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Frieden in Afghanistan - Taliban-Dämmerung (2/3)

Wie kann der afghanische Staat nach dem Abzug der Truppen Ende 2014 dem Zugriff einzelner Gruppen widerstehen, zum Beispiel den Taliban oder den Drogenkartellen der Warlords? Um diese Fragen geht es in der Serie bei Essay und Diskurs.

Mit Christoph Burgmer |
    Zu Gast ist Gilles Dorronsoro, Professor für Politologie an der Sorbonne, Paris.

    Christoph Burgmer: 1996 bis 2001 existierten die Emirate von Afghanistan, ein Staatsgebilde, welches über 80 Prozent der Landesfläche einnahm, dessen offizielle Elite die Taliban waren und deren Führer Mullah Omar aus dem Süden des Landes, aus Kandahar, eine Truppe von ca. 45.000 Mann befehligte. Verbündete waren nicht nur verschiedene islamistische Gruppen, deren bekannteste die international operierende El Kaida unter Osama Bin Laden war, sondern auch der pakistanische Geheimdienst. Völkerrechtlich wurden die Emirate von Afghanistan damals nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt. Nach den USA ..., nach der von den USA geführten Invasion verschwand die Staatsordnung. Die Taliban verloren massiv an Zuspruch. 2008 beispielsweise sprach man nur noch von ca. 11.000 aktiven Taliban-Kämpfern, die sowohl die Regierung Karzai als auch die ISAF bekämpften. 2010 allerdings waren es schon wieder 36.000 Taliban. Professor Dorronsoro, in unserem Gespräch wollen wir der Frage nachgehen, wie die Zukunft Afghanistans aussehen könnte unter der fokussierten Perspektive auf die islamistisch-radikalen Gruppierungen, insbesondere die Taliban. Verständlich werden sollen die Konsequenzen, die zu erwarten sind, wenn die militärische Präsenz zurückgezogen wird. USA, die Bundesrepublik haben dazu schon die Weichen gestellt. Die Frage ist von entscheidender Bedeutung. Wird es in Afghanistan in Zukunft ohne die Taliban überhaupt gehen können? Doch vorher vielleicht noch mal die Frage, wie kommt es eigentlich, dass wir einen Anstieg von Taliban-Kämpfern in der Vergangenheit, vor allem in den letzten drei, vier Jahren, zu beobachten haben?

    Gilles Dorronsoro: Um ihre Frage zu beantworten, muss man sich noch einmal die Chronologie der Ereignisse vergegenwärtigen. Nachdem die Taliban 2001 gegen die Amerikaner unterlegen waren, haben sie sich weitgehend nach Pakistan zurückgezogen. Während der folgenden Monate waren sie unorganisiert. Ihre Anführer haben sich irgendwo zwischen den beiden wichtigen pakistanischen Städten Karachi und Quetta versteckt. Das war die Phase, als die Taliban mehrmals versucht haben, mit der Regierung Karzai Kontakt aufzunehmen. Sie wollten sich dem neuen Regime anschließen und beabsichtigten, die Waffen niederzulegen. Aus unterschiedlichen Gründen wurde dies abgelehnt. Dann, im Winter 2002/2003 haben die Taliban den Kampf wieder aufgenommen. Im Westen bezeichnete man sie nun als Neo-Taliban. Tatsächlich jedoch war es nichts anders als die Rückkehr der schon bekannten Taliban. Im Frühjahr, Februar/März 2003, war es klar, dass sie in kleinen Gruppen wieder in Afghanistan selbst aktiv waren. Daraufhin folgte ein wichtiger Abschnitt. 2004 waren die Taliban schon in Gruppen von einigen Hundert Kämpfern in bestimmten Regionen in Afghanistan präsent. 2006 folgte ein weiterer Einschnitt. Es war das erste Mal, dass die Taliban begannen, der NATO massiven militärischen Widerstand entgegenzusetzen. Und endlich 2008/2009 war allen klar geworden, dass sie tatsächlich wieder ein wichtiger Akteur in Afghanistan sind. Es stellt sich natürlich die Frage, warum die internationale Koalition nicht schon lange vorher die Gefahr erkannt hatte. Aber man schätzte die Taliban falsch ein. Man dachte, sie seien eine lokal wirksame, schwach organisierte Bewegung, geführt von einer einzigen Person, nämlich Mullah Omar. Dass es so etwas wie einen Shura-Rat in Quetta gab, der funktioniert, glaubte man nicht. Aber neben den militärischen Operationen betrieben die Taliban politische Arbeit. Ein Grund, warum sie so schnell wieder auf die politische Bühne Afghanistans zurückgekehrt sind, ist, unter anderen, das fehlende Verständnis dafür, was die Bewegung der Taliban ausmacht.

    Burgmer: War es ein Fehler, dass man am Anfang, als die Petersberger Gespräche in Bonn stattfanden, die Taliban nicht mit einbezogen hat?

    Dorronsoro: Es gab eine Reihe von Fehlern. Der erste war in 2001. Man hätte die Taliban nach Bonn einladen sollen, um ein politisches System neu zu installieren, hätte niemanden ausschließen dürfen. Aber dies ist damals äußerst schwierig gewesen, weil die westliche Öffentlichkeit das nicht akzeptiert hätte. So war es realistisch betrachtet nicht anders möglich, als sie auszuschließen. Der Westen hatte damals zwei strategische Optionen. Man hätte die Taliban später, etwa 2002, mit einbeziehen können. Es wurde auch diskutiert. Man dachte an eine Amnestie und hätte sie so in die afghanische Gesellschaft integrieren können, und dies, ohne besondere Forderungen zu stellen. Das wurde aber von den Amerikanern abgelehnt. Eine andere Option wäre gewesen, die Taliban mit allen Mitteln zu bekämpfen. Dafür aber hätte man massiven Druck auf Pakistan ausüben müssen, damit es die Unterstützung beendet. Es gab diese zwei Optionen. Jede für sich hätte erfolgreich sein können, aber man wählte keine von beiden. Man verwarf die Idee einer Amnestie. Gleichzeitig begann man, die Taliban militärisch zu bekämpfen, ohne jedoch Druck auf Pakistan auszuüben. Das Ergebnis war ein ineffizienter Krieg mit beschränkten Mitteln, der keiner durchdachten Strategie folgte.

    Burgmer: Die Taliban haben einen Staat zurückgelassen, der eigentlich kein Staat mehr war. Die Administration war komplett zerstört, das ganze Land war eigentlich ein ..., ein zerstörtes Land. Ist das ein Grund, warum man da such unterschätzt hat, dass die Taliban vielleicht eine Verwurzelung in bestimmten Regionen der Stammesgebiete haben?

    Dorronsoro: 2001 hatten die Taliban die Basis für ihren Staat geschaffen. Der militärische Widerstand der Opposition war gering gewesen. Ihr Oppositionsführer, Shah Massoud, war zwei Tage vor den Anschlägen des 11. September getötet worden. Die Taliban waren also militärisch nicht mehr bedroht. Dies kam erst wieder mit den Bombenangriffen der Amerikaner. Diesen hatten sie nichts entgegenzusetzen. Es bedeutete die völlige, militärische Niederlage. Und weil ihre militärische Organisation geschwächt war und die pakistanische Armee sie nicht weiter unterstützte, zogen sie sich zurück. Durch den leichten Sieg glaubten die westlichen Alliierten ihrer eigenen Propaganda. Diese hatte verbreitet, dass die Taliban eine mittelalterliche Bewegung sei, die unfähig wäre, die Moderne zu adaptieren. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Das heißt nicht, dass ihre moralischen Werte "westlich" gewesen wären. Aber man war niemals gegen die Verwendung moderner Technik. Man war gegen bestimmte Medien, wie zum Beispiel das Fernsehen. Aber Computer und Mobiltelefone wurden benutzt. Zusätzlich unterschätzten die Alliierten den gesellschaftlichen und politischen Einfluss der Taliban. Dies bezieht sich nicht nur auf den Süden um Kandahar, wo die Bewegung entstanden war, sondern auch auf gewisse konservative Milieus im Norden des Landes. Man unterschätzte ihre Fähigkeiten, lokalen Gruppen eine ideologische Grundlage zu geben, die sich durch die militärischen Operationen der amerikanischen Sondereinheiten provoziert fühlten. Gerade im Osten Afghanistans, wo man sich in den Jahren 2003/2004 als Reaktion auf die Korruption des neuen Regimes, aber auch als Reaktion auf die militärischen Aktionen der amerikanischen Spezialeinheiten, gegen die Regierung Karzai wendete. Das Widererstarken der Taliban hat also mehrere Ursachen. Erstens existierte in dieser Zeit keine klare Strategie. Sie existiert bis heute nicht. Zweitens erkannte man nicht, dass die Taliban eine Bewegung sind, die sich um eine politische Ideologie herumgebildet hatte, und drittens führte der Einsatz der amerikanischen Spezialeinheiten dazu, dass die Bevölkerung sich gegen die Regierung auflehnte.

    Burgmer: Jetzt sprechen wir die ganze Zeit über die Taliban. Ich glaube, ein Fehler könnte auch gewesen sein, dass man eben die Taliban als eine einzige Bewegung verstanden hat, als eine politische Bewegung, die man besiegt hat. Wer sind eigentlich die Taliban?

    Dorronsoro: Das ist kompliziert. Sicher findet man innerhalb der Taliban gegensätzliche Überzeugungen und damit auch Unterschiede. Die Propaganda soll die Taliban als eine ineffiziente Bewegung diskreditieren. Das ist eine extrem vereinfachte Sichtweise. Will man ihr Handeln verstehen, muss man wissen, was die Taliban sozial miteinander verbindet. Dazu gehören mehrere Elemente. Das erste ist, dass sie hierarchisch organisiert sind und sich öffentlich zu ihrem Führer Mullah Omar bekennen. Es gibt einen Führungsrat, Shura, in dem Entscheidungen gefällt werden. Er hat seinen Sitz im pakistanischen Quetta. Hier werden für jeden afghanischen Bezirk ein verantwortlicher Militär, ein ziviles Oberhaupt und ein Richter ernannt. Sie werden regelmäßig alle sechs Monate ausgewechselt. Das ist die Basis der Organisation. Gibt es Schwierigkeiten, wird relativ schnell in der Zentrale in Quetta reagiert. Dann wird jemand zum Beispiel früher ausgetauscht. Wir müssen also festhalten: Die Taliban sind eine territoriale politische Bewegung. Sie werden zentral gesteuert. Dazu kommt ein zweites Element. Alle führenden Taliban haben dieselbe Sozialisation in den Koranschulen gehabt, sie teilen dieselbe Weltsicht. Ihre gemeinsame historische Erfahrung ist, dass sie seit 1994 trotz aller Verluste als politische Gruppe überlebt haben. Es ist also nichts Rätselhaftes oder Befremdliches daran, dass diese Personen zusammenarbeiten. Das dritte Element ist, dass die Taliban in den von ihnen beherrschten Gebieten für die Bevölkerung, wenn Sie so wollen, Dienstleistungen erbringen. Das ist neu. In den 90er-Jahren hatten sie kein Interesse daran. Damals ging es ihnen darum, die Bevölkerung in ihr politisches System zu zwingen. Aber in den vergangen zehn Jahren hat sich dies geändert, wahrscheinlich aus taktischen Gründen. Man nimmt bis zu einem gewissen Maß Rücksicht auf die Bevölkerung und ihre Bedürfnisse. Sie verhandeln mit den Menschen. Dies gilt insbesondere im Bereich der Rechtsprechung. Dazu haben sie ein Justizwesen aufgebaut, das sehr bürokratisch ist und auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurückgreift. Tatsächlich ist das Justizwesen der Taliban heute weiter entwickelt als das der afghanischen Regierung.

    Burgmer: Das heißt also, das juristische System der Taliban ist weiter entwickelt als das juristische System des modernen Staates momentan, aber es basiert auf der Scharia, auf der islamischen Gesetzgebung.

    Dorronsoro: Jede Gesetzgebung in Afghanistan beruht auf der Scharia. Das ist nichts, was eine Unterscheidung rechtfertigt. Das war auch schon vor den Taliban der 90er die juristische Grundlage. Heute ist nicht die Frage, ob die Scharia angewendet wird oder nicht. Vielmehr, welche Interpretation angewendet wird und von wem. Die Taliban interpretieren die Scharia sehr konservativ. Dies ist eine der afghanischen Traditionen."

    Burgmer: Ist es eine afghanische Tradition oder ist es eine wahhabitische Tradition?

    Dorronsoro: Das ist eine afghanisch-zentralasiatische Tradition. Besonders wenn man sich die Autoren anschaut, die die Taliban inspiriert haben. Das Problem ist, dass diese Tradition lange nicht mehr angewendet wurde. Aber diese Ideologie der Taliban nicht nur extrem konservativ, sondern auch sozialrevolutionär. Sie wendet sich direkt gegen eine andere afghanische Rechtstradition, nämlich die des Stammesrechts. Dieses verbietet zum Beispiel die Möglichkeit des Erbes für Frauen, während den Frauen auf Grundlage der Scharia ein Erbrecht von 50 Prozent zugestanden wird. Das Stammesrecht verbietet eine Zeugenaussage von Frauen vor Gericht, die Scharia nicht. Die Anwendung des Scharia-Rechts beeinflusst die afghanische Stammesgesellschaft. In der Sicht der Taliban selbst bedeutet es die Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Neu ist diese Art der Anwendung von Scharia-Rechtsprechung auch nicht. Bis ins Jahr 1980 war der afghanische Staat sogar teilweise auf einer solchen Grundlage konstituiert. Ein universalistischer Islam verband die Stämme, die Clans und die ethnischen Gruppen miteinander. Der Staat nutzte die Rechtsprechung, um in den ländlichen Gebieten präsent zu sein und Einfluss zu nehmen. Die Taliban haben also, wenn auch vielleicht unbewusst, diesen universalistischen Islam aufgenommen, um einen Staat zu konstruieren.

    Burgmer: Nun möchte ich, nachdem wie die Taliban ein wenig sozusagen in die Moderne gerückt haben und weniger aus dem Blickwinkel einer mittelalterlichen Bewegung sehen können, sondern eher als Bewegung, die sozusagen eine Moderne mit in sich trägt, auf die Bedeutung Pakistans zu sprechen kommen, weil mir scheint, dass man Pakistan mit einbezieht, wenn man die Taliban betrachtet, und man das nicht ausreichend bewerten kann. Welche Bedeutung hat denn Pakistan für die Bewegung der Taliban gehabt und hat sie diese Bedeutung heute noch?

    Dorronsoro: Man muss hier verschiedene Aspekte voneinander unterscheiden. Erstens sind die Taliban in Pakistan entstanden, und zwar in den Medresen, den religiösen Schulen der Deobandis. Dieser in mancher Hinsicht ultraorthodoxe Reformislam hegt ein starkes Misstrauen gegenüber einem traditionellen und populistischen Islam. Ihr Gedankengut ist in manchen Teilen radikaler als der klassische Islam in Afghanistan. Dass diese Art Islam im Ausland, in Pakistan, rezipierte, führt weit in die Geschichte Afghanistans zurück. Im 19. Jahrhundert existierte kein Zentrum islamischer Gelehrsamkeit in Afghanistan. Und dadurch, dass Zentralasien durch die Russen kolonisiert worden war, fehlte der Zugang zu den bislang benutzten mittelasiatischen Zentren. So sind besonders im 20. Jahrhundert viele Afghanen in den pakistanischen Medresen, insbesondere in der Grenzregion zu finden. Ein weiterer Aspekt fügt sich darin ein. Pakistanische und afghanische Parteien sind seit jeher sehr eng miteinander verflochten. Man tauscht sich aus und ist in seiner politischen Ideologie einander sehr ähnlich. Man entscheidet teilweise gemeinsam. Es existiert aber noch eine dritte Ebene. Sie bezieht sich auf den pakistanischen Staat. Politisch instrumentalisiert dieser seit seiner Gründung die afghanischen Parteien für seine Interessen. Seit 1994, seit dem Aufstieg der Taliban, verfolgte man direkten Einfluss in Afghanistan. Aber diese drei Aspekte, die Medresen, die Parteien und die staatliche Ebene, funktionieren nicht automatisch zusammen. Wie Ende 2001, als der pakistanische Staat die Unterstützung für die Taliban einstellte und es dennoch zu massiven Demonstrationen gegen die Amerikaner und für die Taliban in Pakistan kam. Wenn der pakistanische Staat die Unterstützung für die Taliban irgendwann komplett einstellt, zum Beispiel auf internationalen Druck, bleiben die Taliban in den pakistanischen Medresen fest verankert sind.

    Burgmer: Nun ist die ganze Region militärisch aufgeheizt, es sind ungeheure Waffen in diese Region hineingepumpt worden durch die Amerikaner. Unter anderem sind Bewegungen wie El Kaida und andere islamistische Bewegungen im Widerstand gegen die sowjetische Besetzung entstanden in Afghanistan. Welche Bedeutung, welche Beziehungen haben diese Bewegungen zu den Taliban heute noch?

    Dorronsoro: Um die Beziehung zwischen internationalen Dschihadisten und den Taliban zu verstehen, muss man wissen, dass sich die verschiedenen Gruppen der Dschihadisten historisch in Pakistan gebildet haben. Sie sind besonders in den 80er-Jahren in Peschawar aktiv gewesen. Osama Bin Laden, der Gründer von El Kaida, hat in Peschawar gelebt. Er selbst ist kaum in Afghanistan gewesen. Es hat nur eine militärische Operation gegeben, an der er teilgenommen hat. Diese Dschihadisten waren mit dem Westen verbündet. Als sich die Taliban 1994 formierten, ist Bin Laden nicht sehr aktiv gewesen. Er war kaum noch in der Region präsent. Dann eroberten Taliban Afghanistan und sie fanden viele Trainingslager. Alle diese Leute kämpften in irgendeinem Dschihad. Diese Kämpfer waren vorher schon von Pakistan nach Afghanistan gezogen, weil die Amerikaner Pakistan sonst als terroristischen Staat eingestuft hätten. Es waren Camps für Dschihadisten, die für ein befreites Kaschmir kämpften, Dschihadisten, die international operierten, Dschihadisten aus Tschetschenien, aus Algerien, Ägypten und der Türkei. Die Vorstellung eines internationalen Dschihads passte nicht in ihr Weltbild, aber einige dieser Gruppen schlossen sich den Taliban an. Sie glaubten, dass, wenn man den Bürgerkrieg gewinnen würde, man selbst davon gewisse Vorteile hätte. Solche Vorstellungen hatte auch die Gruppe um Bin Laden. Dabei war die Welt von Mullah Omar und Bin Laden völlig unterschiedlich. Mullah Omar kam aus einer eher ländlichen Region um Kandahar. Er vertrat die Idee eines fundamentalistischen Islam, der wenig innovativ war. Dazu war er nationalistisch geprägt. Bin Laden dagegen war ein saudischer Milliardär mit jemenitischer Herkunft. Sein Handeln war völlig strategisch an einer internationalistischen politischen Vision des Islam ausgerichtet. Nicht nur sprachlich, auch intellektuell war es ein gewaltiger Unterschied. Die internationalen Dschihadisten, insbesondere El Kaida, wollten die Taliban für ihren Glaubenskrieg mit dem Westen manipulieren. Dabei drehte sich die Auseinandersetzung zwischen dem Westen und den Taliban nur um drei konkrete Fragen: die Frage der Drogen, die Frage der Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Frauen, und die Frage des Terrorismus. Die Drogenproblematik wollten die Taliban selbst möglichst rasch aus der Welt schaffen. 1999 beschränkten den sie radikal den Drogenanbau. Man kooperierte mit dem Westen. Es blieb die Frage der Menschenrechte. Dies führte zu heftigen Spannungen. Gerade weil der Stellung der Frau in der Ideologie der Taliban eine besondere Rolle zukam. Das Tragen der Burka ist übrigens nicht unbedingt ein Ergebnis der Taliban. Auch wenn dieses Bild von den westlichen Medien propagandistisch instrumentalisiert wurde. Für einen Teil der Bevölkerung gehört das Tragen der Burka auch heute noch zum Alltag. Sie ist also in Bezug auf die Menschenrechte nicht wesentlich. Entscheidender jedoch, insbesondere für die Amerikaner, war die Frage Bin Laden, El Kaida und des international organisierten Terrorismus. Auch hier versprachen die Taliban, zu kooperieren. Nach den Anschlägen in Ostafrika 1998 stimmten sie zu, Bin Laden zu kontrollieren. Danach drängten die Amerikaner die UNO zu Sanktionen gegen Afghanistan. Die Zerstörung der Buddha Statuen in Bamian geschah nicht aus theologischen, sondern aus politischen Gründen. Es war in einer Phase extremer Spannungen mit dem Westen. Die Taliban wollten ein Zeichen gegen die Sanktionen der UNO setzen und El Kaida nutzte die schwierigen Beziehungen zwischen den Taliban und dem Westen für sich aus.

    Burgmer: Wie ist diese Beziehung heute? Gibt es dazu irgendwelche Hinweise, wie die Beziehung zwischen den Taliban heute und den internationalen Dschihadisten, die noch aktiv sind in Afghanistan, ist?

    Dorronsoro: Es ergeben sich zwei Berührungspunkte. Erstens sind die internationalen Dschihadisten und die Taliban in bestimmten Regionen denselben Bombardierungen, Drohnenangriffen und anderen militärischen Operationen ausgesetzt. Sie stehen seit nunmehr über zehn Jahren demselben Feind gegenüber. Dies gilt hauptsächlich für die Region Waziristan. Die internationalen Dschihadisten spielen heute wieder eine sehr bedeutende Rolle in Afghanistan. Sie sind überall in Afghanistan präsent und unterstützen die Taliban. Sie nutzen die Erfahrungen, die sie im Irakkrieg gemacht haben, zum Beispiel zum Verminen von Gelände. Politisch haben sie dagegen keinen Einfluss. Die Taliban sind immer noch eine nationalistische Bewegung. Ihr Ziel ist, die Macht in Kabul zu gewinnen oder aber zumindest eine politische Beteiligung am afghanischen Staat zu erreichen.

    Burgmer: Ein kurzer Satz am Ende. Was würde das bedeuten für die Zukunft, wenn diese militärische Option der Taliban sich durchsetzen würde? Was würde das für Afghanistan bedeuten?

    Dorronsoro: Derzeit gibt es zwei Optionen. Beide hängen vom militärischen Potenzial der afghanischen Armee ab. Erstens könnten die Taliban ihre Guerillastrategie gegen das Regime Karzai oder seinen Nachfolger nach den Wahlen 2014 fortführen. Und zwar bis zu einem militärischen Sieg. Dies könnte zu einem neuen Emirat von Afghanistan unter der Herrschaft von Mullah Omar führen. Zweitens für den Fall, dass Pakistan die Taliban nicht mehr unterstützt, könnten sie auch einen Kompromiss in Gesprächen anstreben. Ein Hindernis ist allerdings, dass die Taliban die Regierung Karzai nicht anerkennen und jedes Gespräch mit ihr verweigern. Man will nur mit den Amerikanern verhandeln. Sollte es dennoch zu Gesprächen kommen, wird es weitere Hindernisse geben. Soll den Taliban eine Regierungsbeteiligung eingeräumt werden, Gouverneurs- oder Ministerposten zugestanden werden? Ich bin diesbezüglich nicht sehr optimistisch. Die Zeit ist schon weit fortgeschritten. Die Taliban könnten den Truppenabzug abwarten und dann die militärische Option wählen. Denn im Augenblick ist die afghanische Armee ohne westliche Unterstützung nicht in der Lage, die Taliban militärisch zu besiegen. Man wird einem militärischen Angriff im Westen und Süden nichts entgegensetzen können. In den nächsten Monaten wird man also Gebiete haben, die unter völliger Kontrolle der Taliban sein werden.