"The United States of America vs. Ernst von Weizsäcker et al." So lautete der offizielle Titel des im Deutschen als Wilhelmstraßen-Prozess bekannten Verfahrens, das 1948 in Nürnberg gegen führende Angehörige des Auswärtigen Amts und anderer NS-Ministerien angestrengt wurde.
Mit Ernst von Weizsäcker saß auf der Anklagebank der ranghöchste Untergebene von Außenminister Ribbentrop, der zuvor in Nürnberg verurteilt und hingerichtet worden war. Zu Weizsäckers Verteidiger-Team gehörte auch Richard von Weizsäcker, Jahrgang 1920, jüngster Sohn des Hauptangeklagten und späterer Bundespräsident – Stoff für eine brisante, zudem eminent politische Vater-Sohn-Geschichte nicht mehr im Dritten Reich, in dem der Vater an die Spitze aufstieg – um Schlimmeres zu verhindern, wie er selbst sagte:
"Mitgemacht ist nicht der richtige Ausdruck. Ich habe nichts mitgemacht. Ich habe einen Total-Widerstand geleistet, insgesamt bis an den Rand meiner Möglichkeiten. Das nenne ich nicht mitgemacht."
… und noch nicht in der Bundesrepublik, in der der sich der Sohn so lange um das höchste Staatsamt bewerben sollte, bis er es schließlich auch bekam. Was der wirklich gedacht oder gar gefühlt hat, als sein Vater in Nürnberg ins Kreuzverhör genommen wurde, hat er nie preisgegeben – und so den Raum gelassen, vielleicht auch erst eröffnet, in dem der 1976 geborene Fridolin Schley jetzt erzählt: von Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit, von der Verteidigung des Vaters durch den Sohn, "in Umkehrung der Hilfs- und Schutzpflicht zwischen Eltern und Kindern" wie der Vater schreiben sollte – aber auch von der Selbst-Verteidigung des Vaters, von Sühne, von Solidarität, von der Eigen-Wahrnehmung gesellschaftlicher Eliten. Es sind große Themen, mit deren Behandlung Fridolin Schley den auf den ersten Blick so naheliegenden Konflikt seines Romans – die Verteidigung des Vaters durch den Sohn – immer wieder auf neue Ebenen hebt oder auch in Abgründe stürzen lässt. Es ist, als habe Kafka nicht nur bei der Architektur des riesigen Justizpalasts sondern auch bei der des Verfahrens Pate gestanden, wenn Fridolin Schley davon erzählt.
Kein historischer Roman, eine literarische Erkundung
Einen historischen Roman hat er nicht geschrieben. Der würde sich dadurch auszeichnen, dass eine Erzählinstanz uns an den Zeitpunkt des Geschehens zurückversetzt, von dem die Rede ist und alles Wissen ausblendet, das handelnde Personen nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt hätten haben können. Schley aber erzählt und rekonstruiert von seiner, der heutigen Warte aus. So greift er aus bis zur berühmten Rede Richard von Weizsäckers als Bundespräsident vom 8. Mai 1985.
"Alles dreht sich, in Richard, dem Raum und um ihn, die Fragen, ob man sich das Böse vorzustellen vermag, bevor man es gesehen hat, oder noch verhindern, wenn es bereits vor sich geht, ob jemand ohne Schuld bleiben kann in einer Zeit, die nur noch verschiedene Wege des Fehlgehens bietet … die Wahrheit wird euch frei machen: Das war das Letzte, was die Mutter dem Vater mit auf den Weg gegeben hat, als er im Juli nach Nürnberg aufbrach."
Den Gedanken verlängert Fridolin Schley bruchlos in Passagen aus der berühmten Rede des Bundespräsidenten Weizsäcker zum 8. Mai.
"Und Richard wird einmal sagen, dass nun keine Gefühle mehr geschont werden sollten, denn je ehrlicher wir sind, desto größer unsere Freiheit. Dass der Blick zurück in einen dunklen Abgrund führt, aus dem die Deutschen befreit werden mussten, dass selbst wenn die meisten geglaubt hatten, für eine gute Sache zu kämpfen und zu leiden, keiner, der Augen und Ohren aufmachte, die rollenden Deportationszüge leugnen konnte, er wird sagen, eine jüdische Weisheit laute, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."
Meisterlich hergestellte Verbindungen
Die Dezenz, mit der Fridolin Schley solche Bögen schlägt, hat etwas Meisterliches. Und die Verbindungen, die er uns aus seinem Text herauslesen lässt, verleihen dem Roman seine eigentlich spannende Dimension – so etwa auch, wenn sich alte Verbindungen wieder fügen, konservative Kreise um ein für manche vielleicht unerwartetes Epizentrum schließen: Stefan George.
"Die Vorstellung von etwas Großem, Sphärenhaftem, das nur einige Ausgewählte umwehte und sie über den trivialen Zeitlauf erhob. Männer des Geistes. Ästhetisch erzogen zu höherem Rang, mystisch überlegen. Das elitäre Selbstverständnis, das auch George in seinem Kreis gepflegt hatte, raunte weiter, es sollte die seelisch und moralisch Berufenen aus der stolzen Vergangenheit bis in die Zukunft tragen, über die Jahre der Nazidiktatur hinweg."
Schnell verlässt Fridolin Schley als souveräner Erzähler, der er ist, jeweils die Pfade des Erwartbaren wie die literarische Animation historischer Fotografien, die Einfühlung in Charaktere in bestimmten Situationen, die Dramatisierung von Dialogen. Viel kunstvoller ist zum Beispiel die Rekonstruktion der Selbstverteidigung des Vaters aus den Dokumenten (was ganz in dessen Sinn gewesen wäre), aber auch aus seinem seinem Charakter, seiner Weltsicht – vor der selbst der Sohn, zumindest in Fridolin Schleys Version, bisweilen fast die Waffen streckt.
"Als (der Vorsitzende) den Vater einmal fragte, wie er diese Mordsachen bloß mitzeichnen konnte, hat er geantwortet: Ich bezeichne sie so nicht. Statt von Ermordung der Juden sprach er von Eingriff in ihre Leben."
Es ist schade, ja ein Verlust für die deutsche Gesellschaft, dass Richard von Weizsäcker seine wahren Gedanken zu dieser Verteidigung nie hat teilen wollen. Für die deutsche Literatur unserer Tage war es eine Chance und Dank der Tatsache, dass Fridolin Schley sie ergriffen hat, so etwas wie ein Glück.
Fridolin Schley: "Die Verteidigung"
Hanser Berlin Verlag, Berlin. 272 Seiten, 24 Euro.
Hanser Berlin Verlag, Berlin. 272 Seiten, 24 Euro.