"Wenn Sie näherkämen: die Frau mit dem Blütenkranz! Sie würden sie genauer sehen können, im Schatten des Chronometers, später steigt sie ins Bad, sirrend Wolkenschwärme am Himmel, sehen Sie doch, jetzt sitzt sie vor einem geblümten Vorhang, wie zart ein herbstblattblutender Gürtel ihre Mitte umschlingt, sehen Sie nur genau hin, kommen Sie näher!"
"Ich lehne ab, dass man vom Leser verlangt mitzuarbeiten. Das ist, glaube ich, Mumpitz. Denn wenn ein Leser ein Buch in die Hand nimmt, will er etwas genießen und das soll er auch. Also, ich stell mir vor, dass der Leser das Buch in die Hand nimmt und sich mitführen lässt, also nicht selber arbeitet, sondern mitreißen lässt und eigentlich berauscht sein sollte von dem Buch, das er liest."
Friederike Mayröcker blickt zurück auf nun fast ein Jahrhundertleben. Viele Jahre schrieb sie ohne öffentliche Anerkennung, doch mit dem höchsten Anspruch und einer bemerkenswerten Produktivität, die ihren ehemaligen Lebensgefährten Ernst Jandl zu der Bemerkung hinriss, er komme mit dem Lesen nicht mehr mit. Friederike Mayröcker formulierte es 1962 in ihrem Gedicht "Der Aufruf" so:
"Mein Leben: ein Guckkasten mit kleinen Landschaften, gemächlichen Menschen, vorüberziehenden Tieren, wohlbekannten wiederkehrenden Szenerien. Plötzlich aufgerufen bei meinem Namen, steh ich nicht länger im windstillen Panorama mit den bunten schimmernden Bildern, sondern drehe mich wie ein schrecklich glühendes Rad einen steilen Abhang hinunter, aller Tabus und Träume von gestern entledigt, auf ein fremdes bewegtes Ziel gesetzt: ohne Wahl, aber mit ungeduldigem Herzen."
14 Jahre alt war Friederike Mayröcker, als sie zu schreiben begann. 1946 erschien ihr erstes Gedicht in der Avantgarde-Zeitschrift "Plan". 5 Jahre später begegnete sie Andreas Okopenko, mit dem sie Textmontagen verfasste. 1954 schließlich trat ihr Seelen- und Schreibgefährte Ernst Jandl in ihr Leben - für 46 gemeinsame Jahre. "Ein ineinander verschränktes Nervensystem" umschrieb es die Schweizer Kulturzeitschrift du mehr als treffend.
"Da hat es eine ganze Menge Dinge gegeben, die ich sehr geliebt hab'; also vor allem sein großer Intellekt, der mir einen ungeheuren Eindruck gemacht hat von vornherein. Dann war er sehr kämpferisch... Sein Mut, seine Konsequenz, sein Witz, seine Großherzigkeit, seine Hilfsbereitschaft jüngeren Schreibkollegen gegenüber und er war ein sehr bescheidener Mensch und er war uneitel und er war unerhört wahrheitsliebend, das haben immer wieder Leute beklagt, dass er mit einer großen Wahrheitsliebe ihnen die größten Unannehmlichkeiten an den Kopf geworfen hat, die größten Grobheiten und das war aber auch eine große Stärke von ihm, das habe ich sehr geschätzt, auch wenn es mir gegenüber war, auch wenn es mich angegangen ist, also da wurde er auch manchmal ein bisschen grob, aber das hab ich auch geschätzt, weil ich gewusst hab', dass es aufrichtig ist und dass ich bei ihm nicht erwarten kann, dass er eigentlich was anderes denkt, als er sagt."
Hochsensibler Schreibkosmos
1969 ließ sich Friederike Mayröcker von ihrem Beruf als Englischlehrerin suspendieren und widmete ihre freie Zeit nur noch der Poesie. Ihr impressionistischer Stil der frühen Jahre wurde abgelöst - inspiriert von Okopenko, Jandl und der Wiener Gruppe - von einer progressiv experimentellen Form. Bücher wie "Fantom Fan" oder "Minimonsters Traumlexikon" entstanden. Die Sprache wurde für Mayröcker zum Bildmaterial, ohne an magischem Gehalt zu verlieren. In den 80er Jahren die Synthese aller vorherigen Experimente zu ihrer unvergesslichen zärtlich-poetischen und ebenso radikal-innovativen Stimme:
"Eine Art Kosmos wird geschaffen, wo alle Elemente einander bekämpfen, so lange, bis sie durch einen sie zum Erstarren bringenden Überguss von Form-Idee befriedet werden - also Intuition und Intellekt, Berauschung und Nüchternheit, mit Verschiebung des Schwergewichts. Eine künstliche Welt schaffen, immer neue Modelle, Mikrogebilde, und dazwischen immer wieder der Griff in die Weite."
"Ich lass mich hinein fallen, das ist eigentlich das einzige Rezept, sich hinein fallen zu lassen. Und alles andere vergessen. Die Umwelt eigentlich vergessen. Und natürlich, wenn einmal das Telefon dann zwischendurch läutet, nehm ich's entweder nicht ab oder ich sag, ich bin an der Arbeit und leg wieder auf. Weil das ist das schon eine Störung, da wird man plötzlich heraus gerissen und in was Schreckliches hinein gerissen, also in die Realität hinein gerissen zu einer Zeit, wo man die Realität in dem Sinn nicht braucht, weil sie einen weg nimmt vom Eigentlichen, was man im Augenblick nur vor Augen hat."
Bevölkert wird der hochsensible Schreibkosmos Friederike Mayröckers von Inspirationen aus Literatur, Musik und bildender Kunst; von Briefen, die als Zitat immer wieder in ihren Texten auftauchen und unzähligen Notizzetteln, auf denen sie ihre "Verbalträume", wie sie sie nennt, notiert. Legendär ihre Wohnung in der Zentagasse im Wiener 5. Bezirk. Der Lyriker Thomas Kling bemerkte einmal, wie selbst für den geschulten Beobachter einige Minuten vergehen, um bei einem ersten Besuch den von Papieren verdeckten Bösendörfer Flügel zu entdecken. Alles rundherum ist von Zetteln, Zettelkörben und Zettelkörbchen, die ihrerseits beschriftet sind, belagert, auch die Schlafstatt. Kurzum, die Wohnung ist über Jahrzehnte mit Schreibmaterialien wie ein Urwald zugewachsen. Einbrecher hätten hier nichts zu lachen.
"Ich hab' das Gefühl, dass die Notizzettel so überhandnehmen, dass sie mich eines Tages zuwachsen oder mich vollkommen zudecken. Es ist so arg in meinem kleinen Kabinett, wo ich arbeite, an einem ganz kleinen zusammenlegbaren Klapptisch, an der Hermes-Baby, dass ich keinen Platz mehr hab' irgendeinen Zettel irgendwohin zu legen, also ich muss das auf meinem Schoss halten, wenn ich schreibe und dann so immer wieder runterschauen und schauen, was ich da alles aufnotiert hab'; es ist eine prekäre Situation mit dem Schreiben, aber ich werd' schon durchhalten."
Kein Platz für die reine Idylle
Poesie und Leben sind in Mayröckers komplexem Werk eine einzigartige Symbiose eingegangen. Die Literatur selbst hat die Biografie Friederike Mayröckers überschrieben. Es ist ein Schreiben gegen die Unbegreiflichkeit eines Endes, für ein Weiterleben in uns. Der Schriftsteller Marcel Beyer ist und war wie viele mehr von der Literatur Friederike Mayröckers berührt, von ihrer verschwenderischen Geste, die schöner nicht sein könnte: Es gibt keine Erlösung, kein Leben, keine Liebe ohne Literatur.
"Die Kraft, die dieses Werk ausstrahlt, ist ungebrochen. Es ist für mich sehr wichtig, dass sie nie auf irgendwelche Konventionen zurückfällt, das ist ein Ansporn beim eigenen Arbeiten. Es ist eigentlich kein Platz da für die reine Idylle, die selbstverständliche Idylle. Das Vokabular, der Umgang mit Rhythmus, sich nie auf vorgegebene Muster verlassen, sich nie ausruhen, das Hellwache. Diese Texte machen es sich nie leicht. Es wird ja immer viel davon gesprochen, dass die Texte Friederike Mayröckers es dem Leser nicht leicht machen, aber sie machen es auch sich selber nicht leicht. Was überhaupt nicht heißt, dass sie sich im Wege stehen oder, ja sich selber in die Quere kommen, sondern es gibt einfach einen ungeheuren Anspruch in diesen Texten und das ist ein sehr guter Anspruch."
"Ja, doch, gewiss, aber kommen Sie näher, ganz nah, kommen Sie ganz in meine Nähe, meine etwas schwermütige kontemplative Phase wird es Ihnen erleichtern ... schlafen Sie, hüten Sie sich selbst, jetzt der Neumond auf diesem Gemälde, etwas verfranst und zerzaust, eine seltsame Aura, und die Welt dreht sich wie eine Töpferscheibe, die Männer rotbraun, die Frauen gelb. Deckfarben, aber auch gekratzt, gekritzelt, geritzt, gestochen, geschnitten, obwohl sparsam in Farben: für meine Augen alles in einer feuerrauschartigen Übersteigerung - können Sie es sehen wie ich?"