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Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow
"Die Leute suchen bei den Medien Schutz und Hilfe"

Dmitri Muratow ist Chefredakteur der russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“ und Träger des Friedensnobelpreises 2021. Seit Bekanntgabe dieser Auszeichnung erreichten seine Redaktion hunderte Hilfeanfragen, sagte Muratow im Dlf. Die Menschen in Russland zählten nicht mehr auf ihre Lokal- und Regionalpolitiker.

Dmitri Muratow im Gespräch mit Sabine Adler |
Der russische Journalist Dmitri Andrejewitsch Muratow bei einem Interview in einem Radiostudio in Moskau
Für russische Journalisten gehe die größte Gefahr vom Staat aus, so der Chefredakteur der "Nowaja Gaseta" Dmitri Muratow (IMAGO / SNA)
Am 10. Dezember 2021 bekommt der russische Journalist Dmitri Muratow gemeinsam mit seiner philippinischen Kollegin Maria Ressa in Oslo den Friedensnobelpreis verliehen. Ausgezeichnet werden beide für ihre Bemühungen um die Wahrung der Meinungsfreiheit, die eine Voraussetzung für Demokratie und dauerhaften Frieden sei, so die Begründung des Nobel-Komitees.
Fotocollage der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratov und Maria Ressa
Der Friedensnobelpreis 2021
Die philippinische Journalistin Maria Ressa und der russische Journalisten Dmitri Muratow erhalten den diesjährigen Friedensnobelpreis - für ihren Einsatz für den Schutz der Meinungsfreiheit.
Viele Menschen in Russland hätten kein Vertrauen mehr in Lokal- und Regionalpolitiker, sagte der Chefredakteur der "Nowaja Gaseta" im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Sie bäten daher seine Redaktion um Hilfe bei der Lösung von Problemen. Zudem seien viele mit ihren Interessen nicht im Parlament vertreten. In der Redaktion der "Nowaja Gaseta" sei daher eine Gruppe gegründet worden, die sich der Anliegen der Menschen annehme und versuche Lösungen zu finden.

Größte Gefahr für den Journalismus geht vom Staat aus

Die größte Gefahr für Journalisten in Russland gehe vom Staat aus, betonte Muratow. Die Arbeit von freien Medien werde bewusst erschwert, durch Strafverfahren oder dadurch, dass man sie zu "ausländischen Agenten" oder "unerwünschten Organisationen" erkläre. Einige Kollegen hätten das Land verlassen müssen. Der 61-Jährige würdigte den Mut junger Journalistenkollegen in Russland, trotz der Repressalien neue Blogs und Recherche-Portale zu gründen.
Auch 15 Jahre nach der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja gingen die Ermittlungen zu den Hintermännern trotz Verjährungsfrist weiter. Dies habe der zentrale Ermittler der Redaktion auf Nachfrage bestätigt, berichtete Muratow. Auch seine Zeitung werde ihre eigenen Ermittlungen fortführen. Schon einmal habe man einen entscheidenden Hinweis geliefert.

Muratow: Kritik an Preisgeld-Verwendung nicht gerechtfertigt

Kritik an der Verwendung des Preisgeldes wies der Friedensnobelpreisträger zurück. Neben der "Stiftung Anna Politkowskaja für die Unterstützung unabhängiger Journalisten" soll auch die Stiftung "Kreis des Guten" bedacht werden, die auf Anweisung von Präsident Wladimir Putin gegründet worden war. Dabei handelt es sich um eine Hilfsorganisation für an spinalem Muskelschwund erkrankte Kinder, über die die "Nowaja Gaseta" intensiv berichtet. Redaktion und Leserschaft hätten gemeinsam entschieden, diese Stiftung zu unterstützen, da das Geld den Kindern und nicht etwa dem Präsidenten zugutekomme, sagte Muratow.

Das Interview im Wortlaut:
Sabine Adler: Zuallererst einmal: Herzlichen Glückwunsch. Als Sie am 8. Oktober von Oslo aus angerufen wurden, gingen Sie nicht ans Telefon, weil Sie gerade einen Streit mit jemanden aus der Redaktion am anderen Ende der Leitung hatten. Ich bin neugierig. Worum ging es bei dem Streit?
Dmitri Muratow: Es ging um einen Artikel über Beslan, den Terroranschlag, der nicht mehr untersucht wird. Damit befasst sich Lena Milaschina, und wir hatten da eine Menge strittiger Punkte.
Adler: Was gibt es Neues zu Beslan? Dort ist 2004 eine Schule erstürmt worden, die Terroristen tagelang in Geiselhaft hielten. Dabei sind 333 Menschen gestorben, darunter 186 Kinder.
Muratow: Es ging um Material, wer welche Entscheidung getroffen hat, und welche Waffen bei der Erstürmung verwendet wurden.
Zwei Frauen trauern um Kinder, die beim Geiseldrama in Beslan ums Leben kamen
Als ein Festtag zum Trauertag wurde
Das Geiseldrama von Beslan endete tragisch und hatte weitreichende Folgen für die innenpolitische Entwicklung Russlands. Am 1. September 2004 brachten Terroristen in einer Schule mehr als 1.100 Menschen in ihre Gewalt. Am Ende waren mehr als 300 Menschen tot, darunter 186 Kinder.
Adler: Wir führen dieses Interview per Telefon, wegen der Corona-Situation in Moskau. Lassen Sie uns bitte kurz über die Covid-Pandemie in Moskau, in Russland sprechen. In Russland ist nur ein Drittel der Bevölkerung geimpft.
Muratow: 35 Prozent sind es.

"Hier läuft gerade eine Kampagne der Impfgegner"

Adler: 33 oder 35 Prozent, gemessen an Deutschland oder Europa ist das wenig. Ist das ein Beweis dafür, dass die Regierungspropaganda mit dem Sputnik-Impfstoff die Menschen nicht überzeugen konnte?
Muratow: Es gibt so eine Auffassung, dass die Leute angeblich nicht der Propaganda glauben. Aber dann frage ich, warum glauben sie der sonstigen Propaganda? Warum glauben sie der Propaganda, wenn sie über die Verfassung abstimmen? Warum glauben sie der Propaganda, wenn das Rentenalter angehoben wird? Hier läuft gerade eine Kampagne der Impfgegner. Und wir sehen uns dieses Phänomen derzeit genau an. Unsere Korrespondenten sind jetzt im Moment in kleinen Städten und Dörfern unterwegs und versuchen herauszufinden, warum die Leute lieber auf bestimmte Freiheiten verzichten als sich impfen zu lassen. Bislang haben wir auf diese Frage keine Antwort. Wir befragen Soziologen und Psychologen und hoffen, dass wir in drei Wochen mehr sagen können. Das Vakzin ist da, in Moskau kann man sich alle 100 Schritte impfen lassen. In Geschäften, auf dem Roten Platz, in jedem Krankenhaus. Aber es kommt keiner zum Impfen. Wir klären, warum das so ist.

"Impfstoff Sputnik bewahrt einen vor dem Tod"

Adler: Und es gibt noch ein Phänomen: Ihre Landsleute fahren nach Serbien, nach Belgrad, um sich impfen zu lassen, zum Beispiel mit Moderna oder Biontech, nur nicht mit dem Sputnik-Impfstoff. Wie ist das zu erklären?
Muratow: Das hat damit zu tun, dass die Weltgesundheitsorganisation Sputnik noch nicht anerkannt hat, allerdings ist man gerade dabei. Und weil viele Länder niemanden einreisen lassen, der mit Sputnik geimpft ist. In die USA zum Beispiel wird man nicht mehr reingelassen und in europäische Länder auch nicht. Somit lassen sie sich mit Astrazeneca oder Pfizer impfen. Was die Qualität von Sputnik angeht, sie wird nicht angezweifelt. Ich bin zweimal mit Sputnik geimpft, habe sehr gut Antikörper entwickelt. So geht es auch den anderen in unserer Redaktion. Wir haben uns mit zwei russischen Vakzinen impfen lassen: mit Sputnik und Covivac. Aber niemand lässt sich mit dem russischen Impfstoff Epivaccorona impfen, weil der für Quatsch gehalten wird, für ein Placebo. Sputnik dagegen ist ein wirklich erfolgreicher Impfstoff.
Eine Krankenschwester in Argentinien hält eine Spritze und die Verpackung des russischen Impfstoffs Sputnik V in die Kamera
Wie die EU-Staaten mit Sputnik V umgehen
In der EU ist der russische Impfstoff Sputnik V noch nicht zugelassen. Einige EU-Mitgliedsländer bemühen sich deshalb eigenständig um Verhandlungen – und in Ungarn wird Sputnik sogar schon verimpft.
Adler: Wurde Sputnik zu schnell genehmigt?
Muratow: Ich kenne diese Ansicht, aber wissen Sie, die Pandemie war beispiellos. Die erste Covid-Welle war einfach furchtbar. Und natürlich sind unsere Mediziner und Forscher vom Gamaleja-Zentrum ein Risiko eingegangen. Aber das war gerechtfertigt. Ich kenne viele Chefärzte und Kliniken, wo man Covid-Patienten behandelt. Unsere Korrespondenten waren in dieser Roten Zone. Diejenigen, die an Covid erkrankten und geimpft waren, sind nicht gestorben. Möglicherweise hat es einige sehr wenige Einzelfälle gegeben. Sputnik bewahrt einen vor dem Tod. Nicht vor der Ansteckung, aber vor dem Tod. Ich habe mich angesteckt, nachdem ich geimpft war, und trotz meines Alters, meines Zustandes verlief die Infektion harmlos.

"Auf uns ist eine große Belastung zugekommen"

Adler: Dmitri Andrejewitsch Muratow, Sie haben den Friedensnobelpreis zusammen mit Maria Ressa von den Philippinen bekommen. Haben Sie die Hoffnung, dass dieser Preis, diese Ehrung, die Situation für die freie Presse in Russland verbessert? Oder wird es umgekehrt sein, wird der Nobelpreis die Dinge noch schlimmer machen?
Muratow: Das wird die Zeit zeigen. Bis jetzt sind ja erst einige Tage seit der Bekanntgabe vergangen. Es ist zu früh dafür. Aber wir in unserer Zeitung haben sehr viel Arbeit bekommen.

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Adler: Welcher Art?
Muratow: Auf uns ist eine große Belastung zugekommen. Ich lese jetzt jeden Tag die vielen Briefe, die wir zugeschickt bekommen. Zum Beispiel von Personen, die finden, dass über sie im Gericht ein ungerechtes Urteil gefällt wurde. Von Eltern, die für ihre Kinder sehr teure Medikamente brauchen. Von Menschen, die sich nur mit einem elektrischen Rollstuhl bewegen können. Diese Briefe kommen gerade zu Hunderten.
Adler: Zeugt das davon, dass Sie jetzt als eine Autorität angesehen werden?
Muratow: Das zeugt eher davon, dass die Leute nicht auf ihre Lokal- und Regionalpolitiker zählen, sondern glauben, dass ich einen Zauberstab in den Händen halte, mit dem man irgendwelche Probleme lösen kann. Wir haben jetzt in der Redaktion eine Gruppe gegründet, die sich dieser Sachen annimmt und Wege zeigt, wie man diese Probleme lösen kann.
Adler: Das finde ich beachtlich, denn Sie könnten ja auch sagen, Entschuldigung, aber das ist nicht unsere Sache.
Muratow: In Russland kann man das nicht sagen. Weil einfach zu viele Menschen und deren Interessen im Parlament nicht vertreten sind. Somit suchen die Leute bei den Medien Schutz und Hilfe. Deswegen können wir nicht einfach sagen, das ist nicht unsere Angelegenheit. Das machen manche, aber wir nicht.

Viele junge Menschen arbeiten dafür, Russland zu verändern

Adler: Man könnte meinen, die Lage der freien Medien in Russland sei wegen der unaufhörlichen Repressionen hoffnungslos, aber es tauchen immer wieder neue unabhängige Internetportale und Blogger auf. Wie ist das zu erklären?
Muratow: Wissen Sie, das ist eine sehr richtige Frage. Ich bin dankbar dafür. Es ist eine neue Generation entstanden, für die es sehr wichtig ist, sich für das Wohl der Gesellschaft einzusetzen. Damit sich die Dinge zum Besseren wenden, arbeiten sie in den Medien, als Programmierer, in der Auswertung großer Datenmengen. Sie sind bereit, unter schweren Bedingungen zu arbeiten, sich um die Umwelt zu kümmern, die einfach ein Elend ist bei uns. Sie nehmen sich des Problems der Armut an.
Diese Leute wollen, dass sich das Leben in unserem Land zum Besseren verändert. Diese 20- bis 30-Jährigen geben nicht auf, viele von ihnen wollen auch nicht ausreisen, sie wollen Russland nicht verlassen. Wir haben eine Vereinigung gegründet, die sich "Syndikat" nennt, und in der 50 unabhängige Medien vertreten sind. Und diese junge Generation weiß, wofür sie arbeitet. Sie wollen sich selbst verwirklichen und zugleich dafür einsetzen, dass es in unserem Land besser wird. Das ist ihr wichtigstes Motiv.
Adler: Das ist sehr gut, aber wir wissen, dass das auch gefährlich wird oder doch gefährlich werden kann. Können Sie sagen, aus welcher Richtung derzeit die größte Gefahr für Journalisten in Russland kommt?
Muratow: Ich denke, dass die größte Gefahr vom Staat ausgeht. Wir haben gesehen, wie einige Kollegen von Start-up-Unternehmen, die journalistische Recherche-Plattformen gründeten, Russland verlassen mussten. Dazu gehörten Portale wie "Wichtige Geschichte", "Insider" oder "Projekt". Das war sehr schade. Anfangs haben sie eine Verwarnung vom Staat erhalten, dann wurden Strafverfahren gegen sie eröffnet, danach wurden sie zu "ausländischen Agenten" erklärt und zu "unerwünschten Organisationen", was die Arbeit dieser Medien äußerst erschwerte.

Kollegen fühlen sich ermordeten Journalisten verpflichtet

Adler: Ihre Zeitung, die "Nowaja Gaseta", hat viel über Tschetschenien geschrieben und tut es immer noch. Anna Politkowskaja, die ich persönlich kannte, weil ich als Korrespondentin aus Tschetschenien berichtete und sie mir sehr freundschaftliche Ratschläge gab, wurde ermordet. Auch Natalia Estemirova und vier weitere Kollegen wurden getötet. Dazu gab es Verletzte und ständig neue Bedrohungen. Dmitri Muratov, wie haben Sie und Ihre Kollegen es geschafft, nach solchen Verlusten immer weiter zu arbeiten? Wie haben Sie es als Chef geschafft, Ihre Kollegen zu motivieren?
Muratow: Das war genau anders herum. Meine Kollegen haben mich überzeugt, weiterzuarbeiten. Ich vertrete die unpopuläre Auffassung, dass es keine Geschichte wert ist, dass einem unserer Journalisten auch nur ein Haar gekrümmt wird. Aber meine Kollegen sind der Meinung, dass sie die Arbeit fortsetzen sollten, die Politkowskaja, Schtschekotschichin, Igor Domnikow und unsere toten Kameraden geleistet haben. Was Natasha Estemirova, Stas Markelov und Nastya Baburova getan haben. Die Kollegen meinen, sie seien verpflichtet, ihre Sache weiterzuführen. Ich versuche, sie zu zügeln, aber es gelingt mir nicht immer.
Ein Mann trägt ein Bild von Anna Politkowskaja
Die Journalistin, die den "großen Zaren" kritisierte
Vor 15 Jahren wurde Anna Politkowskaja ermordet. Die Journalistin hatte über den Tschetschenien-Krieg berichtet – und dabei immer wieder die Regierung kritisiert. Bis heute wurde das Verbrechen an ihr nicht wirklich aufgeklärt.
Adler: Was können Sie noch tun, um die Morde aufzuklären? Wie kann man die Ermittlungen vorantreiben?
Muratow: Am 7. Oktober dieses Jahres sind seit der Ermordung von Anna Politkowskaja genau 15 Jahre vergangen. Nach unseren Gesetzen endet nach dieser Zeit die Verjährungsfrist. Aber weil der Auftraggeber dieses Verbrechens immer noch nicht gefunden wurde, droht ihm bislang auch keine Strafe. In unserer Redaktion haben wir ein Zimmer eingerichtet, den Raum 307, in dem Anna Politkowskaja arbeitete. Dort ist der gesamte Verlauf der Ermittlungen dokumentiert. Dort gibt es spezielle Aufsteller mit großen Fotografien und Zeugenaussagen.
Wir haben einen Brief an die zentralen Ermittler in Russland gerichtet und die Antwort erhalten, dass der Fall des Auftraggebers des Mordes an Politkowskaja weiter ermittelt wird. Auch wir werden unsere Ermittlungen fortführen. Wir waren schon einmal erfolgreich, denn wir haben einen wichtigen Zeugen gefunden, der vor Gericht eine entscheidende Aussage machte. Daraufhin wurden die Mörder von Politkowskaja zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber das brachte uns leider dem Auftraggeber des Anschlags nicht näher.

"Stolz darauf, dass die Redaktion den Friedensnobelpreis bekommt"

Adler: Sie haben immer noch die Hoffnung, ihn zu finden?
Muratow: Es geht nicht um Hoffnung oder Glauben. Ein Sprichwort sagt, der Maulwurf der Geschichte gräbt unaufhaltsam. Die Zeit wird neue Informationen zutage fördern. Und wir versuchen, dem Maulwurf zu helfen.
Adler: Das hoffe ich und wünsche Ihnen Erfolg dabei. Dmitri Muratow, denken Sie, dass der Nobelpreis Ihre Sicherheit und die Sicherheit ihrer Redaktion erhöht, oder könnte es genau andersherum kommen und noch gefährlicher werden?
Muratow: Bis jetzt ist zu wenig Zeit vergangen um einzuschätzen, ob der Preis hilft oder stört. Aber für die Redaktion ist der Preis eine sehr wichtige Anerkennung und wir sind stolz darauf, dass die Redaktion ihn bekommt.
Adler: Wie ist es Ihnen überhaupt gelungen, die Zeitung schon fast 30 Jahren am Leben zu halten? Wer unterstützt Sie?
Muratow: Wissen Sie, wir haben eine ganz besondere und sehr warmherzige und zauberhafte Beziehung zu unseren Lesern. Vor einigen Jahren haben wir eine Crowdfunding-Plattform gegründet. Sie heißt "Mithelfer". Dadurch bekommen wir jeden Monat Spenden. Das ist eine große Einnahmequelle für die Zeitung. Und dann gibt es noch unsere Aktionäre. Michail Gorbatschow, dem zehn Prozent der Aktien gehören. Und ein anderer Aktionär ist der bekannte Unternehmer Alexander Lebedew. Ihm gehört der "Independent" und der Londoner "Evening Standard". Für ihn ist die Pressefreiheit ein hohes Gut. Und es gibt noch andere, die uns helfen. Außerdem entwickelt sich unser Youtube-Kanal nicht schlecht, er bringt ebenfalls Geld. So halten wir uns.
Adler: Sind unter ihren Freunden auch welche, die zur russischen Elite zählen?
Muratow: Wer ist für Sie die russische Elite? Für mich ist das zum Beispiel mein Freund Juri Schewtschuk, der Gründer der Band und des Theaters DDT. Wenn Sie ihn, meinen besten Freund, zur russischen Elite zählen, dann habe ich einen Freund in der russischen Elite. Wenn Sie damit meinen, ob ich jemanden kenne aus der Führung des Landes, dann ist sage ich: Ja, einmal im Jahr treffen wir uns am Runden Tisch, alle Chefredakteure mit Vertretern des Staates. Von Freundschaft kann da allerdings keine Rede sein. Da geht es um die Beziehung zwischen Journalisten und der Staatsführung.

"Putin geht harten Fragen auch nicht aus dem Weg"

Adler: Dmitri Andrejewitsch, ich fand Ihren Auftritt im Klub Waldai sehr interessant. Ich weiß, dass Sie bekannt dafür sind, dass Sie keine Angst haben, die Wahrheit auch Präsident Putin direkt ins Gesicht zu sagen. Haben Sie den Eindruck, dass er ihnen in diesem Moment oder überhaupt zuhört?
Muratow: Das war nicht das erste Treffen, bei dem ich die Gelegenheit hatte, dem Präsidenten Russlands eine Frage zu stellen. Einmal im Jahr findet ein Treffen der Chefredakteure mit dem Präsidenten statt. Und ich versichere Ihnen: Das ist ein sehr hartes und offenes Gespräch, mit allen unangenehmen Fragen und erbitterten Antworten. Da gibt es richtig Streit, was Putin nicht fürchtet. Er geht harten Fragen auch nicht aus dem Weg. Ich habe viel mehr diesen Eindruck: Je härter die Fragen, desto lieber antwortet er. Zu den Fragen zu den sogenannten ausländischen Agenten auf dem Waldai-Forum sagte er, dass man das Gesetz ändern muss. Ich weiß bislang nicht, wie das erfolgen soll, und ob die 80, die auf dieser Liste gelandet sind, rehabilitiert werden. Aber er sagte, das man dieses unsinnige Gesetz ändern muss.
Adler: Haben Sie keine Sorge, dass es noch schlimmer wird? Bis jetzt ging es immer nur in die eine, schlimmere Richtung.
Muratow: Hören Sie mir mal zu! Ich bin ein erwachsener Mensch und leite schon lange eine Redaktion. Ich versuche zu verstehen, dass man solche Fragen nicht stellt. Denn das wäre ein Verrat an unserer professionellen Gemeinschaft. Ich hoffe, dass die Staatsführung an die Lösung dieser Krise vernünftig herangeht. Ja, ich nehme das an.

"Nur Idioten sprechen von einer Stiftung des Präsidenten"

Adler: Ich habe Kritik daran gehört, wie Sie das Friedensnobelpreisgeld verwenden wollen. Dass Sie Geld spenden wollen an eine Stiftung, die auch Präsident Putin unterstützt. Was ist das für eine Stiftung und warum beunruhigt Sie es nicht, etwas gemeinsam mit dem Präsidenten zu machen?
Muratow: Seit zwei Jahren beschäftigt sich die Redaktion mit Kindern, die an spinalem Muskelschwund leiden. Das ist eine unserer Missionen. Spinale Muskelatrophie, SMA, ist eine ungewöhnliche Erkrankung, bei der ein Kind seinen eigenen Körper sterben sieht. Die Medikamente für diese Krankheit gehören zu den allerteuersten auf der Welt. Eines von ihnen, mit der Bezeichnung Solgensma, kostet ungefähr 2,5 Millionen Dollar. Für diese Medikamente reicht es nicht, per Telefonaufrufe oder SMS-Aktionen Geld zu sammeln. Wir haben mit russischen Geschäftsleuten, die in die Behandlung der kranken Kinder investieren, eine Reihe von Spendenaktionen durchgeführt. Und wir haben über diese Krankheit mehr als 100 Artikel geschrieben. Schließlich wurde der Staat endlich aufmerksam auf diese Kinder und ihre Eltern. Plötzlich entstand eine Stiftung "Kreis des Guten". Nur Idioten sprechen von einer Stiftung des Präsidenten.
Sie ist auf Anweisung des Präsidenten gegründet worden, ja. Aber doch, um Kinder zu behandeln! Es wird nicht der Präsident behandelt, das muss doch auch ein Idiot verstehen. Es geht um die Heilung von Kindern, die keine andere Chance haben, wenn sie nicht die teuerste Medizin der Welt bekommen. Und weil wir das initiiert haben, unsere Redaktion, halten wir es für unsere Verpflichtung, den Kindern mit spinalem Muskelschwund zu helfen. Und einen Teil des Nobelpreis-Geldes bekommen diese Kinder. Es geht nicht in die Taschen des Präsidenten, wie das einige Idioten schreiben. Das muss man nicht lesen, wirklich nicht. Außerdem geht Geld an die Leukämie-Stiftung und an zwei Hospize, eines davon für Kinder. Sowie an die Anna-Politkowskaja-Stiftung für unabhängige Journalisten. Das ist eine Entscheidung der Redaktion nach der Diskussion mit unseren Lesern. Und wem nicht gefällt, wie wir das Geld vom Friedensnobelpreis verwenden, der kann ja mit seinem Preis etwas anders machen.
Adler: Alles klar. Jetzt würde ich gern kurz über Deutschland reden, wo eine neue Regierung gebildet wird und es bald keine Kanzlerin Merkel mehr geben wird.
Muratow: Ja, im Dezember.
Adler: Wahrscheinlich im Dezember. Kanzler wird dann wohl der Sozialdemokrat Olaf Scholz. Was denken Sie über diesen Wechsel?
Muratow: Ich habe mit der deutschen Politik nicht viel zu tun. Unsere hervorragende Außenpolitikabteilung kennt sich sehr gut aus. Sie bereiten schon vor, was die neue Koalition für die Beziehung zu Russland bedeutet und was nicht, was mit dem Erdgas wird und mit Nord Stream 2. Ich bin für all das kein Experte und möchte es vermeiden, dass ich deswegen irgendwelche Dummheiten von mir gebe.
Adler: Die allerletzte Frage: Werden Sie nach Oslo fahren?
Muratow: Ja, natürlich, unbedingt. Am 10. Dezember.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.