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"Fremde Welten", Teil 6
China: Konfuzius, Marx und die Menschenrechte

Die neue chinesische Führung spricht gerne vom "chinesischen Traum", von der Renaissance der chinesischen Nation. Das hat Folgen für die Gesellschaft, denn im Interesse der Nation oder der Familie können die Rechte des Einzelnen beschnitten werden. Doch immer wieder kämpfen auch in China Menschen für mehr Freiheitsrechte.

Von Ruth Kirchner |
    Rote Fahnen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking der Hauptstadt Chinas, aufgenommen am 07.05.2007.
    Die Kommunistische Partei beschwört "chinesische Werte". (picture-alliance/ dpa-ZB / Jens Leonhardt)
    Eine Privatschule im Norden Pekings. Grundschüler rezitieren Texte von Konfuzius über Moral und Gerechtigkeit, Respekt und Verantwortung. Konfuzius ist dieser Tage überall in China: Unterricht in klassischer Philosophie ist populär, Qufu, Konfuzius' Geburtsstadt in Ostchina lebt vom Konfuzius-Tourismus. Im Ausland propagieren Konfuzius-Zentren chinesische Sprache und Kultur. Konfuzianische Weisheiten werden in Management-Seminaren gelehrt. Selbst die Kommunistische Partei, die den alten Gelehrten einst verteufelte, beruft sich heute auf ihn – und propagiert das Konzept der "Harmonischen Gesellschaft". Der Pekinger Politologe Zhang Ming findet die Kehrtwende immer noch befremdlich:
    "Die Herrschenden, die einst gegen Konfuzius waren, fordern jetzt einen konfuzianischen Geist. Sie versuchen, diesen Geist sogar als chinesische "Soft Power" zu exportieren. Aber vieles davon gehört gar nicht nur zu Konfuzius, sondern ist auch Teil des alten feudalen Denkens: Hierarchien, Gehorsam und so weiter."
    Beschwörung "chinesischer Werte"
    Der Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater, des Schülers gegenüber dem Lehrer gilt aber bis heute als fester Bestandteil des konfuzianischen Denkens. Die Kommunistische Partei macht es sich mittlerweile zunutze, wenn sie "chinesische Werte" beschwört und diese vermischt mit einer zweiten Denkschule, die ebenfalls aus der Zeit vor 1949 - also vor dem Sieg der Kommunisten - stammt, sagt der liberale Ökonom Hu Xingdou:
    "Dem chinesischen Denken zufolge ist das Postulat von der 'starken Nation und dem reichen Volk' ein ewiges Thema. Normalerweise kommt die starke Nation zuerst. Und das Land als Ganzes. Demnach ist der Einzelne glücklich solange die Nation stärker wird."
    Staats- und Parteichef Xi Jinping greift auf genau solche Gedanken zurück, wenn er vom chinesischen Traum, von der Renaissance der chinesischen Nation spricht. Plakatkampagnen in ganz China haben diese Werte in den letzten Monaten propagiert: "Chinas Traum, Mein Traum", heißt es auf einem der Bilder.
    Hu Xingdou: "Im alten China ging der Einzelne in der Gesellschaft und der Familie auf. Selbst in klassischen Tusche-Bildern sind die Menschen immer total unbedeutend. Nicht wie in der westlichen Malerei, in der es um die Schönheit und Macht des Individuums geht."
    Diese Sichtweise hat Folgen, denn im Interesse der Nation oder der Familie können die Rechte des Einzelnen beschnitten werden. Auch daher tut sich China bis heute mit individuellen Bürgerechten schwer - obwohl Meinungs- und Pressefreiheit in der chinesischen Verfassung verankert sind. Doch nicht nur im traditionellen Denken, auch in der marxistisch-leninistischen Tradition, in der sich die Kommunistische Partei sieht, wird das Kollektiv betont und nicht der einzelne. Die chinesische Interpretation der Menschenrechte unterscheide sich daher deutlich von der im Westen, sagt Gu Chunde, emeritierter Professor an der Volksuniversität Peking:
    "Der Westen sieht Menschenrechte als individuelle Rechte. Doch in China – sowohl in der Vergangenheit als auch heute - sehen wir Menschenrechte nicht nur als die Rechte des einzelnen, sondern verstehen darunter auch das Recht des Staates auf Unabhängigkeit, das Lebensrecht der Menschen, das Recht auf Entwicklung und so weiter - also kollektive Rechte."
    Aber diese Art der Argumentation teilt nicht jeder. Immer wieder sind auch in der chinesischen Geschichte Menschen für mehr Freiheitsrechte auf die Straße gegangen – etwa die Studenten, die 89 auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstrierten. Liu Xiaobo, der inhaftierte Friedensnobelpreisträger, ist ein vehementer Verteidiger individueller Bürgerrechte. Der bekannte Künstler Ai Weiwei wettert seit Jahren gegen den Versuch der chinesischen Propaganda, universelle Menschenrechte als "westliches Konstrukt" darzustellen:
    "Menschenrechte sind kein Privileg oder Geschenk der westlichen Welt, sondern universelle Werte für alle Menschen. Solche Rechte dürfen zu keiner Zeit und nirgendwo beschnitten werden. Das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein."
    Doch die chinesische Propaganda benutzt den Gegensatz der westlichen und der chinesischen Werte auch gerne dazu, das Machtmonopol der Kommunistischen Partei zu verteidigen und demokratische Systeme zu attackieren. In partei-internen Dokumenten ist von den "sieben Gefahren" die Rede, die die Kommunistische Partei bedrohen: westliche konstitutionelle Demokratie, Pressefreiheit und zivile Mitbestimmung. Nur: Zunehmend stellt sich auch in China die Frage, wie das autoritäre System ohne mehr Mitbestimmung die Konflikte moderner Gesellschaften lösen kann.
    "Chinesischer Traum" als Leitthema der neuen Führung
    Konflikte entzünden sich beispielsweise bei der Ansiedlung von Schwerindustrie. Wie hier im südwestchinesischen Kunming gehen immer wieder Menschen auf die Straße, weil ihre Umwelt verseucht wird und sie sich von der Partei und den Behörden übergangen fühlen. Doch mehr Mitbestimmung lässt die Partei nicht zu. Sie sieht sich dabei nicht nur in der marxistischen Tradition, sondern auch in der Rolle des traditionellen gütigen Herrschers, der weiß, was für die Untertanen am besten ist. Diese Art der Entmündigung bringt liberale Intellektuelle zunehmend auf die Palme. Es gebe historisch gesehen nichts, was gegen mehr Demokratie spreche, sagt Zhang Ming:
    "Was ist denn der Nährboden für Demokratie? Auch die westliche Demokratie ist nicht auf einem natürlichen, demokratischen Nährboden gewachsen. Früher war kein System demokratisch. Aber sobald Gesellschaften ein gewisses Niveau erreichten, brauchten sie Demokratie, es war das einzige Modell, was den Lebensbedingungen entsprach. Man kann doch nicht sagen, einige Länder sind dafür geeignet und andere nicht."
    Was es dafür braucht, ist eine Zivilgesellschaft, Rechtsstaatlichkeit und freie Medien. Dort, wo Menschen damit Erfahrung haben, etwa in der ehemaligen britischen Kolonie und heutigen chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong, werden Forderungen nach Demokratie heute sehr lautstark erhoben. Was Peking mit wachsender Sorge betrachtet. Denn wie der Streit ums Wahlrecht dort ausgeht, könnte auch für den Rest von China Auswirkungen haben.
    Auch deshalb hat die neue Führung vor kurzem den "chinesischen Traum" als ihr Leitthema gewählt. Die Idee der starken Nation findet darin Platz und die Idee des Wohlstands. Alles andere bleibt erst einmal außen vor.