Der Samstag ist für Ella Poljakowa fest geblockt, seit vielen Jahren. 1991 hat sie das Komitee der Soldatenmütter in St. Petersburg gegründet. Immer samstags berät sie angehende Wehrpflichtige und Wehrdienstverweigerer. Es ist jede Woche ein großes Gedränge. Die russische Armee ist berüchtigt für Gewaltexzesse und Gesetzlosigkeit. Ella Poljakowa, 74 Jahre, rotgetöntes Haar, sprüht vor Energie – auch nach den vielen Jahren noch und trotz der vielen Rückschläge, oder gerade deshalb. Den einen oder anderen jungen Mann blafft sie auch mal an, wenn er nicht aufgepasst hat: Er müsse seine Rechte schon kennen, um sie einzufordern. Es ist eine Schule der Demokratie.
Seit einem Jahr beschäftigt Poljakowa noch ein weiteres Thema: den Krieg in der Ukraine. Sie hat Belege dafür gesammelt, dass russische Soldaten im Nachbarland kämpfen: reguläre Soldaten, Wehrpflichtige und Offiziere, auf der Grundlage mündlicher Befehle. Poljakowa sagt das offen, vor einiger Zeit auch im Deutschlandfunk: "In verschiedene Städte Russlands sind tote Soldaten in Särgen zurückgekommen. Das passiert im Geheimen. Der Ort des Todes wird auf dem Totenschein einfach offen gelassen, die Zeile wird durchgestrichen."
Es heißt, russische Soldaten würden in ihrem Urlaub in der Ostukraine kämpfen. Aber das geht gar nicht. Wehrpflichtige haben keinen Urlaub. Ella Poljakowa, Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten, hat Anfragen gestellt und Klagen eingereicht. Ohne Erfolg. Die Behörden schweigen, verweisen auf Geheimhaltungspflicht. Und auch die meisten Angehörigen toter Soldaten schweigen – teils aus Angst, teils weil sie finanzielle Nachteile fürchten. Dieses Schweigen bringt Poljakowa manchmal zur Verzweiflung. "Ich weiß nicht, welches Übel dieses Land noch erfahren muss, damit die Leute aufwachen. Die meisten Menschen in Russland sind komplett verunsichert. Das macht sie bösartig. Und auch die Propaganda macht sich bemerkbar. Es gibt sehr viel Aggression in der Gesellschaft. Diese Aggression wird jetzt auf uns, auf die Menschenrechtler, umgeleitet. Unsere Organisation erhält Gewaltdrohungen."
Auch die Justiz macht Probleme. Das Komitee der Soldatenmütter wurde in das sogenannte Agentenregister eingetragen. Dort sollen NGOs aufgelistet sein, die aus dem Ausland finanziert werden. Doch die St. Petersburger Soldatenmütter beziehen schon seit einem Jahr kein Geld mehr aus dem Ausland. Derzeit werden sie im Gegenteil von einer Stiftung des russischen Präsidenten finanziert. Ella Poljakowa und ihre Kollegen haben gegen die Eintragung in das Register geklagt. Die Gerichtsverhandlungen halten sie von ihrer eigentlichen Arbeit ab, das ist auch der Sinn solcher Auseinandersetzungen. Ella Poljakowa will sich davon nicht unterkriegen lassen – und hält an ihrer pazifistischen Grundeinstellung fest.
"Ich habe 1991 in Litauen etwas Wichtiges begriffen. Damals sind sowjetische Offiziere in Vilnius auf der Grundlage eines illegalen Befehls gegen friedliche Demonstranten vorgegangen. Es gab Tote. Einer der sowjetischen Offiziere hat mir damals gesagt: Wissen Sie, wir haben keine Angst, wenn wir schießen und wenn auf uns geschossen wird. Damit können wir umgehen, dafür wurden wir ausgebildet. Aber wenn mir ein friedlicher Mensch entgegentritt, betet oder mir Blumen schenkt, dann ist das schrecklich. Menschen, die mit Gewalt Krieg erreichen wollen und eine Kultur des Todes säen, kann man nur mit Gewaltlosigkeit entgegentreten."
Ella Poljakowa erhält den Hessischen Friedenspreis für die Furchtlosigkeit und Stärke, mit der sie ihre Überzeugungen vertritt, heißt es in der Begründung des Kuratoriums.