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Fremd im eigenen Land

Für Migranten aus Lateinamerika gab es lange Zeit nur eine Richtung: nach Norden, in die USA. Nun hat sich die Tendenz umgekehrt. Immer mehr ausgewanderte Mexikaner kehren zurück in ihre Heimat. Viele Familien stellt die Rückkehr vor eine Zerreißprobe.

Von Florian Meyer-Hawranek |
    "Alle Schüler sofort in die Klassenzimmer", ruft die Direktorin der Secundaria Diez, einer staubigen Mittelschule am Rand der mexikanischen Grenzstadt Tijuana über Lautsprecher. An der Schule herrscht Ausnahmezustand. Der Grund: Neun Polizisten sind in vergitterten Wägen vorgefahren und stehen jetzt im betonierten Pausenhof: die Waffen über den schusssicheren Westen, die Gesichter ernst.

    Der Hund riecht, wenn ihr in den vergangenen Tagen mit Drogen in Kontakt gekommen seid", erklärt der Polizist mit Schnauzbart und Kampfstiefeln den Schülern. Danach schickt er den Schäferhund durch die Stuhlreihen. Er sucht Drogen: Marihuana, Metamphetamin, Kokain. Denn Banden setzen Schüler manchmal als Schmuggler ein.

    Der Hund kriecht unter Tische, schnüffelt in Taschen. Die Lehrer sind aufgeregt, die Schüler eher unbeeindruckt. Der Spürhund hat nichts gefunden. Der Polizist lobt die Klasse, die Kinder klatschen. Sie freuen sich, dass der Unterricht ausfällt. Nur Yesica und Jesús blicken verstört auf die Pistolen der Antidrogeneinheit. Die beiden Schüler leben noch nicht lange in Tijuana – sie sind die meisten Zeit in den USA zur Schule gegangen. Obwohl sie Mexikaner sind:

    "Man gewöhnt sich an die Unterschiede. Aber es hier schon ganz anders als in den USA – alles ist kleiner und dreckiger."

    Yesica ist 14, hat glatte, schwarze Haare wie die anderen Mädchen ihrer Klasse und trägt die gleiche rot-gelbe Schuluniform. Nur wenn sie spricht, erkennt man, dass sie in Las Vegas aufgewachsen ist – und nicht im Land ihrer Eltern.

    "Drüben in den USA war es schon besser – besonders die Schule. Ich hab viel mehr gelernt, weil die Lehrer uns geholfen haben. Wenn ich hier etwas nicht verstehe, wiederholen es viele Lehrer nicht. Meine Eltern wussten das – sie sind aber trotzdem zurück nach Mexiko, weil mein Vater hier zwei Jobs gefunden hat. Und wir Kinder mussten eben mitkommen."

    Yesica ist mittlerweile angekommen in Mexiko. Ihr Klassenkamerad Jesús ist dagegen nach dem Umzug immer schüchterner geworden.

    "Können wir lieber Englisch reden", fragt Jesus vorsichtig, wenn er auf Spanisch angesprochen wird. Sein Blick geht dann zu Boden: Er schämt sich.

    "Wir sind damals zurück nach Mexiko gekommen, weil mein Opa sehr krank wurde und mein Vater ihn selbst pflegen wollte. Als es meinem Opa wieder besser ging, war die Grenze dicht. Wir konnten nicht zurück."

    Jesús Eltern waren vor Jahren auf Jobsuche illegal in die USA gegangen. Um ihren Aufenthaltsstatus kümmerten sie sich nie. Als sie in eine Kontrolle gerieten, blieb ihnen keine andere Wahl – sie zogen wieder nach Mexiko: mit der ganzen Familie.

    "Ich habe vier Brüder und eine Schwester. Wir denken viel darüber nach, zurück in die USA zu gehen. Ich habe beschlossen: Spätestens wenn ich 18 bin, hau' ich ab, vielleicht schon früher. Ich will Architekt werden in den USA."

    Schätzungen der Regierung gehen von einigen Tausend aus, Forscher sprechen dagegen eher von Zehntausenden Kindern, die jedes Jahr aus den USA nach Mexiko kommen. In der Gegenrichtung dagegen nimmt der Druck ab: 2000 zog es noch mehr als 750.000 Mexikaner über die Grenze im Norden. Seitdem sinkt die Zahl. Ein Grund: Die Arbeitslosenquote in den USA lag damals bei vier Prozent. Heute ist sie etwa doppelt so hoch. Und die Wirtschaft sei die größte Triebfeder für die Auswanderung, analysiert der Sozialwissenschaftler Carols Zuñiga.

    "Was gerade in den USA passiert, ist ein Skandal. Dort sagen sie, dass viele Kinder von Hispanics die Schule abbrechen – dass sie nicht mal ihre Schulpflicht erfüllen. Aber als wir uns die Zahlen angeschaut haben, haben wir festgestellt, dass diese Annahme grundlegend falsch ist. Wir haben bemerkt, dass in den amerikanischen Schulen Kinder fehlen – und die müssen in Mexiko sein. Sie haben die Vereinigten Staaten verlassen und sind ins Land ihrer Eltern zurückgekehrt. Jetzt liegt es an uns, diese Kinder zu finden."

    Unterricht im Fach Technik: Damit Schüler wie Yesica und Jesús dem Unterricht auf Spanisch folgen können, haben einige Schulen im mexikanischen Grenzland Förderstunden eingeführt.

    "Wo ist dein anderes Hausaufgabenheft", fragt Bernardo Gilmar erst auf Spanisch, dann auf Englisch. Der bullige Lehrer mit Dreitagebart unterrichtet Naturwissenschaften und spricht fließend Englisch. Die Klasse ist ein Pilotprojekt, auf das er stolz ist. Denn an der Grenze gehe es gerade um viel mehr, als einigen Schülern Spanisch beizubringen, sagt Gilmar.

    "Es geht darum, einer Generation eine wirkliche Chance zu geben. Diese Kinder brauchen eine berufliche Perspektive: Wir müssen uns fragen, wo sollen sich diese Kinder zu Hause fühlen. Auf dieser Seite der Grenze oder auf der anderen. Das ist die große Herausforderung, vor der Mexiko aber auch die Vereinigten Staaten stehen. Genauso wie Kalifornien und auch Tijuana."

    An der Schule sprechen noch zwei weitere Lehrer Englisch, ein Glücksfall für die Kinder – und ein Modell mit Zukunft. Gilmar hofft, dass bald noch mehr zweisprachige Lehrer eingestellt werden – weil sonst die meisten Kinder wieder in die USA zurückgehen, sobald sie können.