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Freischaffende Musiker im Lockdown
Raus aus dem Corona-Sumpf

Konzerte abgesagt, Tourneen verschoben, gemeinsame Proben unmöglich: Freie Musikerinnen und Musiker trifft die Corona-Pandemie besonders hart. Die staatlichen Hilfen reichen längst nicht aus, die wirtschaftliche Existenz mitunter bedroht. Trotzdem gewinnen einige von ihnen der Zwangspause Positives ab.

Von Sebastian Zimmermann |
    Viele Menschen mit Orchesterinstrumenten in der Hand stehen in einem weißen Raum.
    Nach einem Millionenverlust sucht das Freiburger Barockorchester nach Wegen aus der Corona-Pandemie. (Foppe Schut)
    Caspar Vinzens ist Bratschist und ein Teil des Aris Quartett. Mit ihren Kammermusik-Interpretationen konnte sich das Frankfurter Ensemble seit 2009 einen Namen in der Szene machen. Das Quartett gewann mehrere Preise beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD und die BBC erklärte sie zu "New Generation Artists". Nach vier CD-Produktionen sollte im Herbst 2020 das fünfte Studio-Album erscheinen. Doch seit dem Frühjahr müssen die vier Musiker warten. Warten, bis Konzerte wieder möglich sind:
    "Wir haben die ganzen letzten Jahre weit über hundert Konzerte gespielt in der Saison. Das heißt, wir sind sehr viel unterwegs und jetzt von Hundert auf Null in so kurzer Zeit, das ist schon wirklich sehr gewöhnungsbedürftig, das muss ich schon sagen."
    Im März 2020 fährt das öffentliche Leben runter: Opernhäuser, Museen, Theater, Kinos und Konzerthäuser – alle müssen schließen. Die Leidtragenden sind nicht nur die Besucherinnen und Besucher, sondern vor allem – die Musikerinnen und Musiker selbst. Auch wenn die strengen Auflagen mittlerweile gelockert werden, sind die Folgen der Corona-Pandemie für freie Künstler nicht abzusehen. Der Staat hat zwar schnell reagiert und Hilfen verteilt – aber reicht es?
    Das Aris Quartett aus Frankfurt am Main bekommt den Lockdown am 26. März zum ersten Mal zu spüren. An diesem Tag fällt ihr erstes Konzert aus, berichtet Caspar Vinzens: "Das war in Wien, Österreich war uns da, glaube ich, im Verhältnis zu Deutschland auch einen Schritt voraus. Das haben wir leider wirklich sehr bedauert, weil uns dieses Konzert besonders wichtig war, insofern, dass wir uns unheimlich darauf gefreut haben. Zum ersten Mal im Musikverein zu spielen, am Todestag von Beethoven, im Beethovenjahr, mit zwei Beethovenquartetten und einer Uraufführung, die sich auf diese Quartette bezieht - das Konzert war wie gemacht für diesen Tag."
    Ungewohnte Freiheiten in der Zwangspause
    Der Beginn einer langen Zeit, in der das Streichensemble nicht mehr weiß, wann es weitergehen könnte. Und der Tourkalender ist voll: Jeder Auftritt, jeder Termin ist genau geplant. Ein Schlag für die Musiker. Diese Zeit des Nichtstuns, des Wartens - für das Aris Quartett bedeutet sie zwar einerseits, auf Einnahmen durch Konzerte verzichten zu müssen. Gleichzeitig genießen die Musiker auf einmal ungewohnte Freiheiten. Sie können durchschnaufen, müssen nicht in ihren durchgetakteten Terminkalender schauen. Und sie haben viel Zeit zum Proben. So viel Zeit, um an neuen Stücken zu feilen, gab es sonst kaum.
    Viele Berufe sind auch in einem sogenannten Lockdown möglich. Klar, die Arbeitsabläufe verändern sich, doch heute geht vieles auch ‚online'. Aber ein Musiker kann nicht einfach ins Homeoffice wechseln. Das Aris Quartett beschließt, erstmal eine kurze Pause einzulegen. Erst Mitte April können sich die Musiker wieder regelmäßig zur Probe treffen, natürlich mit vorgeschriebenem Sicherheitsabstand.
    Während sich das Streichquartett recht einfach an neue Hygiene-Vorgaben halten kann, sieht es bei große Klangkörpern schon anders aus. Das Freiburger Barock Orchester kam Anfang März, kurz vor den beginnenden Kontaktbeschränkungen, aus Australien zurück. Die beiden Konzerte in Melbourne sollten für längere Zeit die letzten Auftritte für das Ensemble gewesen sein. Für die meisten der 29 Musikerinnen und Musiker ist das Orchester der eigentliche Arbeitsmittelpunkt. Sie sind gleichzeitig auch Gesellschafter und somit Miteigentürmer. Normalerweise zahlt sich das aus: Das Orchester, dass sich vorwiegend der Alten Musik verschrieben hat, spielt auf der ganzen Welt Konzerte und arbeitet mit Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Teodor Currentzis oder René Jacobs zusammen.
    Geigerin Beatrix Hülsemann: "Das war ein Szenario, wo der Vorhang einfach immer mehr runterging. Wir haben dann gehofft, dann treffen wir uns einfach im Ensemble-Haus in Freiburg, wo wir mit 20 Musikern bestimmt, meinetwegen 30 Musikern, in einem großen Raum sitzen könnten, aber dann war die Frage: wofür? Und was sollen wir damit machen?"
    Solo-Tangos statt Orchesterstücke
    Was bleibt einem jetzt als Musiker? Einfach das Programm wie gewohnt weiterspielen? Beatrix Hülsemann übt zwar viel – aber keine Orchesterliteratur, die in den nächsten Monaten auf dem Tourplan gestanden hätte. An die kommenden Auftritte denkt sie nicht. Auf Verdacht oder ins Leere zu üben - das kommt für sie nicht in Frage: "Ich versuche mich selber bei Laune zu halten, ich habe mich mit einem Werk beschäftigt, was im Musiker-Alltag ein bisschen kompliziert ist zu üben, weil man mehrere Instrumente braucht, man muss die alle unterschiedlich stimmen. Aber dafür braucht man einen langen Atem und es ist kein Termin fix, das heißt, das ist alles ein bisschen wie Wolken in den Himmel gemalt. Und dann packt es mich wieder, und dann schnapp ich meine moderne Geige und spiele halt irgendwelche Tangos – da muss ich sagen, das hilft mir dann auch immer wieder, aus so einer Lethargie oder Frustration rauszukommen. Wie gesagt, das schwankt sehr bei mir."
    Ähnlich wie Beatrix Hülsemann erging es dem österreichischen Dirigenten Azis Sadikovic. Auch für ihn gilt: Auf unbestimmte Zeit gibt es keine Konzerte mehr. Der 36-jährige Dirigent aus Wien schloss 2008 sein Studium des Dirigierens an der Konservatorium Wien Privatuniversität ab. Von 2007 bis 2012 war er Chefdirigent des Akademischen Symphonie Orchesters Wien. Unter anderem leitete er das Wiener Kammerorchester und das Danish National Radio Orchestra. Für Azis Sadikovic sind Konzertabsagen in Österreich nicht die einzige Katastrophe. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, machen nahezu alle Länder in Europa zusätzlich ihre Grenzen dicht. Ihm wird schnell klar, dass die Reisefreiheit innerhalb der EU, die für ihn besonders wichtig ist, erstmal eingeschränkt wird. Und dass Reisen über Staatsgrenzen hinweg wahrscheinlich erst wieder vollständig möglich sind, wenn der passende Impfstoff bereitsteht.
    In Österreich gibt's für sechs Monate 3000 Euro
    In Österreich können Leidtragende einen Corona-Härtefallfonds beantragen. Das heißt, man ist berechtigt, innerhalb eines neunmonatigen Zeitraums sechs Monate anzugeben, für die der Staat eine Entschädigung zahlt. Ende Mai führte die Regierung zusätzlich noch einen sogenannten "Comeback-Bonus" über 500 Euro ein. Dieser wird pro Monat an den Antragsteller ausgezahlt – so kommen bei sechs Monaten schon mal 3000 Euro zusammen.
    Azis Sadikovic stellt die Beantragung von Unterstützungs-Geld vor keine große Hürden. Die Abwicklung ist einfach und funktioniert schnell. Wenn doch jemand Probleme mit der Antragstellung hat, versuchen die Behörden in der Regel umgehend und flexibel zu reagieren und zu helfen. Um den Ausfall etwas abzufedern nimmt Dirigent Sadikovic kurzfristig einen Job als Musiklehrer an einer Musikschule an. Denn bei den staatlichen Hilfen zögert er noch. Er will sich diese für Monate aufheben, in denen die Ausfälle am größten sein werden: "Wenn ich eh verdient habe oder noch aufgrund meiner Tätigkeit als Unterrichtender, wird das im Sommer wahrscheinlich schlimmer werden, und dann würde ich es da gern da nutzen. Also, man sollte auch ein bisschen kalkulieren, nicht jetzt blindlings einfach alles in Erwägung ziehen und dann geht einem gegen Ende des Jahres die Puste aus, sondern einfach schauen, wo es am ökonomischsten ist für jeden und demnach funktionieren."
    Zeit für Zukunftssorgen der gesamten Branche
    Die Folgen der Corona-Pandemie, die Kontaktsperren, die die Regierungen in Kraft gesetzt haben, treffen den Dirigenten voll – doch bleibt Azis Sadikovic hinsichtlich finanzieller Einbußen zunächst ruhig, beinahe nüchtern. Die Tatsache, dass er sich kurzfristig einen anderen Job suchen konnte und die Möglichkeit, vom Staat Hilfen in Anspruch nehmen zu können, sichern ihn in dieser Hinsicht ersteinmal ab. Er nutzt die freigewordene Zeit für seine Familie. Und er hat die Freiheit, sich Gedanken machen zu können. Plötzlich beschäftigt ihn etwas ganz Anderes: Was macht diese Zeit mit der Kultur im Allgemeinen? Bietet sich jetzt die Chance, den Begriff der Kultur und der Kunst neu zu definieren? Denn für Azis Sadikovic "stagniert" die Kultur. Es gebe immer mehr Künstler auf dem Markt, gleichzeitig bleibe junges, neues Publikum weg. Die Chance auf eine Neudefinition der Kultur und deren Gestalt liege jetzt in der jungen Generation. Für den Dirigenten ist das ein völlig normaler Prozess:
    "Weil, die alte Riege wird einmal nicht mehr da sein, wir sind alle vergänglich, das müssen wir wissen. Was ist Kultur? Was ist Kunst in unserer Generation, in der darauffolgenden Generation und vor allem in der Zukunft. Und ich finde, wenn man das verabsäumt, dann werden wir einen Trott weitergehen, der vor Corona-Zeiten sich irgendwie festgerannt hat und aber auch keine Zukunftsaussichten mehr zulässt. Also, die Definition der Kultur muss meiner Meinung nach schon in den Schulen beginnen, muss im Kindergarten beginnen, muss eigentlich schon zu Hause in den eigenen Räumen beginnen: Was bedeutet Kunst und wie wichtig ist Kultur?"
    Für den Dirigenten gilt es jetzt aus Fehlern zu lernen. Sadikovic fordert, dass sich die Verantwortlichen nun mit Kritik auseinandersetzen müssen, Dinge nach Corona anders zu gestalten. Der Re-Start sei jetzt genau der richtige Zeitpunkt für die Kunst und Kultur: "Wollen wir immer in der Vergangenheit hängen? Was wir ja wohlgemäß auch tun, vor allem als klassische Musiker, weil wir ja Musik spielen, die mehrere hundert Jahre alt ist. Oder geben wir auch der Zukunft und vor allem der Gegenwart die Chance, Veränderungen zuzulassen und eben auch diese Fehler der Vergangenheit wettmachen zu können?"
    Millionenverlust bei Freiburger Barockorchester
    Wer überhaupt von möglichen Vorteilen einer sich neu entwickelnden Kunst- und Kulturlandschaft profitieren will, der muss natürlich die Corona-Krise halbwegs schadlos überstehen. Das Freiburger Barockorchester wird vom Stillstand der Kultur voll getroffen. 75 Prozent seiner Einnahmen erwirtschaftet das Ensemble durch Konzerte. Für die Zeit von Anfang April bis Anfang September entsteht ihm ein Verlust von etwa 1,3 Millionen Euro. Die Leidtragenden: Das sind vor allem die zahlreichen freien Musiker, die das Orchester beschäftigt. Die aus vielen europäischen Ländern kommenden Gastmusiker, die vom Ensemble für bestimmte Konzertreihen gebucht werden, können jetzt nicht mehr bezahlt werden.
    So verlieren die Musiker in diesem Sommer schnell mehrere Tausend Euro. Diejenigen, die in Baden-Württemberg leben, nutzen die Soforthilfe des Landes in Höhe von 1.180 Euro pro Monat – in anderen Bundesländern sind die Künstler gezwungen, Hartz IV zu beantragen. Der letzte Strohhalm ist jetzt die Hilfe vom Staat – oder die von Initiativen wie der "Deutschen Orchesterstiftung". Die Stiftung finanziert sich aus Spenden und hat für die freiberuflichen Musiker in Deutschland einen Nothilfefonds eingerichtet. Bislang kamen hier über 2,1 Millionen Euro zusammen. Mehr als 3000 Anträge konnte die Stiftung mit je 400 Euro bewilligend.
    Staatliche Hilfe reicht kaum aus
    Der Intendant des Freiburger Barockorchesters, Hans-Georg Kaiser, erklärt, dass diese Hilfen kaum ausreichen: "Manche Musiker haben bei der GvL, also bei der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten Soforthilfe beantragt, das sind allerdings nur 250 Euro. Die haben aber auch teilweise diesen Vorschuss in Anspruch genommen, die die GvL den Musikern angeboten hat. Aber manche mussten auch Grundsicherung beantragen, also Arbeitslosengeld II, weil dann die Situation so prekär ist, dass die Musiker einfach nicht mehr wissen, sie sie im nächsten Monat ihre Miete bezahlen können. Diese Situation gibt’s auch bei uns."
    Das Freiburger Barockorhester ist ständig im Kontakt mit dem Land Baden-Württemberg und hofft, auch etwas aus den Töpfen abzubekommen, mit denen auch Unternehmen geholfen wird. Dank eines Förderprogramms der Baden-Württemberg-Stiftung ist mittlerweile sichergestellt, dass das Freiburger Barockorchester in der kommenden Saison zusätzliche Konzerte in Baden-Württemberg spielen kann. Zu diesen Veranstaltungen will das Orchester vor allem diejenigen einladen, die in die Krise die härtesten Jobs hatten: Krankenschwester und -pfleger, Ärzte, Polizistinnen.
    Mit diesen Konzerten bekommt das Ensemble die Chance, seine Defizite wieder etwas auszugleichen. Dazu kommt: das deutsche Zuwendungsrecht gestattet es dem Orchesters nicht Rücklagen zu bilden. Auch für andere Gesellschaften bürgerlichen Rechts ein großes Problem. Die Gefahr einer Insolvenz sieht Intendant Hans-Georg Kaiser trotzdem nicht. Denn die Solidarität und die Spendenbereitschaft zahlreicher Fans sei sehr groß: "Wir werden sicher kleinere Brötchen backen müssen, die Perspektive für den Herbst ist nicht wirklich sehr gut. Das wäre natürlich eine Verlängerung dieser Krise, und dann wird es für unsere Musiker auch immer schwieriger. Ich meine jetzt vor allem auch diese Gastmusiker, mit denen wir regelmäßig arbeiten. Die, glaube ich, können vielleicht mal so ein paar Monate Durststrecke irgendwie überstehen, aber wenn das dann viel länger gehen sollte, dann wird es, glaub ich, für alle ganz eng."
    Neue Hobbys können berufliche Leere nicht füllen
    Während Intendant Kaiser auf allen Wegen versucht, sein Orchester über Wasser zu halten, empfand Geigerin Beatrix Hülsemann den Corona-Stillstand zunächst wie ein tiefes Durchatmen. In dieser unfreiwilligen Auszeit stellt sie sich jedoch mehr und mehr die Frage, wie es jetzt überhaupt weitergehen soll: "Nach diesem tiefen Luftholen war dann so die die Situation: Ja, was mache ich denn jetzt, und wo kriege ich Geld her? Und sollte ich mich vielleicht doch als Erntehelferin irgendwie ganz schnell bewerben, oder sollte ich in einem Krankenhaus im Lager arbeiten? Da wurde mir sogar fast was angeboten. Ich habe dann aber beschlossen, dass ich erstmal Stille halte und gucke, was so kommt und nicht gleich wieder in einen großen Aktivismus verfalle."
    Beatrix Hülsemann nimmt sich ganz bewusst Zeit für sich. Vieles, was sonst immer zu kurz kommt, kann sie jetzt endlich machen. Lesen, alleine spazieren gehen, sie entdeckt, wie sehr es ihr Spaß macht, ihren Garten zu pflegen. Sie will schauen, was sie wirklich braucht. Viel Geld benötigt sie im Moment sowieso nicht: Sie kann nicht ins Theater, in die Oper oder ins Kino, die Restaurants haben auch zu. Dazu kommt, dass sie sie erstmal vom Ersparten leben kann. Sie genießt es, ein, für Corona-Verhältnisse, normales Leben führen zu können. Ohne Strapazen durch mehrtägige Orchester-Reisen. Mit der Zeit wird ihr jedoch bewusst, dass ihr der musikalische Austausch, der Input von Musikerfreunden, von Musikerkolleginnen: "Vor wenigen Tagen ist mir aufgefallen, dass sich das so anfühlen muss, wenn man wirklich über längere Zeit arbeitslos ist. Dass es irgendwann so an der Substanz nagt, obwohl wir jetzt wissen, warum wir nicht spielen können. Aber ein Stück von einem selbst irgendwie... nicht in Frage gestellt ist, aber einfach so der Boden unter den Füßen weggerutscht ist und sich dann manchmal so etwas, wie eine Lethargie oder eine Lähmung breitmacht. Das ist Gott sei Dank nicht immer bei mir so, ich weiß das auch von anderen Freunden, Musikern, denen das auch immer mal so geht, die sich dann aber auch wieder rausreißen. Ja es schwankt, es ist wie Ebbe und Flut."
    Ersparnisse schnell aufgebraucht
    Auch das Aris Quartett muss jetzt von dem leben, was es sich angespart hat. Zum Glück haben die vier Musiker für den Fall, sich mal eine Auszeit zu nehmen ein kleines Polster angespart. Von diesem können sie sich jetzt selbst ein Minimalhonorar auszahlen. Trotzdem ist es für das Quartett ärgerlich, denn dieses Geld hatte man sich eigentlich zurückgelegt, um bewusst eine Konzertpause einzulegen oder einen Ausfall durch eine Verletzung kompensieren zu können. Doch ewig kann das nicht gutgehen: "Natürlich fängt auch jeder einzelne von uns an zu rechnen, was habe ich denn tatsächlich auf dem Konto? Mit was kann ich rechnen? Und wie lang komm ich damit durch? Und das ist etwas, was ganz individuell bei jedem abläuft, die Kosten sind ja irgendwo auch individuell. Aber natürlich, wenn das jetzt über eine lange Zeit geht, über ein halbes, drei Viertel, ein ganzes Jahr und einfach nach wie vor kein Euro reinkommt, dann ist das natürlich irgendwann alles nicht mehr zu decken."
    Einen Plan B haben die Musiker derzeit nicht. Doch sie sind realistisch – sie wissen, dass sie sich im Notfall mit einer Alternative anfreunden müssten. Sollte sie für das Quartett keine Zukunft mehr sehen, würden sie eigene Wege gehen, möglicherweise ein neues Studium. Interesse an anderen Bereichen wäre sogar vorhanden, erzählt Caspar Vinzens. Doch an solch eine Exit-Option möchten die vier lieber nicht denken. Die Musiker versuchen lieber zu genießen, nun viel mehr Muße in ihre Stücke investieren zu können: "Wir haben noch nie so viel Zeit und Ruhe gehabt uns mit gewissen Sachen auseinander zu setzen und vor allem auch ganz, ganz intensiv zu proben, so in Ruhe zu proben, das war schon einmalig."
    Skepsis gegenüber Streaming-Angeboten
    In der Musiklandschaft bildet sich ein Vakuum. Künstler, wie das Aris Quartett, finden kein Gehör mehr, erreichen nicht mehr ihr Publikum. Für viele Musiker werden soziale Medien plötzlich zur neuen Bühne. Kommen die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht mehr ins Konzerthaus oder in den Club, dann kommen die Kreativen eben zu ihnen: Laptop an und das Video im Stream genießen – eigentlich eine perfekte Überbrückung, bis das alte Leben wieder losgehen kann. Das Aris Quartett versteht zwar, dass sie auf diese Weise ihrem Publikum in Erinnerung bleiben können, trotzdem haben die Musiker große Bedenken. Die Qualität ist einfach zu schlecht, sagt Caspar Vinzens stellvertretend für das Ensemble, aber vor allem fehlt ihnen der Austausch zwischen Künstler und Zuhörer. Für das Quartett bergen Social-Media-Konzerte eine Gefahr: "Dass später, hinterher durchaus politisch argumentiert werden könnte, dass wir Künstler doch bewiesen haben, dass alles auch so läuft. Warum sollen dann noch die Gelder, die fließen – jetzt unabhängig von Hilfsgeldern, sondern im regulären Betrieb ohne Krise, da fließt ja schon wirklich nicht mehr viel Geld in die Kultur – und warum sollte das denn noch fließen, wenn wir Künstler in der Krise der Krisen beweisen, dass alles auch so funktioniert. Ich finde, es funktioniert gar nichts, es darf nichts funktionieren, weil Kunst für mich wirklich erst dann richtig entsteht, wenn man sie erlebt. Und ich finde, man kann sie nicht erleben, wenn man sich nicht begegnet."
    Die Kommunikation mit dem Publikum, das im selben Raum sitzt – das ist das, was die vier an ihrem Beruf so sehr lieben. Und deshalb warten sie lieber ab: "Unsere Meinung ist, dass das einfach genauso schlimm sein muss, wie es sich anhört! Es kann grad nicht stattfinden, es funktioniert für uns unter diesen Umständen nicht, das zu tun, das wir gerne tun. Wir sind völlig ausgehungert, wir wollen unbedingt das machen, wir warten sehnlichst darauf."
    Stille auf den Bühnen soll auch online abgebildet werden
    Auch beim Freiburger Barockorchester diskutiert man über Social Media-Auftritte, entscheidet sich jedoch zunächst, nichts ins Netz zu stellen. Viele Mitglieder waren zu Beginn der Pandemie der Meinung, dass die Stille in der Kultur abgebildet werden müsse. Doch nach etwa zwei Monaten werden die Musikerinnen und Musiker offener. Weil der Konzertbetrieb des Ensembles längere Zeit eingeschränkt sein wird, überlegt man sich neue Konzepte, sagt Intendant Hans-Georg Kaiser: "Wir fahren mit Fahrrädern durch die Stadt und halten immer mal wieder woanders an und spielen. Wir versuchen auch Konzerte aus unserem Ensemblehaus in Freiburg, wo wir einen großen Saal haben, nach draußen auf eine Leinwand zu streamen, so dass Leute auf der Wiese sitzen können, wenn das Wetter schön ist, dann kann das auch sehr gut funktionieren."
    Das Freiburger Barockorchester kann diese Projekte mit Spenden finanzieren. Auch die Einnahmen aus verkauften Tickets für ausgefallene Konzerte kann das Orchester behalten – die meisten Käuferinnen und Käufer verzichten auf eine Rückerstattung. Eine Tatsache, die den FBO-Intendanten positiv auf die Zeit nach Corona stimmen lässt: "Ich glaube, da kann man wirklich sagen: Da hat Kultur in den letzten Wochen auch viel an Zuspruch erfahren dürfen. Vielleicht kommt die Kultur aus dieser Krise gestärkt heraus, dass man auch ein bisschen selbstbewusster auch auftreten kann."
    Kultur "kein Sahnehäubchen"
    Auch Caspar Vinzens vom Aris Quartett hat das Gefühl, dass die Leute, nach Wochen der Corona-Krise, viel stärker auf Kultur angewiesen sind. Obwohl er nach wie vor das Gefühl hat, dass Kunst und Kultur als eine Art Sahnehäubchen wahrgenommen wird: "Das wird als ein Extra Add-on gesehen und nicht als etwas, wie es so schön heißt, systemrelevantes, und das finde ich ein ganz großes Problem, sondern ganz pauschal, was Kultur generell betrifft. Ich finde, dass da alles einen Platz und eine Wichtigkeit haben sollte und das habe ich jetzt in der letzten Zeit sehr viel vermisst, muss ich ehrlich sagen, vermiss ich nach wie vor."
    Der Bratschist hat Angst um die Kulturlandschaft und die Wichtigkeit der Kultur. Für ihn kann der Hunger nach Kunst nicht groß genug. Für den Fußball beispielsweise hatte man den 15. Mai als Stichtag gesetzt, an dem es wieder losgehen sollte. Einen bundesweiten Stichtag in der Kultur vermisst er: "Aber wann geht’s bei uns los? Da fragt keiner nach und dann sagt’s auch keiner. Das Problem ist und liegt auf der Hand: Die Kunst hat keine Lobby und viele andere Branchen haben eine Lobby und dort ist sehr viel mehr Druck, dort ist die Dringlichkeit sehr viel wichtiger, weil es um, ich weiß nicht wie viel Geld geht."
    Musik ist verbindender "Ur-Instinkt"
    Für Azis Sadikovic zeigt sich die Kunst nun vor allem im Drang nach Solidarität, im Drang zur Gemeinschaft. Denn in der Corona-Zeit hat man die Zusammengehörigkeit schließlich in der Kultur und in der Kunst gesucht, im gemeinsamen Singen und Applaudieren. Auch wenn diese anfängliche Euphorie nur wenige Wochen angehalten hat - für den Dirigenten ist das ein Beweis, wie viel Kraft die Musik besitzt. Ein Ur-Instinkt, der bei uns vorhanden ist: "Wir hatten einen lieben Nachbarn, der sich eines Tages aus der Corona-Krise hervorgetan hat und gesagt hat 'wir singen das Coronavirus jetzt einfach weg'. Und er hat Lieder adaptiert hat seine Fenster geöffnet in der Straße, hat die Boxen aufgestellt, er ist Schlagzeuger, hat sein Schlagzeug rausgestellt und hat jeden Tag, Punkt 19 Uhr, dieselben vier Lieder gesungen, die Texte hat er an den Hausmauern aufgeklebt. Auf das hat man sich gefreut, dass man kurz rauskonnte, sich auf der Straße versammelt hat. Und was hat das zum Ergebnis gehabt? Man hat seine Nachbarn auf einmal kennengelernt, man hat mit dem Nachbar gesungen gemeinsam. Und das ist die Kunst und die Kraft der Kunst und Kultur."
    Seit März 2020 steht das Leben freischaffender Musikerinnen und Musiker auf dem Kopf. Keine Auftritte, dafür Existenzängste. Die staatlichen Hilfen wirken nicht bei Jedem. Während die einen auf Zuschüsse der Länder setzen können, sehen andere noch keinen Cent. Mittlerweile bieten manche Veranstalter vorsichtig einzelne Konzerte an – aber immer schwingt die Angst vor einer zweiten Welle mit. Wie beim Aris Quartett, das im Juni endlich wieder ein erstes Konzert spielen durfte, wenn auch mit Sicherheitsabstand und wenigen Zuschauern. Das Freiburger Barockorchester sucht sich zwischenzeitlich neue Wege und streamt von drinnen nach draußen. Pleite ist aber bisher noch keiner von ihnen gegangen. Auch Dirigent Sadikovic kann die Zeit ohne Auftritte erstmal wegstecken. Was alle vereint, ist der finanzielle Verlust. Gleichzeitig entdecken die Musikerinnen und Musiker, wie sie kreativ gewohnte Pfade verlassen und so dieser Auszeit, zumindest zu einem kleinen Teil, etwas abgewinnen können. Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine Zäsur. Sie ist ein Innehalten der gesamten Kulturbranche.