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Freud als kalter Despot

Auf den ersten Blick scheint sie seriös zu sein, diese Familiengeschichte, die Eva Weissweiler über die Freuds vorlegt. Mit 1110 Anmerkungen, einem weitgespannten Literaturverzeichnis und den Familienstammbäumen in den vorderen und hinteren Buchdeckeln. Der Eindruck jedoch täuscht.

Von Heidemarie Schuhmacher |
    Bei fortschreitender Lektüre tut sich bald ein Grundmuster auf, das dann bis zum Überdruss variiert wird: Freud dargestellt als kalter Despot, der weder seine Frau noch seine Kinder oder Enkelkinder, allenfalls seine Hunde liebte.

    Also, so könnte man schließen, wurde Freud von seinen bisherigen Biographen Ernest Jones und dem amerikanischen Historiker Peter Gay zu sehr idealisiert, denn Eva Weissweiler macht es sich zur durchgängigen Aufgabe, ihn als unangenehm und repressiv darzustellen, vor allem den Frauen in seiner Umgebung gegenüber.

    Nun ist es nicht neu, dass Freud, als ältester Bruder von fünf Schwestern, autoritäre und teilweise herrschsüchtige Züge hatte. Dies gibt er schon in jungen Jahren in den Briefen an seine Braut Martha Bernays selbst zu. In Eva Weissweilers Buch ist Freud aber der Buhmann per se: Die Autorin erweckt den Anschein, als seien seine Söhne und Töchter, seine Schwestern, Neffen und Nichten sowie seine Ehefrau allesamt nur Opfer eines Egomanen.

    Schon im Klappentext des Buches heißt es, vier seiner Schwestern seien im Holocaust umgekommen, weil Freud "meinte, dass Emigration sich für die alten Frauen nicht mehr lohne". Dabei verhielt es sich so, dass der schwerkranke, zweiundachtzigjährige Freud selbst nur schwer zu bewegen war, Wien 1938 zu verlassen und zu diesem Zeitpunkt noch niemand in Österreich die Grauen der so genannten Endlösung absehen konnte. Im Buch selbst ist es dann Alexander Freud, der Jüngste der Familie, der angeblich "schuld" am schrecklichen Ende von vier Schwestern im Konzentrationslager ist. So wie die Autorin merkwürdigerweise dauernd jemanden sucht, der an irgend etwas schuld ist. Sie wiederholt ihren absurden Anachronismus gegenüber Freuds Sohn Martin, der seine Frau und seine Tochter 1938 in Paris zurück gelassen habe, obwohl sie doch womöglich "von der Gaskammer" bedroht waren.

    Viel Projektives ist in diesem Buch zu entdecken: Der als affektarm und überaus sachlich geltende Freud "schäumt" angeblich, als sich seine Tochter Mathilde verheiraten will, er "hasst" Havelock Ellis "bis aufs Blut", er tobt usf. Das vermeintliche Sachbuch nimmt streckenweise Züge eines Kolportageromans an.

    "Aber muss das ausgerechnet jetzt, im vorletzten Monat der Schwangerschaft sein...? fragt die Autorin, als der böse Freud wieder einmal verreist und seine Martha zu Hause lässt.

    Nicht nur der Sprachstil macht das Buch als Beitrag zur Freud-Forschung ungeeignet, denn zu der einseitigen Sicht des Begründers der Psychoanalyse, die sich aus Kenntnis seiner Briefe an seine Kollegen, Freunde und Kinder sowie aus den genannten Biografien kaum rechtfertigen lässt, gesellen sich Ungenauigkeiten in der Quellendarstellung. Briefstellen zum Beispiel werden nonchalant im Sinne der eigenen Argumentation selektiv wiedergegeben. Es wird schon einmal ein Stück des Originaltextes weggelassen, wenn es der Bestätigung des üblen Charakters von Freud dienen soll: So hält Weissweiler, nachdem sie Freud in einem Brief an Fliess zitiert, in dem er an sich eine allgemeine sexuelle Unlust feststellt, einige Seiten weiter für wahrscheinlich, dass Freud eine sexuelle Beziehung zu Marthas Schwester Minna hatte, die im Haushalt der Freuds lebte, weil er mit Minna auf Reisen geht. Beweis: Er schreibe an Fliess, dass ihm eine kleine Reise mit Minna dämmere. In besagten Brief steht aber tatsächlich, dass ihm zwei kleine Reisen dämmern, eine mit Minna, die zweite mit Martha.

    Als Minna später eine Reihe schwerer Darmerkrankungen entwickelt, sieht die Autorin den "wahrscheinlicheren" Grund dafür im Analverkehr mit Freud. Seit wann Analverkehr überhaupt zu Darmerkrankungen führen soll, ist eines der vielen Rätsel, die die Autorin en passant aufgibt.

    Weiter heißt es: "Beim Wiedersehen mit Martha hat Freud ein schlechtes Gewissen, denn er weiß nicht, wie dieses Leben zu dritt weitergehen soll" und zum Beleg wird aus einem anderen Brief von Freud an Fliess zitiert:

    "In der Untätigkeit ohne fesselnde Neuheit hier hat sich die ganze Angelegenheit der Hysterie mir drückend schwer auf die Seele gelegt."

    Diese Briefstelle weist im Satz vorher auf die Hysterie hin, mit der sich Freud seit Jahren beschäftigte und deren Fortgang in der theoretischen Bearbeitung er Fliess von Brief zu Brief mitteilt. Die Autorin aber zitiert die Stelle verfälschend so, als sei mit der Angelegenheit die von ihr unterstellte Affäre mit Minna gemeint.

    Es sind solche ungenauen oder verfälschten Quellenbezüge und Zitate und fortgesetzte, durch keine Quellenangaben gerechtfertigten Spekulationen, die die Lektüre zu einem Ärgernis machen, obwohl die Gesamtschau auf die Familie ja ein durchaus interessantes Projekt ist.

    Wenn das Buch einen Verdienst hat, dann in der zweiten Hälfte, in der man in der Tat etwas über den Werdegang der Kinder Freuds, seiner Neffen und Nichten sowie seiner Enkelkinder erfährt, von denen die meisten durch den Nationalsozialismus in andere Länder getrieben wurden und von denen nicht wenige künstlerische Berufe ergriffen. Freuds Sohn Ernst wird ein vielgefragter Architekt, Oliver betreut in Berlin große Bauprojekte und fotografiert, die Tochter Sophie heiratet einen Fotografen, Anna versucht sich in literarischen Experimenten, Ein Neffe schreibt eines der ersten Bücher über Marketing, die Nichte Tom, Tochter der Schwester Mitzi, wird eine bekannte Kinderbuchautorin. Zwei von Freuds Nichten begehen Selbstmord (den Freud, nach der Logik des Buchs selbstverständlich nicht verhindert hat...), aus seinem Enkel Lucian wurde der berühmte englische Maler Lucian Freud. Dieser Teil der Quellenaufarbeitung ist originär und interessant.
    Im großen und ganzen aber muß man leider annehmen, dass der Marktwert des Buches mit kolportagehaften Passagen und scheinfeministischen Sensationalisierungen gehoben werden sollte.

    Die bei Freud in der Tat problematische, weil überschätzte Rolle des Penis, die man auch (durchaus im Freudschen Sinne) als sein Privatproblem, eben eine der psychischen "Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds" lesen könnte, wird bei Weissweiler mit der nichtssagenden Kategorie frauenfeindlich bewertet. Als ältestes Kind und als Bruder von fünf jüngeren Schwestern, handelt es sich bei dem Begründer der Psychoanalyse möglicherweise um eine ihm wichtige Zuschreibung in Bezug auf seine eigene Geschlechtsidentität. In Weissweilers Buch wird Freud als pervers und sadistisch abqualifiziert, weil er, der durch seine Krebserkrankung verhindert ist, seine Tochter Anna den Vortrag "Über einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds" halten lässt.

    Die beabsichtigte Demontage Freuds ist jedenfalls gründlich misslungen. Ein in weiten Strecken peinliches Buch!