhältnis mit den anderen Partnern pflegt. Kann das nicht der Grund sein, dass man jetzt gesagt hat, dafür lassen wir Deniz Yücel frei?
    Dagdelen: Nein! Meine Einschätzung, so wie ich Erdogan und seine Regierung kenne und einschätze, ist, dass man was bekommen hat. Und die Modernisierung der Leopard-II-Panzer, die ja gerade beim völkerrechtswidrigen Einmarsch in Syrien im Einsatz sind gegen die Kurden, die soll ja auch laut Informationen vom Bayerischen Rundfunk und vom "Stern" unter Dach und Fach sein. Kurz nach der Tee-Zeremonie in Goslar mit Cavusoglu und Gabriel, ein paar Tage danach wurde der Vertrag bei Rheinmetall in Düsseldorf unterzeichnet, und ich finde, das geht gar nicht. Deniz Yücel selber hat gesagt, dass er für einen schmutzigen Rüstungsdeal nicht zur Verfügung steht. Und ich meine, wir werden letztendlich auch in Zukunft sehen, ob diese Leopard-II-Panzer und auch die M60-Panzer modernisiert werden oder nicht. Und wir werden auch sehen, ob die Panzerfabrik in die Türkei kommt.
    "Keine Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen"
    Münchenberg: Das ist der Punkt. Darüber werden wir auch berichten, das werden wir auch aufmerksam verfolgen. Noch eine Frage, Frau Dagdelen: Ist das nicht trotzdem jetzt ein gutes Signal, auch bezüglich der deutsch-türkischen Beziehungen, die Freilassung von Yücel?
    Dagdelen: Selbstverständlich freue ich mich, dass Deniz Yücel freigekommen ist. Aber ich glaube nicht, dass das gleich eine substanzielle Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen darstellt. Ich finde, auch wenn Yildirim sagt, man sollte die Vergangenheit jetzt ruhen lassen – bis vor Kurzem noch wurde ganz Deutschland beschimpft als Nazis, als Nazi-Deutschland. Es gab übelste Attacken auch auf Mitglieder eines Verfassungsorgans, nämlich auf Bundestagsabgeordnete. Die werden ja teilweise immer noch unter Polizeischutz hier gestellt aufgrund der Handlanger des türkischen Präsidenten in Deutschland, die ihr Unwesen treiben. Ich finde, da müsste zumindest erst mal eine Entschuldigung kommen der türkischen Regierung, was man hier gegenüber Deutschland eigentlich vom Zaun gebrochen hat in den letzten Wochen und Monaten. Das war alles unterirdisch. Und das Nächste ist natürlich: Die Türkei ist nicht jetzt demokratisch und ist auch kein Rechtsstaat. Die Türkei ist weit entfernt davon und deshalb, um ein wirklicher Partner zu sein, muss die Türkei ihren Weg nicht in Richtung islamistischer Unterdrückungsstaat, sondern in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beschreiten, auch um weiter beispielsweise EU-Beitrittsverhandlungen zu führen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.