Nur wenn die Kirchen sich verändern, haben sie eine Zukunft - davon sind viele Engagierte überzeugt. Denn immer mehr Menschen kehren den beiden großen christlichen Kirchen den Rücken, Gottesdienste sind nur spärlich besucht, und viele sagen: Das ist nicht meine Welt, sie ist irrelevant für meinen Alltag.
"Wir verpflanzen uns selbst in einen Kontext"
Unverkennbar ist aber auch: Die Sehnsucht nach Spiritualität ist lebendig geblieben - ein Anknüpfungspunkt für Christinnen und Christen, die auch für sich selbst nach zeitgemäßen Formen von Gemeinde suchen. "Fresh-X", Fresh Expressions of Church – frische Ausdrucksformen von Kirche - lautet das aus England eingeführte Zauberwort einer bundesweiten Erneuerungsbewegung. Michael Herbst sagt:
"Sie sollten ganz stark auf einen Kontext bezogen sein und dort auch verwurzelt sein. Also nicht: Kommt ihr doch bitte zu mir! Sondern wir verpflanzen uns selbst in einen Kontext. Sie sollten missional sein, das heißt, sich als Sendung nach außen verstehen. Sie sollten gemeindebildend sein, nicht einfach nur Brücken und in der Hoffnung: Dann sitzen sie bald alle sonntags um 10 Uhr morgens bei uns im Gottesdienst. Und sie sollten lebensverändernd sein. Das heißt, Menschen tatsächlich einen sehr persönlichen Zugang zum Glauben und zum Evangelium eröffnen."
Vier Kriterien für Fresh-X-Gemeinden, die Michael Herbst hier referiert; eine Bewegung, die aus Großbritannien kommt. Herbst ist Theologieprofessor im mecklenburgischen Greifswald und Direktor des dortigen evangelischen Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung. Natürlich ist er in erster Linie nüchterner Wissenschaftler, der unter anderem die Chancen von Fresh-X-Gemeinden für die Zukunft der Kirche auslotet.
"Missionarisch ist eines der verbranntesten Wörter"
Trotzdem ist in seinen Antworten auch persönliches Engagement zu spüren, angesichts dessen, was er als kirchliche Krise versteht: "Ich glaube, dass die größte Gefährdung wäre, dass wir entweder völlig aggressiv auf das reagieren, was in der Kultur passiert, oder uns komplett zurücknehmen und sagen: Da müssen wir eben ganz still und leise sein. Diese innere Verunsicherung, die empfinde ich als sehr massiv. 'Missionarisch' ist eines der verbranntesten Wörter, wenn es um Religiöses geht. In anderen Bereichen sprechen wir ganz selbstverständlich davon, dass ich in Unternehmen eine Mission habe, also eine Sendung, einen Auftrag. Jede Religion hat die Neigung dazu, anderen zu erzählen, was mein Leben im Innersten trägt und hält. Wenn uns das verloren geht, dann haben wir uns selbst aufgegeben."
Mit Jesus auf dem Reiterhof
Szenenwechsel: vom akademischen Diskurs direkt auf den Reiterhof. Hier in Hünxe am Niederrhein hat die Inhaberin eines Therapie- und Reitzentrums das christliche Reiterprojekt "ChrisP" gegründet. Für Menschen wie sie selbst, die sonntagmorgens am liebsten mit ihren Pferden draußen sind, im Sattel auf Wald- und Wiesenwegen oder bei einem gemütlichen Church Brunch in der offenen Scheune, so wie heute. "Kirchen-Frühstück" an Bierzelttischen mit anderen "Pferdemenschen", die Füße im Stroh, die Stalltüren ringsum offen. Mit dabei der Essener Software-Entwickler Ben und die Pferdebesitzerin Tina:
"Es ist weniger eine Gemeinde für mich so im klassischen Sinne als einfach ein Ort, wo ich mich wohlfühle. Dass es weniger um Religion geht, um irgendwelche Formen, sondern dass, wenn Menschen hierhin kommen, dass sie dann was mitnehmen nach Hause. Es ist irgendwie so lebensnah! Die Natur, die Tiere, die Sonne ..."
"Ich habe versucht, meine zwei Leidenschaften zu kombinieren: meine Leidenschaft fürs Reiten und meine Leidenschaft für Gott oder für Jesus. Ich glaube, viele Leute haben auch gar keine Vorstellung mehr davon, dass man losgelöst von Kirche oder dem Kirchenschiff überhaupt von Gott reden kann, dass das im Alltag eine Rolle spielt, und nicht nur sonntags in der Kirche."
"Pferde sind der Spiegel der menschlichen Seele"
Genau das ist das Anliegen von Sabine Budde-Hegmann, eine lebhafte, sportliche Frau und aufmerksame Beobachterin. 2011 hat sie das überkonfessionelle christliche Reiterprojekt gegründet - mit der etwas sperrigen Abkürzung "ChrisP.NRW". Und doch ist es keine Kopfgeburt: Denn die 62-Jährige hat langjährige Erfahrung als Reitlehrerin und Therapeutin, unter anderem für das sogenannte pferdegestützte Coaching. "Pferde sind der Spiegel der menschlichen Seele. Sie zeigen uns, wer wir sind", so das Motto ihrer Website.
"Ich reite ja nun schon ewig und drei Tage und irgendwie habe ich das selber gespürt, dass es da eine Verbindung gibt. Zum Beispiel, dass Pferde derartig gut spiegeln oder ein Gefühl haben für uns, das hat mir selbst oft so gutgetan. Und irgendwann bin ich Christ geworden, da war ich so ungefähr 25. Und ab da hab ich das gespürt, dass das zusammen ist: Dass Pferde einem so was geben wie Liebe, Freundlichkeit, Geduld, Unvoreingenommenheit - und ich habe angefangen, das auf Gott zu übertragen, der mit mir genauso umgeht. Ich hoffe, mit allen anderen auch."
Auf der Suche nach zeitgemäßem Glauben
Religiöse Erfahrungen im Alltag machen, behutsame Glaubensvermittlung, die aus der eigenen Erfahrung kommt und nicht abstrakt ist wie aus Lehrbüchern - das sind typische Merkmale für die jungen, innovativen Fresh-X-Gemeinden überall in Deutschland. Sei es beim Stadtteiltreffpunkt im Plattenbau, bei Heavy Metal-Musik im Tattoo-Studio oder bei charismatischen Gottesdiensten im Kino.
Bundesweit gibt es nach Schätzungen des Fresh-X-Netzwerks mit Sitz in Berlin bis zu 130 Projekte und Initiativen, jede ein Experimentierfeld mit eigenem Charakter. Allen gemeinsam aber ist das Anliegen, neue zeitgemäße Formen für Glaube und Gemeinschaft zu finden. Und der "inneren Verunsicherung," wie Michael Herbst es nannte, Paroli zu bieten.
Auch auf dem Reiterhof am Niederrhein ist das so. Hier gibt es hin und wieder einen "Glaubenskurs mit Pferden", "Weihnachten im Stall" oder berittenes Bogenschießen auf einem anderen Hof. Immer mit Blick auf das Milieu der Pferdeliebhaber, sagt Sabine Budde-Hegmann:
"Die kommen oft hierher und manchmal erzählen sie mir von ihren schlechten Erfahrungen in der Kirche. Zum Beispiel, dass sie die Kirchenlieder nicht mögen, und dass das so bedrückend ist in der Kirche, und dass sie früher mal gerne dort waren, aber den Anschluss verloren haben und sie würden gar nicht verstehen, was der Pastor dort sagt und solche Sachen. Deshalb versuchen wir in unserem Programm, diese alten Erfahrungen nicht anzutriggern: Die Musik nicht zu benutzen, also keine Choräle und so was, so wenig wie möglich fromme Worte zu benutzen und ihnen ein Gemeinschaftsgefühl zu geben, was die Fremdheit hoffentlich ein wenig entfernt."
Berittene Seelsorge
Niedrigschwellige Angebote, wie es im Fachjargon heißt. Beim Scheunenfrühstück ergibt sich das ganz von selbst. Wenn etwa das Pferd auf der Koppel nebenan erstmal ausbüxt und wieder eingefangen werden muss, das gleich bei der kurzen Ansprache des Theologen David Solbach mitwirken soll. Von ehrfürchtiger Stille wie in der Kirche keine Spur - wie im richtigen Leben, genau das ist Teil des Konzepts.
"Ich bin überzeugt, dass wir als Kirchen heute neu lernen müssen, vieles. Ich glaube, dass ein Paradigmenwechsel dran ist. In meiner Zeit als Pastor habe ich möglichst attraktive Veranstaltungen gemacht mit dem Gedanken: Kommt her zu uns, wir haben was Tolles. Heute denke ich, Jesus hat gesagt: 'Gehet hin!', dass das etwas ist, was wir neu üben sollten, wie wir es hier zum Beispiel tun."
Solbach will Menschen heute vor allem auf einer Glaubensreise begleiten. So wie er selbst sich auf einer Entwicklungsreise sieht. Vom traditionellen evangelisch-freikirchlichen Pastor hin zum freien Theologen, Coach und Psychosozialen Berater. Der 44-Jährige hat vor ein paar Jahren sogar extra Reiten gelernt, um bei ChrisP mitzuarbeiten: als Ansprechpartner für Gespräche oder Krisenbegleitung.
"Wir wollen niemanden in eine Kirche bringen"
Finanziert wird das kleine Projekt mit gut 30 Leuten, das sich als Teil der Fresh-X-Bewegung versteht, vom missionarisch orientierten Westdeutschen Gemeinschaftsverband in Duisburg. Solbach sieht die Erfahrungen auf dem Reiterhof auch als Experimentier- und Lernfeld für die traditionellen Kirchen, keinesfalls aber als Werbekampagne zur Mitgliedergewinnung. Ganz im Gegenteil:
"Wir wollen niemanden in eine Kirche, eine Gemeinde, eine Form bringen. Ich persönlich freue mich, wenn Menschen sich auf den Weg machen und vielleicht nach einigen Jahrzehnten sagen, mein Glaube macht deutlich, dass ich irgendwo hingehöre. Das ist bisher noch nicht passiert. Und das ist auch nichts, was wir organisieren oder so..."
Und deshalb sind alle Projekte zunächst einmal zeitlich begrenzt.
"... und wie lange wir das tun, machen wir abhängig von der Relevanz. Solange Leute sagen: "Wow, das tut mir gut!", und es ausreichend Leute sind, machen wir das - das müssen nicht viele sein. Aber sobald wir merken sollten, wir tun das alles nur für uns und weil es einigen von uns Spaß macht, dann werden wir es auch wieder beenden."
"Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen"
Fresh-X-Gemeinden, die mittlerweile international verwendete Abkürzung von "Fresh Expressions of Church", ist ein Begriff, der sich seit knapp 20 Jahren in Deutschland etabliert hat. Inspiriert von der gleichnamigen, erfolgreichen Bewegung in der anglikanischen Kirche von England, der Church of England. Als Reaktion auf eine Finanz- und Mitgliederkrise sind dort seit den 1990er-Jahren mehrere Tausend kleine christliche Gemeinschaften entstanden: in Fitnesscentern und Pubs, in Waschsalons und Fahrradwerkstätten. Immer geht es darum, die Kirche zurück zu den Menschen zu bringen - nicht umgekehrt. Und auch die konfessionellen Grenzen sind gefallen: Es ist egal, ob jemand evangelisch, katholisch oder gar nichts ist. Eine Kirche der Zukunft?
"Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein."
Dieser Satz, der klingt wie eine aktuelle Analyse, ist mehr als 70 Jahre alt. Er stammt vom evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Noch im Gefängnis 1944, kurz vor seiner Hinrichtung, entwarf er Skizzen für ein Christentum der Zukunft. Religionslos und konfessionslos würde es sein, davon war Bonhoeffer überzeugt. Die Krise der Volkskirche, auf die Fresh-X-Gemeinden jetzt reagieren, hat Bonhoeffer schon viel früher erwartet.
Bonhoeffer stellt die Frage nach dem eigenen Glauben
Seine Thesen sind derzeit viel diskutiert, auch unter Katholiken. In seinem gerade erschienenen Buch "Mit Dietrich Bonhoeffer auf dem Weg zu einer erneuerten Kirche", schreibt Generalvikar Klaus Pfeffer aus Essen:
"Bonhoeffer räumt auf mit einer Kirche, die sich an konfessionelle Linien und dogmatische Festlegungen klammert und dabei die Lebensrealität der Menschen völlig aus dem Blick verliert. Seine entscheidende Frage lautet: 'Was glauben wir wirklich?', und zwar 'so, dass wir mit dem Leben daran hängen?' Er will zu einem persönlichen Christsein vordringen. Die konfessionellen Glaubenskämpfe sind für Bonhoeffer nur ein Versuch, sich hinter dem 'Glauben der Kirche' zu verschanzen und der ehrlichen Frage auszuweichen, 'was man selbst eigentlich glaubt'."
Bonhoeffer als theologischer Pate für eine innovative Bewegung, der sich auch die Amtskirchen langsam öffnen. Manche aus Überzeugung, andere weil der Wandel unaufhaltsam ist.
Mit dem Raumschiff zu Gott
Die Volkskirche ist Vergangenheit: Waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch weit über 90 Prozent der Deutschen Kirchenmitglied, so sind es heute nur noch 55 Prozent, Tendenz fallend. Protestanten, (26,6%) und Katholiken (28,6%) sind etwa gleich stark, die größte Gruppe jedoch sind die Konfessionslosen mit gut 37 Prozent.
Vor diesem Hintergrund hat der evangelische Kirchenkreis Essen 2016 ein dreijähriges Fresh-X-Projekt für junge Kreative gestartet - das "raumschiff.ruhr", mitten in der City.
"Es gibt ganz viele punktuelle Begegnungen. Es gibt Menschen, mit denen habe ich nur eine Nacht oder einen Abend hier diskutiert. Das ist viel häufiger, dass wir kurzzeitig im Leben von Menschen ein manchmal wertvoller Ort werden können. Wo sie sehr selbstbestimmt kommen und auch wieder gehen - das auch dürfen. So ist alles angelegt hier. Aber es ist nicht so, dass das Raumschiff davon lebt, dass überwiegend Menschen andocken und hierbleiben wollen. Ganz viele wissen auch gar nicht, ob sie gerade nur kurz in Essen sind oder nicht."
"In der Spannung von Kirche und Ladenlokal"
Das raumschiff.ruhr ist der etwas andere Arbeitsplatz der evangelischen Pfarrerin Becci John Klug. Sie selbst ist Teil der jungen kreativen Szene, eine Pionierin, wie sie sich nennt: flexibel, neugierig, knabenhaft schlank und mit wildem blonden Haar, das ihr gern über die Augen fällt.
Ihre "Projektzentrale": ein luftiges Ladenlokal unter der historischen Marktkirche, mit großen Fenstern hinaus zur Fußgängerzone. Darüber ein kleiner Kirchenraum. Und dann ist da noch dieses überwältigende Blau: Dort, wo das dicke Gemäuer ersetzt wurde, erhebt sich bis hinauf zur Kuppel eine nachtblaue, lichte Glaswand - drinnen und draußen getrennt und verbunden. Becci John Klug sagt:
"Die meisten laufen erstmal die Treppe geradeaus, weil die direkt an der Tür liegt, hoch und stehen im Kirchraum und sagen "Wow!" und sind ganz geflasht, weil das ein besonderer Kirchraum ist, der durch diese blaue Glasfront eben so schön leuchtet. Dann kommen sie wieder zurück ins Raumschiff und sind ganz neugierig, was das denn jetzt ist. Man ist immer direkt in dieser Spannung zwischen Kirche und diesem Ladenlokal anmutenden Raum – und das fasziniert viele."
Besucherstimmen:
"Ich würde sagen: Wir sind ein bunter Haufen, vielfältig, ganz unterschiedliche Menschen: von Studierenden, Arbeitenden, Arbeitslosen, Leute, die auf der Suche sind, die in Übergängen sind."
"Leute, die im christlichen Glauben verwurzelt sind, aber auch Leute, die noch gar nicht so viel Kontakt mit dem Christlichen hatten."
"Für mich ist es spannend zu sehen: Wie kann eine Form von Gottesdienst aussehen, nicht nur klassisch sonntagmorgens, alle setzen sich hin, man muss irgendwelche Lieder singen und irgendeiner Predigt zuhören, wo man sagt: Das passt ganz wenig zu meiner Lebenswelt. Sondern wie möchte ich mein Christsein leben, so dass ich denke, es passt zu mir und zu meinen Ausdrucksformen."
"Eigentlich bin ich vielleicht ein wenig hier, um Gott wieder zu entdecken. Den muss ich völlig freischaufeln, und dafür ist das hier ein sehr guter Ort."
Stullen und Segen
Etwa bei der Andacht im blauen Kubus der Marktkirche, mittwochs um 20 Uhr: im Raumschiff-Jargon "Orbit" genannt. Oder bei "Stullen und Segen", denn vorher gibt es Abendbrot. Alles angekündigt in den sozialen Medien: Twitter, Facebook, Instagram. Und auch sonst hat dieses Experiment ohne enge amtskirchliche Vorgaben wenig gemeinsam mit dem traditionellen Kirchenleben. Während draußen die Geschäfte schließen und die Kneipen sich füllen, sitzen rund 20 junge Leute im Kreis um eine Feuerschale beim Piano - einige machen Musik.
"Herzlichen Willkommen zu Orbit. Wir feiern die Mitte der Woche und die Mitte des Lebens. Es gibt ein paar Lieder, Texte, Fragen an dich selbst, Zeit zum Schweigen, zum Beten. Und das ist deine Zeit, deine Pause. - Wenn du magst, schließ dazu die Augen. Schaff dir deinen Raum, einen Platz, an dem du bei dir selbst ankommen kannst."
"Die Pointe ist Mixed Economy"
Das raumschiff.ruhr in Essen ist eins von vielen Fresh-X-Projekten, die in den letzten Jahren entstanden sind - darunter etwa 20 Prozent im Rahmen der offiziellen Kirche, also gestartet von Kirchenkreisen, Landeskirchen oder auch Bistümern: die ökumenische Initiative "Kirchehochzwei" in Hannover und Hildesheim etwa, die "Erprobungsräume" in Mitteldeutschland oder die "Kirche für Morgen" in Württemberg.
Daneben gehören viele kleine, unabhängige, oft aus dem freikirchlichen Kontext kommende Initiativen zur Szene, die sich gerne auch "Pionierbewegung" nennt. Spielwiese oder Konkurrenz für die traditionellen Kirchen? Es scheint von allem etwas zu sein. Michael Herbst sagt:
"Eine der größten Gefahren ist sicherlich eine gegenseitige Abstoßung. Dass Kirchengemeinden sagen: 'Ihr seid ja nicht richtig Kirche, weil ihr habt sonntagmorgens keinen Gottesdienst und keine Talare und was weiß ich.' Und dass die Fresh Expressions ihrerseits sagen: 'Na ja, das ist Kirche, wie sie früher war. Wir haben das hinter uns und wissen, wie es in die Zukunft geht.' Die eigentliche Pointe ist Mixed Economy! Sie sagt, wenn wir in die Zukunft gehen wollen, brauchen wir eine bunte Mischung von verschiedenen Formen gemeindlicher Selbstorganisation. Das sind die klassischen traditionellen Kirchengemeinden und das sind diese etwas wilden, neuen Formen als Fresh-X. Die Mischung aus ihnen und die Kooperation miteinander, ist das eigentliche Geheimnis hinter dieser Idee..."
...aber auch der eigentliche Konfliktstoff: Wie soll Neues entstehen, wenn daneben alles beim Alten bleibt? Was entfällt und was entsteht neu?
An der Theologischen Fakultät in Greifswald bietet Professor Michael Herbst mittlerweile das Studienprogramm "Fresh Expressions and Mixed Economy Church" an. Die Bewegung formiert sich. Auch in dem 2017 gegründeten ökumenischen Fresh-X-Netzwerk, ein Verein, dessen Träger vor allem Landeskirchen und große Verbände wie der CVJM sind. Hier sind viele, aber längst nicht alle der über 100 Projekte zu finden.
"Mein Anspruch ist es, die Kirche zu verändern!"
Unterdessen ist bei Pfarrerin Becci John Klug, die gerade ihre Doktorarbeit über dieses Phänomen schreibt, zum Ende der dreijährigen Projektzeit eine gewisse Ernüchterung eingetreten:
"Das Raumschiff wird nicht Spielwiese genannt, aber es wird genannt als ein Labor. Aber was ich auch gerade in den Gesprächen mit den jungen Erwachsenen merke, wenn wir uns Zukunftsfragen stellen ist: Ja, wir haben keine Stimme auf der Synode, wir kommen nirgendwo vor, wir sind nicht Teil der Kirche aktuell, wenn man sich das strukturell anguckt. Wir sind ein Projekt der Kirche. Und ob die Kirche sich dadurch verändern lässt und uns als Ergänzung ernst nimmt, das steht noch voll auf einem anderen Blatt. Mein persönlicher Anspruch ist es, eben keine Projekte zu machen, sondern die Kirche zu verändern!"
Ein gerade erst begonnener Prozess, Ausgang offen. Das meint auch Michael Herbst:
"Es ist eine Krise. Aber eine Krise hat ja bekanntermaßen immer die beiden möglichen Ausgänge von Katastrophe oder neuem Anfang. Und ich denke immer noch, dass wir stark genug sind, um einen neuen Anfang zu finden."