Silvia Engels: Bei der Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen seit Jahresbeginn handelt es sich ja um EU-weit gültige Regelungen. Wir gehen deshalb auf die europäische Ebene, und wir haben uns dazu verabredet mit Nadja Hirsch. Sie sitzt für die FDP im Europäischen Parlament und ist dort stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Guten Tag, Frau Hirsch!
Nadja Hirsch: Hallo, Frau Engels!
Engels: Wie wird denn dieser Streit, der ja in Deutschland tobt, auf europäischer Ebene wahrgenommen, wenn Sie beispielsweise mit Kollegen sprechen?
Hirsch: Also für uns, auf europäischer Ebene, ist dieses Thema eigentlich überhaupt nichts Neues. Sie wissen, dass generell es Armutswanderungen gibt, im Übrigen nicht nur nach Deutschland, also wir haben hier auch andere Mitgliedsstaaten, die das Thema kennen, aber man muss auch ganz klar sagen, wir sehen, dass das ein Problem ist, das nicht im Ansatz so groß ist, wie das im Moment rein gefühlt aus der Medienberichterstattung wahrgenommen werden würde, oder gar, wie es sozusagen auch die CSU im Moment glauben machen will.
Engels: Auch in Großbritannien ist die Sorge vor einem Zustrom bulgarischer und rumänischer Arbeitssuchender groß. Sind denn auch andere EU-Staaten so in Sorge wie Deutschland?
Hirsch: In jedem Land – wir haben hier ja auch sozusagen den Austausch auch im Ausschuss – haben wir das Thema, was zum Beispiel ein Thema ist schon seit mehreren Jahren, ist die Lage vor Ort in Rumänien, in Bulgarien, ganz gezielt die Situation für die Menschen dort zu verbessern. Da gibt es ja auch diese bekannten Fonds, die abgerufen werden könnten. Leider macht das Bulgarien und Rumänien zum Beispiel sehr zaghaft nur, sodass wir jetzt im Moment zum Beispiel sagen: Wieso sollten nicht Mitgliedsstaaten wie Deutschland, wie England diese Gelder abrufen können, wenn sie eben vor Ort, zum Beispiel in Dortmund oder auch in Duisburg, in Berlin tatsächlich Bulgaren oder Rumänen haben, die einen verstärkten Integrations- oder Bildungsbedarf haben?
Engels: Geht das denn EU-rechtlich überhaupt? Denn eigentlich sind diese Mittel ja gebunden, und sie können ja auch von den Mitgliedsstaaten normalerweise nur abgerufen werden für diesen Zweck und können nicht einfach umgewidmet werden.
Hirsch: Ich sage immer, Gesetze sind nicht dafür da, dass man die Politik anpasst, sondern die Politik muss die Möglichkeit haben, auch dann Gesetze oder die Vorgaben für diese Fonds abzuändern. Und wir sehen, dass die Notwendigkeit im Moment besteht, hier die Kommunen zu unterstützen, und insofern ist das zum Beispiel ein Anliegen, wo sich doch die CSU sehr viel mehr an Zeit und Kraft investieren könnte, hier zum Beispiel den Kommissar auch davon zu überzeugen. Oder auch, dass die Bundesregierung hier im Rat aktiv werden würde, denn Möglichkeiten und Ausnahmen gibt es immer.
Engels: Dann schauen wir noch mal auf die Situation in Deutschland. Hier kommt ja hinzu, dass verschiedene Gerichte in den vergangenen Wochen und Monaten unterschiedlich geurteilt haben, wenn es darum geht zu klären, welche Sozialleistung wann welchem EU-Zuwanderer zusteht. Braucht es hier eine Klärung auf europäischer Ebene?
Hirsch: Es ist im Moment tatsächlich – beim EuGH liegt etwas vor, sodass wir darauf warten, dass hier eine Entscheidung vom EuGH kommt. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass es im Prinzip dieses Recht auf Freizügigkeit gibt, das wir auch verteidigen wollen, aber laut EU-Recht haben sozusagen nur arbeitende EU-Bürger Recht auf Sozialleistungen. Insofern gibt es da eigentlich schon ganz klare Gesetze im Moment. Wenn sozusagen es Urteile gibt, die EU-Ausländern ohne Aufenthaltsrecht innerhalb der ersten fünf Jahre Ansprüche auf Hartz IV zuerkennen, dann sagt die EU-Kommission, ist das allein deutsche Rechtsprechung, sodass hier auch im Moment noch diskutiert wird, handelt es sich dann tatsächlich bei ALG II um Sozialhilfe oder handelt es sich zum Beispiel nicht vielmehr um Wiedereingliederungshilfe in den Arbeitsmarkt?
Engels: Aber da ist es ja auch genau das Problem. Wie lässt sich denn im Einzelfall überhaupt nachweisen, dass ein EU-Bürger in einem anderen Land eben nicht auf Arbeitssuche ist, sondern von vornherein nur die dortigen Sozialleistungen im Auge hat.
Hirsch: Wenn jemand in ein Land kommt, hat er das Recht, dort auch sich Arbeit zu suchen. Aber er hat nicht das Recht, innerhalb dieser ersten drei Monate Geld vom Sozialstaat zu bekommen. Das heißt, erst, wenn sie gearbeitet haben, erst, wenn sie auch eingezahlt haben, dann haben sie die Möglichkeit, auch Geld zu bekommen.
Engels: Da ist die Lage in Deutschland ja etwas unklar. Bei Hartz-IV-Leistungen mag das gelten, bei Kindergeld sieht es schon etwas anders aus.
Hirsch: Genau, richtig. Kindergeld kann aus verfassungsrechtlichen, europarechtlichen Gründen nicht alleine deswegen verweigert werden, weil die Kinder nicht bei ihren Eltern in Deutschland leben, sondern zum Beispiel im Heimatland. Das ist noch mal sozusagen ein separater Aspekt. Aber im Moment geht ja die Diskussion hauptsächlich um Hartz IV. Und da haben wir tatsächlich im Moment eine Gesetzgebung, die eigentlich das relativ klar darstellt, aber auch teilweise andere Urteilssprüche aus Gerichten. Und insofern ist es sicherlich sinnvoll, dass der EUGH hier die Klarheit schafft – ist es eine reine Sozialleistung oder ist es eben eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt? Und dann könnte die Situation tatsächlich anders aussehen, weil wir hier ja dann sozusagen diesen Aspekt Binnenmarkt haben, und da muss man dann sehen, inwieweit man einzelne Menschen benachteiligen darf oder nicht. Insofern ist diese Klärung, diese scheinbar feine Klärung durchaus nicht unwichtig.
Engels: Im Mai stehen ja die neuen Wahlen zum Europaparlament an. Rechnen Sie damit, dass das Thema Zuwanderung innerhalb der EU zum großen Wahlkampfthema wird?
Hirsch: Ich denke mal, man hat jetzt schon gemerkt, dass die CSU ganz klar mit diesem Thema versucht, den Europawahlkampf einzuläuten. Ich finde es sehr schade, weil das meines Erachtens kein Thema ist, das in einem Wahlkampf eine Rolle spielen sollte, aber wir sehen auch in anderen Mitgliedsstaaten wie zum Beispiel Frankreich, da hat Marine Le Pen von der nationalen Partei in Frankreich auch ganz klar das Thema Zuwanderung und Arbeitsmigranten aus Polen, Bulgarien, Rumänien auf ihre Tagesordnung gesetzt. Insofern befürchte ich, dass das ein Thema werden wird, ja.
Engels: Wir sprachen mit Nadja Hirsch. Sie ist für die FDP im Europäischen Parlament und dort stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Vielen Dank für das Gespräch!
Hirsch: Vielen Dank auch!
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