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Zum Tod von Friedrich Christian Delius
Heimatloser Heimatdichter

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius ist tot. Er starb im Alter von 79 Jahren in Berlin, wie die Rowohlt Verlage mitteilten. Delius zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Er war Mitglied der legendären Gruppe 47.

Von Tobias Lehmkuhl |
Porträt des deutschen Schriftstellers Friedrich Christian Delius, aufgenommen am 7. Oktober 2004 in Frankfurt, Deutschland
Was hat man sich in Jena zu sagen? Friedrich Christian Delius behandelt in „Die sieben Sprachen des Schweigens“ auch einen wortkargen Spaziergang mit Imre Kertész in der Saalestadt. (Getty Images / Ulf Andersen)
Er war Dichter, Romancier, Essayist, war Mitglied der Gruppe 47, Chronist der Bundesrepublik mit engen Verbindungen in die DDR und zu den ostdeutschen Schriftstellerkollegen. Er war auch Lektor, Vater und Großvater und großer Fußballfreund – auch wenn er das Kürzel FC Delius irgendwann ablegte. Jetzt ist Friedrich Christian Delius im Alter von 79 Jahren gestorben. Zwar sind manche seiner Romane lange schon Schullektüre, aber sein Werk ist doch bis zuletzt lebendig und Delius mit nimmermüder Neugierde seinem Handwerk treu geblieben.  
Immer wieder liest man, Friedrich Christian Delius’ Erzählung „Bildnis der Mutter als junge Frau“ sei eines seiner schönsten Bücher. Es ist daneben aber auch eines seiner originellsten, denn der Autor ist in ihm anwesend und abwesend zugleich, er läuft mit der im Titel erwähnten jungen Frau durch Rom, begleitet sie auf Schritt und Tritt und bleibt doch unsichtbar. Aber er ist kein Schatten, der hinter ihr her schleicht, keine Allegorie auf die Rolle des Autors in literarischen Texten, nein, er ist körperlich präsent. Und zwar als Fötus im Bauch der Schwangeren.
„Sie lächelte und lehnte sich zurück, um an nichts anderes zu denken als an die Regungen des Kindes und die fröhlich springenden Pfeifentöne des Präludiums, lehnte sich zurück, um sich entspannen und tragen zu lassen von den klaren Melodien und gebrochenen Harmonien, und als diese Freude viel zu schnell wieder vorüber ging, versuchte sie, den letzten, im Raum schwebenden und schwingenden Akkord so lange wie möglich im Gehör zu wiegen.“

Der Reiz des Schreibens

Erschienen ist dieses Bildnis, das Delius von seiner Mutter als junger Frau zeichnet 2006, als der Autor selbst die Sechzig schon hinter sich hatte. Es ist bezeichnend für ihn, der im zunehmenden Alter immer wieder autobiographisch inspirierte Texte vorlegte, dass Delius Autobiographie nicht als Geschichte eines einzelnen Individuums begriffen hat, sondern seine eigene Person immer als jemanden verstand, der im Spannungsfeld gesellschaftlicher und zeitgeschichtlicher Kräfte stand. Das gilt selbst für den Ungeborenen, der im Januar 1943, als der Vater gerade nach Afrika abkommandiert ist und der Krieg absehbar verloren gehen wird, im Bauch seiner Mutter diesen Spaziergang durch Rom unternimmt. Es fehlte Friedrich Christian Delius nicht zuletzt an Eitelkeit, um sich selbst ins Zentrum seiner Erzählungen und Romane zu stellen, im Gegenteil: Gerade die Möglichkeit, in der Literatur auch jemand anders zu sein, machte für ihn den Reiz des Schreibens aus, wie er in einem Interview bekannte.
„Und außerdem gehört das für einen Schriftsteller zum Handwerk. Das ist ein bisschen aus der Mode gekommen, heute bei einer Literatur, wo jeder gerne über sich selbst und die eigene Geschichte schreibt, die eigene Landschaft, das ist ja alles in Ordnung, aber es gehört zum normalen Handwerk des Schriftstellers sich ganz andere Figuren zu nehmen, die aus einer anderen Welt kommen, andere Geschichten hinter sich haben, und das zu schreiben. Das finde ich überhaupt das spannendste an meinem Beruf, dass ich ein Ribbecker Bauer sein kann, ein Kellner aus Rostock sein kann, eine Biologin in einer entführten Lufthansa-Maschine von 1977 in Mogadischu.“
Geboren wurde Delius dann im Februar 1943. Sein Vater überlebte den Krieg, die Familie zog in die hessische Provinz, wo der Vater als Pfarrer tätig war und seinen Sohn im strengen Geist christlicher Tugenden zur Disziplin erzog. Das empfindsame Kind reagierte mit Stottern und Schweigen auf die Methoden und Überzeugungen des Vaters; Delius hat davon in seinem Buch „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ berichtet. Der Fußball war für ihn eine erste Flucht. Die eigentliche Befreiung von der übermächtigen Vatergestalt aber war das Schreiben. Sein erstes Gedicht wurde im NDR gesendet, bald kam er, der 1963 zum Studieren nach Berlin ging, in Kontakt mit Klaus Wagenbach, der gerade seinen eigenen Verlag gründete. Dort erschien das Debüt des 22jährigen, der eine Weile lang auch als Lektor für Wagenbach arbeitete. Er wurde zu Treffen der Gruppe 47 eingeladen, engagierte sich anders als manche Kollegen zu dieser Zeit aber nicht direkt politisch.

Literarisches Erweckungserlebnis

„Alleinsein, Einsamkeit, Abstandhalten, Meinungsvorsicht, Zweifel, Freude am Fragen, Schweigen - das sind die ersten Voraussetzungen, um zu Schreiben, und das realisieren zu müssen als junger Kerl, ist ein existentieller Schock, den ich ein halbes Jahr nach der Lektüre des Büchner’schen Wanderlügenbriefs vielleicht nicht begriffen, aber erahnt habe, an der Hardenbergstraße in Berlin stehend, den Blick auf das Amerikahaus auf der anderen Seite der Straße gerichtet.“
In seiner Büchnerpreisrede von 2011 beschreibt Delius die Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen vor dem Amerikahaus in Berlin im Jahr 1966 als sein eigentliches literarisches Erweckungserlebnis. Hier erkannte er, was seine Rolle als Schriftsteller sein sollte, auch wenn es noch dauern würde, bis er sie so ausfüllen konnte, wie es seinen Vorstellungen entsprach.
„So begann ich zu meiner vertrauten Rolle als Schweiger auch die neue Rolle als Zuschauer zu akzeptieren und mit immer mehr Eigensinn aufzuladen und gegen den bissigen Vorwurf: Du hältst Dich raus, Du tust nichts, die leise Antwort zu finden: doch ich tue was, ich schaue zu, ich schaue nicht weg, ich merke mir das.“

An Bord der Landshut

Bevor er sein eigentliches, sein umfangreiches erzählerisches Werk zu schreiben begann, promovierte Delius als Germanist mit der heute noch vielgelesenen Dissertation „Der Held und sein Wetter“. Er schrieb eine Geschichte des Siemens-Konzerns und seiner Verstrickungen in der NS-Zeit, die ihm Anfang der siebziger Jahre ebenso gerichtliche Auseinandersetzung einbrachte wie eine Satire auf den Kaufhaus-König Helmut Horten. Den sogenannten Deutschen Herbst schließlich verarbeitete er in einer Trilogie, mit der er sich als Autor endgültig durchsetzte. Sprachlich und formal hat sich Delius nie für Experimente interessiert. Wie schon im „Bildnis der Mutter als junger Frau“ hat er aber immer wieder überraschende Erzählperspektiven eingenommen, so in „Fensterplatz Mogadischu“, dem zweiten Teil der Trilogie über den Deutschen Herbst, wo nicht die Täter, sondern - was bis heute immer wieder  eingefordert aber selten eingelöst wird, wenn es um Verbrechen und Gewalttaten geht - das Opfer im Zentrum steht, in diesem Fall eine Biologin an Bord der Landshut.
„Dann kam etliche Jahre später der Versuch, weil ich dachte, man muss diese ungeheuerliche Sache, die jedem Menschen passieren kann, heute nicht mehr dank der verschiedenen Sicherungsanlagen, zumindest damals in ein entführtes Flugzeug zu geraten und dann hilflos Opfer zu sein, wie verhält sich da ein Mensch, ein einziger Mensch, nicht jetzt so nach der Hollywood-Manier, da spricht jetzt der Pilot mit den Entführern, wie treten die auf, wie halten die die Pistole, das interessiert mich weniger, aber wie verhält sich ein Mensch, der da sitzt?“
Seinen größten Erfolg, mit weit über 100 000 verkauften Exemplaren, erzielte Delius 1991 mit „Die Birnen von Ribbeck“, aber auch der vier Jahre später erschienene „Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ fand ein sehr großes Publikum. Erstaunlich auch hier die Perspektive, der Rollenwechsel, den Delius vornahm: beide Bücher haben Ostdeutschland und die DDR zum Gegenstand, etwas was außer Delius Anfang der neunziger Jahre kein Westautor wagte, nichts, was andere arrivierte Autoren im Westen interessiert hätte: die Geschichte der so schnell eingemeindeten neuen Mitbürger zu erzählen. Delius hatte freilich schon immer enge Kontakte über die deutsch-deutsche Grenze hinweg gepflegt, hatte in dem von ihm mitbegründeten Rotbuch Verlag als erster etwa Heiner Müllers epochale „Hamletmaschine“ veröffentlicht. Selbst hat er sich einmal als heimatlosen Heimatdichter bezeichnet.
„Man kann meine Bücher auch lesen wie die eines heimatlosen Heimatdichters zum Beispiel, man kann Ribbeck lesen als eine Hymne auf Brandenburg, im „Spaziergang“ ist sehr viel von Mecklenburg die Rede, Hiddensee, Rügen. Selbst diese Romane, „Held der inneren Sicherheit“, der in Köln spielt oder „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“, der sehr viel mit Wiesbaden zu tun hat. Man kann die auch als psychologische Romane (lesen), es gibt mehrere Schubladen, in die sie passen, aber wenn schon Schubladen, dann mehrere.“

Die Kunst der Improvisation

Mit den Schubladen ist es tatsächlich schwer bei Delius, seine Themen und Gegenstände sind stets unvorhersehbar. Und wer dachte, dass Delius den Bach-Kantaten seiner Herkunftswelt stets verbunden blieb, der irrt sicher nicht, aber er übersieht, dass der stilistisch stets das Ideal der Einfachheit und Verständlichkeit praktizierende Autor auch ein Fan des alle Grenzen sprengenden, komplexen und chaotischen Free Jazz war. 2018 hat Delius dieser Musik sein Buch „Die Zukunft der Schönheit“ gewidmet. Mit diesem Buch ist er auch einmal mehr in das nicht nur für ihn so entscheidende Jahr 1966 zurückgekehrt. Damals nämlich traf sich die Gruppe 47 in den USA, und an seinem letzten Abend begleitete Delius zwei Kollegen in Slug’s Saloon in Down Town Manhattan, wo der sicher radikalste aller Free Jazzer, Albert Ayler einen Auftritt hatte.
„Die Probe in Slug’s Saloon wollte ich bestehen und niemanden enttäuschen, ich klatschte wie alle anderen nach Aylers erstem Solo, wollte alles tun, um mich nicht zu blamieren im Halbdunkel des schmalen Raumes vor den Freunden als unverständiger, verschreckter Laie, vor dem schwarzen Publikum als Weißer, vor den Amerikanern als täppischer Europäer, als dummer Deutscher, der ich war oder als den ich mich sah, Dorfkind, Provinzler, Hinterherläufer, Pastorensohn, verklemmt, unmusikalisch, stotternd, Anfänger, Nichtskönner, Spätzünder,  der schüchternste aller schüchternen Jungdichter, gerade mal dreiundzwanzig geworden.“
So fand Delius im Jahr 1966 vorm Amerikahaus nicht nur seine Haltung zur Welt, seinen Standpunkt als anteilnehmender Beobachter, er fand durch den Jazz auch die Mittel, diesen Standpunkt in Literatur umzusetzen: er lernte zu improvisieren, den Blick und die Ohren immer offen zu halten, stets flexibel zu bleiben und dabei auf die eigene Sprache zu vertrauen, das Erzähltalent und die musikalische Energie, die durch einen hindurchfließt, bis zuletzt.