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Friedrich Ani: "Der namenlose Tag"
Die Psychologie hinter der Wahrheit

"Der namenlose Tag", das sei der Moment, an dem die Todesnachricht komme und für die Hinterbliebenen die Zeit aufhöre, erklärt der Münchner Autor Friedrich Ani zu seinem gleichnamigen neuen Roman. Es handelt zwar von einem Verbrechen, aber Ani geht es weniger um das Verbrechen, sondern um die Menschen und was sie antreibt.

Von Sandra Hoffmann |
    Der Münchner Schriftsteller Friedrich Ani im Juli 2015
    Friedrich Ani im Juli 2015 (dpa / picture alliance / Ursula Düren)
    Friedrich Ani: "Was die Figuren angeht, da weiß ich sehr viel am Anfang, weil das ist das Zentrum aller meiner Geschichten und meiner Bücher, diese Figuren, die sich da durch die Nacht schlängeln, da lass ich mir auch relativ viel Zeit in der Entwicklung, alles andere ergibt sich, wovon ich am wenigsten weiß, ist der Plot, das liegt daran, dass mich der Plot am wenigsten interessiert als Erzähler, weil ein Plot etwas anderes ist als eine Geschichte, oder als eine Erzählung. Ich weiß um die Konflikte meiner Figuren und ich weiß um das Streben, wo sie hinwollen, und ich weiß auch, dass sie es nicht schaffen werden, einige von denen jedenfalls, und das ist für mich erst einmal die Erzählung, die Basis der Erzählung, und der Plot, der scheinbar in einem Kriminalroman so wichtig ist, kommt später. Und ich mach mir da nicht so viele Gedanken vorher drüber, weil ich weiß, es wird sich fügen."
    Friedrich Ani hat einen neuen Roman geschrieben. "Der namenlose Tag". Man könnte auch sagen, er hat einen neuen Krimi geschrieben, aber das will man bei Ani nicht sagen, denn dann läge das Augenmerk auf der Spannung, der Aktion, dem Verbrechen und seiner Auflösung, und eben dem Plot, der, wie Ani selbst sagt, in seinen Romanen gar nicht von so großer Bedeutung ist. Bei Ani geht es immer um mehr als nur einen Fall, um mehr als nur einen toten Menschen, oder einen verschwundenen, wie bis vor Kurzem, als Tabor Süden noch ermittelte. Jetzt ermittelt sein neuer Kommissar, aber auch mit ihm geraten wir ganz schnell wieder in die Fänge es großen Erzählers, den die Tiefen und Abgründe der menschlichen Seele interessieren, dorthin wo meistens die Angst und die Not oder eben der innere Schweinehund begraben sind; den es zu überwinden gilt, wenn man sich selbst in Beziehung zu einem Opfer, zu einem Tod oder Selbsttod erleben muss; oder eben, wie Anis Kommissar, Fragen nach Schuld stellt und danach, wie die menschliche Psyche sich konstituiert. Ani erkundet Menschen, erkundet die Psychologie hinter der Wahrheit, und was er erzählt, ist durchdrungen von außerordentlicher Menschenkenntnis und Neugier auf emotionale Vorgänge.
    Eine Herausforderung auf ureigenem Terrain
    Friedrich Ani: "Für diesen Kommissar, Jakob Franck, war offensichtlich jeder Fall eine Menschenerkundung, ein Hinabsteigen in eine Dunkelheit, die wahrscheinlich jedem Verbrechen, jedem Todesfall zugrunde liegt, und er hat irgendwann entschieden, dass er das tun muss, weil es ihm entspricht, also weil es irgendwas mit ihm selbst zu tun hat, dass er herausfinden will, warum ist irgendetwas geschehen. Ein Verbrechen oder auch eine Selbsttötung, das treibt ihn um, und das hat ihn immer umgetrieben, insofern ist jetzt auch dieser neue alte Fall eine Herausforderung auf seinem ureigenen Terrain."
    In "Der namenlose Tag" lässt Friedrich Ani seinen Kommissar Jakob Franck, der gerade erst in Pension gegangen ist, in einer Sache ermitteln, die zwanzig Jahre her und nicht mehr polizeirelevant ist, weil es offensichtlich ein Selbstmord war, eine Selbsttötung. Und Franck, der deshalb mit diesem Fall verbunden ist, weil er damals der Mutter eines Mädchens deren Todesnachricht überbringen musste, ist ziemlich schnell bereit, sich auf eine erneute und außerpolizeiliche Ermittlung einzulassen, als der Vater des damals tot aufgefunden Mädchen bei ihm auftaucht, weil er plötzlich denkt, dass seine Tochter damals ermordet wurde.
    "Ich war sehr früh ein stiller Mensch"
    Was dann geschieht, erzählt Ani natürlich aus der Perspektive des Kommissars, seiner Hauptfigur, aber auch aus jener des Vaters, aus jener der Schwägerin, und in gewisser Weise auch aus jener der Mutter des toten Mädchens. Das macht den Roman aufregend und lässt uns, was geschieht, deshalb auf besondere Weise sehr nahe rücken, weil wir uns dem Hallraum dieser beteiligten Menschen nicht mehr entziehen können.
    Friedrich Ani: "Wenn ich mal so schau, was ich bisher geschrieben hab, dann war schon viel Auktoriales dabei und auch schon viele Ich-Perspektiven, aber dieses mehrstimmige Erzählen ist das, was mir am Nächsten ist. Ich habe festgestellt, dass ich da gut vorankomme, dass das etwas ist, was mein Erzählen und meine Vorstellung, meine Fantasie anregt und vorantreibt. Vielleicht kommt da bei mir noch dazu, dass ich sehr früh ein sehr stiller Mensch war, schweigsam eigentlich, und ich immer umgeben war von allen möglichen Stimmen, von Leuten, die mir was erzählt haben, oder die sich gegenseitig was erzählt haben, und ich war nur dabei, so als unsichtbarer Zuhörer, das ist so meine Weltwahrnehmung."
    Die Umarmung als Ausgangspunkt der Geschichte
    Das Zuhören ist auch die Stärke von Anis neuem Kommissar, der seinen Figuren damit immer etwas abverlangt, denn sein Zuhören ist geradezu maßlos verbunden mit Ausdauer, ja Ausharren, mit Geduld und mit einer gehörigen Fähigkeit zur Authentizität. Kommissar Franck ist nämlich ganz und gar keine unauffällige Figur, sondern eine, die neben seinem kriminalistischen Handwerkszeug samt Erfahrung, mit Fähigkeiten wie "Gedankenfühligkeit" und anderem Eigensinn so gut ausgestattet ist wie ein Auto der Luxusklasse mit PS. Immer wieder ermahnt er sich selbst "sein erlerntes Wissen, zu vergessen, und auf die Reaktionen seines Körpers zu vertrauen, auf die Botenstoffe seiner Zellen", um mehr als nur ein Kriminalist zu sein, der an eine einfache Wahrheit glaubt. Und deshalb tut er auch Dinge, die in seinem Beruf eigentlich eher unüblich wirken.
    Friedrich Ani: "Die Umarmung in der Geschichte, die ja mehrmals vorkommt und einen wichtigen Teil einnimmt, auch in der Persönlichkeit des Kommissars, die Umarmung war der Ausgangspunkt der Geschichte und die Umarmung war etwas von den paar Momenten dieses Romans, die ich schon zwei/drei Jahre hatte. Ich wusste, dass ich diese Szene und diesen Moment und diese Begegnung und dieses komplett irreale Ineinanderfallen zweier Fremder, dieses gegenseitige Festhalten, dass ich darüber einen Roman herum – schreiben würde irgendwann, und jetzt war mir klar, als ich den Auftrag hatte für den Roman und eben was Neues anfangen wollte, dass es jetzt die Stunde ist für diese Szene. Und ich hab die nicht erfunden, das ist eine Szene, die aus den Recherchen entstanden ist mit Kommissaren, und ich dachte mir, das zu erzählen ist so irreal, das ist so seltsam, dass es eigentlich nur erfunden sein kann: und ist es im Gegenteil, überhaupt nicht."
    Ein leises unaufdringliches Lehrbuch
    Das Motiv der Umarmung ist so bestimmend für den Roman wie für die Haltung seines Autors. Friedrich Ani liebt seine Figuren und begleitet sie, ganz gleich was sie verbrochen haben, in geradezu seelsorgerischer Manier. Alles darf sein und alles darf gesagt werden, aber jeder Mensch trägt Verantwortung für sich selbst und er muss es mit ihr aufnehmen. Soviel Wahrheit ist dem Ego zumutbar. Und so hat Ani mit diesem Roman, mit diesem Kriminalfall, mit diesem neuen Kommissar, auch ein leises unaufdringliches Lehrbuch über Ehe und Familie, über Kommunikation und was geschieht, wenn diese versagt, und über namenlose Tage geschrieben, die nicht umsonst so heißen, und schon lange darauf warten einmal erzählt zu werden.
    Friedrich Ani: "'Der namenlose Tag' als Begriff ist einfach eine Bezeichnung, die wahrscheinlich der Kommissar - oder auch ich - erfunden hat für diesen Moment an diesem Tag, an dem die Todesnachricht kommt und die Zeit aufhört, der Kosmos vollkommen verrutscht und die Hinterbliebenen einfach nicht mehr von dieser Welt sind, sondern woanders, und da gibt’s eben keinen Namen für den Tag. Dieser Begriff, den hatte ich schon länger vorrätig, aber es hat nie gepasst, es war nie die Geschichte dafür, und jetzt war’s genau die richtige Geschichte dafür."
    Friedrich Ani: "Der namenlose Tag", Suhrkamp, 301 Seiten, 19,95 Euro