Schnurgerade Landstraßen führen über flaches Land. Vorbei an Feldern, die immer gleich aussehen. Der Weg nach Freyenstein führt von Berlin aus durch ganz Brandenburg, denn der Ort liegt an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Einige Kilometer vor Freyenstein wird die Landschaft hügeliger, abwechslungsreicher, lieblicher. Die Bäume am Straßenrand geben der nun kurvigen Landstraße etwas Alleenartiges.
Verwunschene Burg mit Rapunzelturm
Klänge eines Cello-Konzerts dringen durch die dicken Mauern des mittelalterlichen Schlosses, das sich direkt am Eingang von Freyenstein erhebt. Es herrscht Postkarten-Idylle. Das Schloss umgibt ein gepflegter Park mit prachtvollen Bäumen. Trauerweiden senken sich über Wassergräben. Einige Schritte vom Schloss entfernt erhebt sich eine verwunschene Burg mit Rapunzelturm. Eigentlich heißen Burg und Schloss altes und neues Schloss. Doch das alt und neu sei etwas irreführend, lacht Christine Neumann, eine Bewohnerin aus Freyenstein. Die energiegeladene und gastfreundliche 60-Jährige führt Besucher durch den Ort und den archäologischen Park.
"In der Fachliteratur spricht man vom alten und neuen Schloss, aber sie sind von der Bauzeit her fast identisch. Die Freyensteiner haben es geschafft, in den 1970er und 1980er Jahren die sogenannte Burg, die wirklich fast verfallen war, wieder aus ihrem Dornröschenschlaf zu holen. Der Freyensteiner Uhrmeister, Herr Stahmleder, hat ganz viele Bürger, Bauern eigentlich Handwerker, alle die hier in Freyenstein waren, mobilisiert und auch staatliche Stellen, so wurde in einem beispiellosen Werk der Schlosspark und auch das Gebäude wieder aufgebaut und saniert."
Viele aus dem Ort sind weggezogen
Die Spuren der bedeutenden Frauenrechtlerin Minna Cauer übersieht man leicht, wenn man nicht gerade darauf hingewiesen wird. Der Weg zu ihrem Geburtshaus führt quer durch den kleinen Ort. Eine Kirche ebenfalls aus dem Mittelalter und ein kleiner Marktplatz, an dem nichts los ist, bilden das Zentrum von Freyenstein.
Die schmale Hauptstraße führt vorbei an leer stehenden Einzelwarenläden. Es gäbe leider keine Geschäfte mehr, sagt Neumann. Seit der Wende habe der Ort einen Niedergang erlitten. Viele seien weggezogen.
"Es gab hier in Freyenstein wirklich alles. Vom Schmied über den Fleischer und Becker und den Zimmermann und den Töpfer. Es gab hier eigentlich alle Berufe, die so eine Stadt braucht. Und die Häuser stehen dicht an dicht, aber wenn man durch die Straßen geht, sieht man, dass jedes Haus einen großen Torweg hat. Das hängt damit zusammen, dass auf den Höfen der Häuser immer noch Vieh gehalten wurde in der Vergangenheit."
Freyenstein wurde bereits im frühen 13. Jahrhundert als Grenzfestung gegen Mecklenburg gegründet. Nachdem sie mehrmals zerstört worden war, wurde sie einige Meter weiter neu aufgebaut.
"Und die erste Stadt wird seit nunmehr zehn Jahren in einem archäologischen Park in verschiedenen Formen präsentiert, mittels Originalbefunde, mittels Visualisierungen und Darstellungen."
Geburtshaus mit bewegter Geschichte
Schließlich bleibt Neumann vor einem weiß gestrichenen Haus mit braunen Dachziegeln stehen: Minna Cauers Geburtshaus. Sie hat sich mit ihrer früheren Mitbürgerin intensiv beschäftigt.
"Geboren wurde sie am 1. November 1841 als Wilhelmine, daher Minna, Theodora Marie Schelle. Als Tochter des Landpfarrers Alexander Schelle, und ihr Geburtshaus ist das heutige Pfarrhaus."
Minna war die dritte von vier Geschwistern. Man kann sich gut vorstellen, wie die Familie in diesem geräumigen Haus mit seinen vielen Zimmern Platz gefunden hat.
"Leider finden wir hier in dem Haus keine Erinnerungsstücke mehr an Minna Cauer. Dazu war die Geschichte viel zu bewegt, und auch die Geschichte dieses Hauses, es waren ja immer wieder andere Pfarrersfamilien hier."
Der Geist offener Türen, der Minnas Elternhaus zugeschrieben wird, hat sich das Pfarrhaus offenbar bis heute bewahrt. Seit einem Jahr dient der untere Bereich des Hauses als Unterkunft für Schutzsuchende, sagt Neumann. Frisch bezogene Betten sind mit Stofftieren dekoriert. Gerade erwarten sie eine afghanische Flüchtlingsfamilie.
Schon als Kind aufrührerisch
Die Schule, die die kleine Minna in Freyenstein besuchte, liegt nur einen Steinwurf von ihrem Elternhaus entfernt. Das baufällige, große Fachwerkhaus steht seit einigen Jahren leer. Eine kleine Straße, die am Gebäude entlang führt, trägt Minna Cauers Namen. Doch sonst erinnert nichts mehr hier an die Frauenrechtlerin. Der Versuch, einen Erinnerungsort über sie mit einem Archiv in ihrer ehemaligen Schule einzurichten, blieb in den Kinderschuhen stecken.
"Das hat eigentlich sehr gut angefangen und hat auch bei vielen Freyensteinern eben dazu geführt, dass sie sich überhaupt mit der berühmten Persönlichkeit dieses Ortes beschäftigt haben."
Im Ort erzählt man sich, dass Minna ...
" ... als Kind schon sehr aufrührerisch mit einer Fahne durch die Gegend lief, was in diesem kleinen verträumten Ort bestimmt für sehr viel Aufruhr gesorgt hat. Und als sie dann nach vielen, vielen Jahren zurückkam, war sie dann sichtlich enttäuscht darüber, dass in Freyenstein so rein weg gar nichts passiert war. Und sie sagt, sie fand diesen Ort verschlafen und verträumt, und das hatte sich nicht verändert."
Dass die Schule leer steht, würde Minna Cauer wahrscheinlich nicht gefallen.
Aus Freyenstein nach Paris - ganz allein
"Wir wollen dem Kampf der Frau um gleiche Bildung ebenso gerecht werden, wie ihrem Kampf um gleichen Lohn."
Schreibt sie bereits 1895 in der ersten Ausgabe der Zeitung "Die Frauenbewegung", die sie bis 1919 herausgibt. Schon früh erkennt sie: Bildung ist die wichtigste Voraussetzung für die Frau, eine Chance auf Gleichstellung zu erlangen. Denn Minna Cauer forderte weit mehr als das Wahlrecht. Dass jemand in Freyenstein geboren wird, und sich ausgerechnet in die Metropole Paris aufmacht, sei auch heute undenkbar, schmunzelt Neumann. Und dann auch noch eine alleinstehende Frau aus dem 19. Jahrhundert.
"Wenn man Freyenstein sieht, und weiß, das ist diese kleine verschlafene Ackerbürgerstadt und man hat dann den direkten Vergleich zu der Metropole Paris, dann sind da sicherlich Welten dazwischen. Es ist ja für diese Zeit revolutionär, dass sie nach ihrer ersten Eheschließung noch einmal heiratet, dass sie es wagt, diese Lehrerinnenausbildung zu absolvieren. Das war ja den meisten Frauen auch gerade hier im ländlichen Raum durchaus vorbestimmt, gerade an der Seite ihres Gatten ihr Dasein hier im Ort zu fristen."