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Friedensforscher: Noch immer Gewaltpotenzial im Irak

Die Anschläge mit mehr als 60 Toten haben die Aufmerksamkeit wieder auf den Irak gelenkt, wo die Sicherheitslage sich in den vergangenen Jahren verbessert zu haben schien. Hintergrund seien unter anderem Bedenken aus dem Iran und Widerstand radikaler schiitischer Kreise gegen Überlegungen, US-Truppen doch noch länger im Land zu belassen.

Jochen Hippler im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Der Arabische Frühling oder das, was davon übrig geblieben ist, hat in diesem Jahr die internationale Aufmerksamkeit wesentlich geprägt. Tunesien, Ägypten, der Jemen, Libyen und Syrien. Auch der klassische Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist wieder nach vorne gerückt, aber es gibt noch so etwas wie ein inzwischen fast vergessenes Land: der Irak. Gestern die blutigste Anschlagsserie in diesem Jahr mit mehr als 60 Toten. Seit Monaten steigen ohnehin wieder die Opferzahlen infolge brutaler Attentäter. Dabei hatten viele internationale Beobachter die Hoffnung, dass der Irak auf einem guten Weg sein könnte. Mit einer gewählten Regierung, mit demokratischen Strukturen, mit ersten wirtschaftlichen Erfolgen. Nach Einschätzungen amerikanischer Militärs ist das Zweistromland allerdings nach wie vor ein extrem gefährlicher Ort - gefährlicher als beispielsweise noch vor einem Jahr -, drohen die politischen Errungenschaften in Bagdad wieder zerstört zu werden. Am Telefon ist nun der Irak-Kenner, Politikwissenschaftler und Friedensforscher Jochen Hippler von der Universität in Duisburg. Guten Morgen!

    Jochen Hippler: Guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: Herr Hippler, ist der Irak für die internationale Politik nur noch ein Randthema?

    Hippler: Na ja, es hat sich wirklich so entwickelt. Nachdem es in den Jahren 2007, 2008/2009 zu einer Beruhigung gekommen ist, was die Sicherheitslage betrifft, und nachdem gleichzeitig das Interesse der amerikanischen Regierung Obama sich sehr stark auf Afghanistan verlagert hat, hat sich wirklich tatsächlich das Interesse sehr gelegt. Das heißt aber nicht, dass die Situation im Irak jetzt ruhig und gelöst sei, sondern tatsächlich liegen noch eine ganze Menge Schwierigkeiten vor dem Land.

    Müller: Also die internationale Politik kann sich das nicht leisten wegzuschauen?

    Hippler: Nein, wir haben im Moment immer noch einen Bodensatz von Gewalt, der etwa 100 Tote im Monat ausmacht, das ist halt schon eine ganze Menge. Allerdings muss man natürlich auch sagen, dass es von dem Höhepunkt der Gewalt Ende 2006, da waren es so 3500, 3600 im Monat, und das ist natürlich ein deutliches Zurückgehen. Aber wir sehen jetzt auch gerade in den letzten Tagen, dass es jeden Moment wieder möglich ist, dass es halt explodiert dort.

    Müller: Wer schlägt gegen wen zu?

    Hippler: Es hat eine Verminderung und eine Verschiebung, würde ich sagen, gegeben. Ein Teil der Beruhigung der Situation in den Jahren 2007, 2008 hing damit zusammen, dass sunnitischen Aufständischen ihre Bindungen, die es damals gegeben hat, ihre Bindungen an El-Kaida-Organisationen vermindert haben, dass es da Konkurrenzen gegeben hatte und dass deswegen insbesondere die terroristischen Dschihadisten aus dem Ausland geschwächt gewesen sind. Das ist weiterhin der Fall, wenn sie auch immer wieder nachweisen wollen, dass sie noch da sind und dass sie noch zuschlagen können und dass es nicht vorbei ist. Und wir haben aber auch in den letzten Monaten so eine gewisse Tendenz, dass sich bestimmte schiitische Gruppen immer noch teilweise um diesen Prediger, diesen radikalen Prediger Muktada el-Sadr auch wieder mit Anschlägen gegen amerikanische Truppen zu Wort melden. Im letzten halben Jahr sind auch, ich denke mal so fünf, vielleicht sechs amerikanische Kampfhubschrauber abgeschossen worden, das ist halt auch eine Zeit lang gar nicht passiert. Insofern, das sind so zwei Quellen, die halt für die Gewalt verantwortlich sind.

    Müller: Bleiben wir, Herr Hippler, bei dem Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten: Welche Rolle spielt immer noch der Iran?

    Hippler: Ja, es ist ein bisschen doppelbödig. Wir haben einerseits tatsächlich, dass die Regierung Maliki in Bagdad immer noch sehr viel Wert drauf legt, gute Beziehungen zu haben. Es ist vor einiger Zeit noch ein Vertrag, ein Abkommen mit der iranischen Regierung abgeschlossen worden, das sich auf unterschiedliche Bereiche - Kultur, Wirtschaft und so weiter - bezieht. Wir haben eine Einflussnahme gehabt der iranischen Regierung in Teheran auf die Politik im Irak, die sich interessanterweise getroffen hat auch mit der aus Washington, wo man halt auf beiden Seiten versucht hat, die jetzige Regierung zustande zu kriegen. Das heißt, da hat Teheran diese radikalen schiitischen Gruppen um Muktada el-Sadr sehr stark unter Druck gesetzt, den schiitischen Premierminister Maliki mit zu wählen, um endlich eine Regierung zustande zu kriegen. Und wir haben gleichzeitig aber auch so eine anti-iranische Strömung in der Bevölkerung, durchaus auch in Schiiten, die so aus national, nationalistischen Gruppen eine Einwirkung des Iran auf den Irak ablehnen.

    Müller: Herr Hippler, wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, spielt Teheran durchaus, in Teilen jedenfalls, eine konstruktive Rolle inzwischen?

    Hippler: Ja, ich glaube, dass man in der Vergangenheit in Teheran so eine doppelte, eine Doppelrolle gespielt hat. Einerseits hat man den Irak immer benutzt, um auch Druckmöglichkeiten gegen Washington zu haben. So ein gewisses Maß an Unstabilität, ein gewisses Maß auch an Angriffen auf die USA war durchaus erwünscht, um eben zu zeigen, dass man auch Druckmöglichkeiten gegen die USA hat und nicht nur umgekehrt. Und andererseits hat man natürlich im Iran auch kein Interesse daran, dass das Land wirklich im Chaos versinken würde, weil das auch natürlich Rückwirkungen auf den Iran haben könnte. Das gab halt eine doppelte Rolle sozusagen, die so ein bisschen der auch in Afghanistan ähnelt, nur dass eben die Schiiten im Irak ja offensichtlich die Mehrheit sind.

    Müller: Wie wichtig, Herr Hippler, ist immer noch die Präsenz der amerikanischen Soldaten?

    Hippler: Ich glaube, das ist auch teilweise der Hintergrund für die gegenwärtigen Probleme so ein bisschen. Also offiziell ist die Situation die, dass die US-Truppen zum Jahresende abziehen sollen und werden. Das ist beschlossen, und jetzt gibt es aber aufgrund bestimmter auch sicherheitspolitischer Probleme erste Lockerungsübungen aufseiten der irakischen Regierung, ob man nicht wenigstens einen Teil der amerikanischen Truppen zu Ausbildungszwecken und so da lassen sollte. Und das wiederum trifft auf den Widerstand bestimmter radikaler, auch gerade schiitischer Kreise um Muktada und natürlich auch um Bedenken aus dem Iran, sodass das im Moment einer der Punkte ist, die umstritten sind. Wobei man auch noch mal sehr vorsichtig sein muss: Dieser Abzug der US-Truppen zum Jahresende wird nach der gegenwärtigen Planung ausgeglichen durch eine unglaubliche Aufstockung des zivilen Personals, das heißt, wir sprechen von 17.000 zivilen amerikanischen Sicherheits- und Wirtschafts- und anderen politischen Beamten, die ins Land kommen sollen. Es sind neue Konsulate in Basra, in Erbil und so eröffnet worden, und im Moment gibt es Schwierigkeiten, die Leute, die man plant für die amerikanische Botschaft und andere Stellen einzufliegen, auch nur unterzubringen. Es gibt nicht genug Betten, nicht genug Häuser, um die unterbringen zu können. Das heißt, dieser Abzug der Soldaten ist eben tatsächlich, wird kompensiert werden durch eine ganze massive Aufstockung privaten Sicherheitspersonals. Es gibt eine eigene kleine, na, sagen wir mal: Air Force, eine zivile Air Force der Botschaft, die aus 46 Flugzeugen besteht. Also da wird so was ausgeglichen, und das führt natürlich im Irak durchaus auch zur Unruhe und zur Kritik und zur Nachfrage.

    Müller: Sie haben gerade gesagt, Herr Hippler, es gibt da eine Aufweichung bei diesem Thema, Abzug der amerikanischen Soldaten. Wird Washington gegebenenfalls, wird Barack Obama gegebenenfalls bereit sein, diesen Abzug, in Teilen jedenfalls, noch aufzuschieben, zu verlängern?

    Hippler: Eigentlich wollen das beide Regierungen. Die irakische Regierung hat schon angekündigt, Gespräche mit Washington aufzunehmen, die amerikanischen Militärs, auch die Regierung hat angekündigt, dazu bereit zu sein. Das Problem ist eben, dass die schiitische Muktada-Miliz angekündigt hat, wenn die Amerikaner nicht pünktlich zum Ende Dezember abziehen, dann würde man sie auch wieder militärisch angreifen, und das ist natürlich eine Situation, das möchten eben weder die amerikanischen noch die irakischen Behörden. Und dazu kommt dann noch die Gefahr, dass das auch die irakische Regierung sprengen könnte, weil diese über ihren Prediger und ihre Partei eben auch in der Regierung vertreten ist. Insofern, die amerikanischen Kräfte erst zu Ausbildungszwecken zu bitten, im Land zu bleiben, und eine der Regierungskräfte fängt dann an, Krieg gegen sie zu führen, das ist natürlich politisch hoher Sprengstoff.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Jochen Hippler, Irak-Kenner und Friedensforscher von der Universität Duisburg. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.