Archiv


Frieden in Ruanda ist fragil

Heinlein: Über die Situation in Ruanda will ich jetzt sprechen mit Silvia Servaes vom Katholischen Hilfswerk Misereor. Guten Morgen.

Moderator: Stefan Heinlein |
    Servaes: Schönen guten Morgen.

    Heinlein: Frau Servaes, Sie sind vor wenigen Tagen von einer mehrwöchigen Reise aus Ruanda zurückgekehrt. Zehn Jahre nach dem Völkermord, was ist Ihr Eindruck? Wie weit ist Ruanda noch von der Normalität entfernt?

    Servaes: Sicherlich ist Ruanda ein Stück der Normalität nähergekommen, wenn man das vergleicht mit der Situation von vor zehn Jahren. Was sich sicherlich beobachten lässt, dass auch viele der Überlebenden des Völkermordes inzwischen doch eine gewisse Zuversicht, eine gewisse Perspektive gefunden haben, wieder einen Platz im Leben gefunden haben. Die Leute haben zum Teil Ausbildungen wieder aufgenommen, die Jüngeren haben Schulbildungen wieder aufgenommen, zum Teil auch abgeschlossen seit 1995. Sie gehen Arbeiten nach, sie haben Familien gegründet. Ich denke, da ist sicherlich zu sehen, dass das Leben sozusagen wieder begonnen hat. Auch was die sozialen Beziehungen betrifft, man hat die sozialen Beziehungen wieder aufgenommen. Es ist nicht mehr so, dass die Leute dasitzen und sagen, sie haben eigentlich gar keinen Menschen, sondern sind völlig alleine zurückgeblieben.

    Heinlein: Können Sie Beispiele nennen, für diese Zuversicht, für dieses Stück Normalität, das zurückgekehrt ist?

    Servaes: Ja, das lässt sich sicherlich nennen. Es gibt Leute, die ich noch von früheren Zeiten kenne, und die eben 1995 dasaßen und völlig apathisch waren und daran gedacht haben, dass sie als eine der Wenigen ihrer Familien überlebt haben oder als Einzige überlebt haben. Die haben gemeint, sie haben eigentlich keinen Plan, keine Zukunft und vor allem auch Angst, dass alles noch einmal beginnen könnte und sie selbst Opfer weiterer Verfolgungen werden könnten. Ich kenne zum Beispiel eine junge Frau, die gerade 1995/1996 sehr betroffen davon war. Sie ist 1997 wieder zur Schule gegangen, hat ihre Schulbildung abgeschlossen, hat eine Ausbildung als Lehrerin gemacht und ist inzwischen Lehrerin an einer Privatschule. Sie hat eine Familie gegründet, hat inzwischen vier Kinder und sieht der Zukunft zumindest ganz pragmatisch entgegen, sagen wir es mal so.

    Heinlein: Frau Serveas, Präsident Kagama hat ja die Devise ausgegeben, es gebe keine Hutu mehr und keine Tutsi, es gibt nur noch Ruanda. Entspricht dies der gesellschaftlichen Realität?

    Servaes: Das ist natürlich eine alte Devise. In Ruanda ist es ja so, dass alle Gruppen, wie auch immer sie aufgeteilt werden, in einem Land leben. Also nicht, dass eine Gruppe in einer Ecke und die andere Gruppe in einer anderen Ecke lebt. Es ist so, dass alle eine Sprache haben und dass die Religionszugehörigkeit nicht entlang einer ethnischen Linie verläuft. Durch den Völkermord sind diese Linien sicherlich vertieft worden, und es gibt auch sicherlich Leute, die sagen, mit Hutu wollen sie nichts mehr zu tun haben. Es gibt andere Leute, die sagen, wir sind alle Ruanda, und was passieren muss, ist dass die Mörder unserer Familien verfolgt werden müssen, unabhängig davon, was sie für eine Zugehörigkeit haben.

    Heinlein: Wird diese Frage tatsächlich aufgegriffen, oder werden die Geschehnisse von damals eher verdrängt? Welche Rolle spielen die Dorfgerichte, über die wir gerade gehört haben?

    Servaes: Die Dorfgerichte spielen im Moment eine ganz wichtige Rolle. Das Plakat, was da erwähnt worden ist "Die Wahrheit heilt", die sozusagen als Aufforderungsplakate für die Dorfgerichte gelten, die sind wirklich überall im Land zu sehen. Man spricht eine ganze Menge davon, weil eben mehr und mehr von diesen Pilotregionen eingerichtet werden. Die Gerichte haben allerdings in der Tat eine zwiespältige Position. Diese Zwiespältigkeit, die im letzten Beitrag dargestellt wurde, dass auf der einen Seite gesagt wird, das ist unsere einzige Möglichkeit der Wahrheit näher zu kommen und damit auch die Verurteilungen praktisch aussprechen zu können, was mit den staatlichen Gerichten nicht so schnell möglich ist. Wenn das mit den Gacaca-Gerichten angeblich hundert Jahre dauern sollte, das haben Leute ausgerechnet, würde das mit den staatlichen Gerichten dreihundert Jahre dauern. Eine gewisse Zuversicht wird dem auf der anderen Seite entgegengebracht, indem man sagt, das ist unsere einzige Möglichkeit, eine gewisse Aufarbeitung zu gewährleisten, und eben dieses Problem zu lösen, dass klar sein muss, wer sich beteiligt hat und wer dann eben entsprechend bestraft werden muss. Ohne diese Strafe gibt es keine Gerechtigkeit und auch keine Versöhnung.

    Heinlein: Stellt man sich denn noch die Frage, Frau Serveas, wie konnte es zu diesem Blutbad, zu diesen schrecklichen Gräueltaten kommen? Oder ist den Menschen heute der Alltag wichtiger?

    Servaes: Ich denke die zweite Alternative ist sicherlich die, dass die Leute einen sehr pragmatischen Umgang mit der Situation haben. Auf den Hügeln ist es eigentlich so, dass man eher wieder zusammenlebt, was sicherlich zum Teil oberflächliches Zusammenleben ist. Ich denke, man muss da sehr vorsichtig sein. Es gibt da Anknüpfungspunkte, dass wenn ähnliche Propaganda wieder passieren würde, wieder angeregt würde, sicherlich eine ganze Menge Potential auch vorhanden ist, also dass das Morden weitergehen könnte. Ich denke, dass ist alles noch sehr, sehr fragil von dieser Situation her. Es wird eigentlich im Wesentlichen darauf bestanden in der Tat, es gibt keine Hutu und keine Tutsi mehr. Auch über die Gerichte wird wenig darauf geachtet, wie es dazu gekommen ist und welche der Mechanismen, die zu dem Völkermord geführt haben, sie jetzt aktiv angehen müssen, um zu vermeiden, dass noch so eine Katastrophe passiert.

    Heinlein: Glauben Sie, dass Ruanda auf gutem Weg ist in die Richtung, die Sie gerade skizziert haben, dass so etwas nicht mehr passieren kann?

    Servaes: Ja, ich denke, der gute Weg ist sicherlich noch sehr, sehr steinig, und man muss noch sehr genau hingucken, sehr genau aufpassen und zum Teil Politik noch wesentlich aktiver angehen, weil ich denke, es reicht eben nicht zu sagen, Hutu und Tutsi gibt es nicht mehr, und sie sind alle ein Volk der Ruanda, was natürlich alles einen wahren Kern hat. Aber ich denke, es ist sicherlich wichtig, die Unterschiede, die über hundert Jahre immer wieder verstärkt worden sind und immer wieder benutzt worden sind, in politischen und gesellschaftlichen Prozessen, dass die sich nicht einfach so abschaffen lassen. Schon gar nicht nach dieser Katastrophe, wo das eben eine große Rolle gespielt hat. Ich denke, da gehört mehr dazu, als zu sagen, das spielt jetzt keine Rolle mehr.

    Heinlein: Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda war das heute Morgen hier im Deutschlandfunk Silvia Servaes vom Katholischen Hilfswerk Misereor. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Servaes: Ich danke auch.