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Friedrich Dürrenmatt: "Das Stoffe-Projekt"
Hinter tausend Spiegeln

Jahrzehntelang schrieb Friedrich Dürrenmatt an seinem autobiografischen Stoffe-Werk. Darin wollte er selbst dem Geheimnis seines Schreibens auf die Spur kommen – und ist letztlich grandios gescheitert. 30.000 Manuskript-Seiten fanden sich im Nachlass. Nun liegt eine aufwendige Neuausgabe vor.

Von Gisa Funck |
Friedrich Dürrenmatt und sein autobiografisches „Stoffe-Projekt“
Friedrich Dürrenmatt, gescheitert an seinem autobiografischen "Stoffe-Projekt" (Foto: © Kurt Strumpf /AP Photo / Keystone, Buchcover: Diogenes Verlag)
Was für ein Ungetüm von einem Spätwerk! Oder wahrscheinlich sollte man besser gleich von einem, schon wegen seines schieren Seitenumfangs letztlich nicht-fassbaren Literatur-Monstrum sprechen, das nahezu alle herkömmlichen Lese-Dimensionen sprengt!
"Stoffe": So simpel-harmlos hat der 1990 verstorbene Schweizer Dramatiker und Kriminalschriftsteller Friedrich Dürrenmatt sein Opus Magnum genannt. Nichts Geringeres als sein ultimatives Literaturvermächtnis wollte er damit vorlegen. Über zwanzig Jahre lang hat der heute längst zur Schullektüre geschrumpfte Autor an diesem Endlosprojekt gearbeitet. An der Geschichte seiner Schriftstellerei, wie er sein Stoffe-Konvolut selbst nannte. Immer wieder hat er die Texte dafür neu umgeschrieben, neu umgestellt, Stellen verbessert und ergänzt – bis das Stoffe-Manuskript schließlich zu einem wahren Text-Gebirge angewachsen war. Zu einem undurchdringlichen Papier-Dschungel, wie Dürrenmatt selbst wiederholt klagte.

30.000 Manuskriptseiten

Über 30.000 Manuskriptseiten fanden sich in seinem Nachlass, von denen der Autor zu Lebzeiten gerade mal knapp sechshundert in zwei Bänden veröffentlicht hatte. 1981 erschien sein erstes Stoffe-Buch "Labyrinth"; 1990 dann, kurz vor seinem Tod, der zweite Band mit dem nicht weniger unheilvollen Titel "Turmbau".
Porträt des Schweizer Autoren Friedrich Dürrenmatt.
100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt
Eigentlich wollte Friedrich Dürrenmatt Maler werden. Dazu habe ihm der Mut gefehltt. Mit "Der Besuch der alten Dame" und "Die Physiker" malte er literarisch gegen die Welt an. Am 5. Januar 2021 wäre er 100 Jahre alt geworden
Beide Bücher wurden von den Kritikern zwar mehrheitlich als interessantes Schreibexperiment gelobt, aber auch schnell als vertrackte Lektüre gebrandmarkt. Die Stoffe, so hieß es, das sei nur etwas für Dürrenmatt-Freaks oder für hart gesottene Philologen. Oder, wie es der Schriftsteller und Dürrenmatt-Verehrer Daniel Kehlmann im Vorwort zur neuen fünfbändigen Prachtausgabe der "Stoffe" zusammenfasst:
"Was Dürrenmatt hier unternommen hat (...) war so radikal, dass die meisten Kritiker nicht einmal erkennen konnten, dass es radikal war. Sie standen vor einem Gebirge und beschwerten sich darüber, dass sie keinen Hügel – mit anderen Worten: keinen Roman fanden. (...) Die Stoffe sind vielleicht der schrägste und eigentümlichste Rechenschaftsbericht, den es in der deutschsprachigen Literatur je gegeben hat: das Porträt des Künstlers als junger Mann, eingefasst in ein letztlich unmögliches Buch – ein Buch nämlich, das erzählt, was sein Autor nicht zu erzählen vermocht zu haben behauptet, also seine ungeschriebenen Stoffe. Ein Buch, in dem steht, was angeblich nicht aufgeschrieben wurde."

Autobiografie plus Fiktion

Und in der Tat: Die "Stoffe" sind ein nie zum Ende gekommener Lebensbericht voller Geschichten und Prosa-Skizzen von Friedrich Dürrenmatt, die er vorher entweder nicht publizieren konnte – oder die er vorher noch nicht einmal aufgeschrieben hatte. Er rekapitulierte darin seinen Werdegang mittels Geschichten, die lediglich in seiner Fantasie existierten. Wie ist das zu verstehen? Nun: Ursprünglich, das lässt sich jetzt anhand der neuen, textgenetischen Edition der "Stoffe" noch einmal sehr genau nachverfolgen, wollte Dürrenmatt eigentlich eine ganz konventionelle Autobiografie schreiben.
Ebenso wie der Erinnerungschronist Marcel Proust war er allerdings überzeugt davon, dass ein Mensch seine lebensprägenden Erfahrungen bereits in der Kindheit und Jugend macht. Von daher nahm sich Dürrenmatt vor, sich in seinen "Stoffen" nur auf die Phase seines Heranwachsens zu konzentrieren. Oder genauer gesagt: Nur auf die Spanne bis zu jenem magischen Moment, als er 1946 mit 25 Jahren als Philosophiestudent in Bern einem Bus hinterherrannte – und dabei spontan beschloss, sein Studium hinzuwerfen und Schriftsteller zu werden:
"Die Unerklärlichkeit dieses Vorgangs, des Hinüberrennens, bleibt bestehen. Und die Antwort auf alle Fragen sind seitdem nichts als die Stoffe, die ich schrieb oder nicht schrieb – weil es keine andere Antwort gibt, auch auf die Frage nach meinem Selbst, nach meiner Sache, nach meinem Glauben nicht."

Wie wird aus Leben Literatur?

Ab 1954 startete Dürrenmatt dann gleich mehrere Versuche, seine Kindheit und Jugend im Emmentaler Dorf Konolfingen und später in der Stadt Bern chronologisch nachzuerzählen. Mit der Zeit aber merkte er, dass das bloße Entlanghangeln an den biografischen Fakten seiner künstlerischen Entwicklung überhaupt nicht gerecht wurde.
Schließlich war für den bekennenden Fantasten Dürrenmatt von Anfang an gerade die eigene Imagination die Hauptquelle seiner Kunst. Schon als Kind und ständig versetzungsgefährdeter Problemschüler hatte er sich am liebsten in seine Traumwelten geflüchtet. Später nannte er sich stolz einen "Weltenerfinder". Nun ausgerechnet die Dimension seiner Fantasie als Biograf auszusparen, erschien ihm absurd.

Scham des "Verschont-Gebliebenseins"

Hinzu kam, dass Friedrich Dürrenmatt seine reale Existenz für denkbar unspektakulär und geradezu schuldhaft undramatisch hielt. Denn schließlich war er im Gegensatz zu vielen anderen Altersgenossen als ein 1921 geborener Schweizer vom Faschismus und Weltkrieg verschont geblieben. Diese unverdiente Gunst des Schicksals aber wollte er nicht noch zusätzlich hervorheben, wie er zu Anfang seines ersten "Stoffe"-Bandes "Labyrinth" erklärt:
"Was nun mein Leben betrifft so halte ich, es näher zu betrachten, (...) für überflüssig. Gemessen am Schicksal von Millionen und Abermillionen, die lebten, leben, während ich lebe, und die noch leben werden, wenn ich nicht mehr lebe, kommt mir mein Leben so privilegiert vor, dass ich mich schäme, es auch noch schriftstellerisch zu verklären. Wenn ich trotzdem über mich schreibe, so nicht über die Geschichte meines Lebens, sondern über die Geschichte meiner Stoffe; denn in meinen Stoffen drückt sich, da ich Schriftsteller bin, mein Denken aus. (...) Indem ich vor allem diese skizziere, taste ich in der Entwicklung meines Denkens zurück wie eine Spur, der ich folge. Und was ich aufscheuche, ist mein Leben."

Ungeschriebene Ideen

Ähnlich wie Marcel Proust in der "Suche nach der verlorenen Zeit" wollte sich Friedrich Dürrenmatt in seinen "Stoffen" erinnernd seiner selbst versichern. Es ging ihm dabei aber vor allem um seine Künstler-Identität. Er wollte gewissermaßen dem Geheimnis seines Schreibens auf die Schliche kommen.
Aus diesem Grund fing der Schweizer Autor in den 1960er-Jahren an, einige seiner sozusagen im Gedächtnis liegengebliebenen, ungeschriebenen Stoff-Ideen zu Erzählungen auszuformulieren – und diese in seine Lebenschronik einzubauen. Das Resultat war ein geradezu postmodernes Textgebilde, in dem sich autobiografisch-reflexive Passagen mit gleichnishaften Fantasiegeschichten abwechselten. Eine Art "Metapoesie", wie es die beiden Literaturwissenschaftler Ulrich Weber und Rudolf Probst jetzt nennen, die Dürrenmatts hochambitioniertes "Stoffe"-Projekt aufwendig neu herausgegeben haben:
"In den autobiografischen Abschnitten kann der Autor die biografischen Voraussetzungen für sein Weltbild und seine Gefühlslage schildern. Dieser Schilderung stellt er in der fiktionalen Erzählung dann unmittelbar ein Gleichnis gegenüber. Autobiografie und Fiktion erhellen einander wechselseitig."

Suche nach dem Schöpfer-Ich

Welchen Spiegelungseffekt diese Verknüpfung von Selbstreflexion und Fabulierkunst in den "Stoffen" hat, lässt sich etwa am Beispiel der langen Erzählung "Der Winterkrieg in Tibet" aus dem ersten Band "Labyrinth" verdeutlichen. Hierbei handelt es sich um eine überaus düstere Albtraum-Vision des jungen Dürrenmatt. Hauptfigur und Icherzähler dieser apokalyptischen Parabel ist ein Söldner namens Hans, der sich seit über 30 Jahren im sogenannten Winterkrieg in Tibet befindet.
Dieser Krieg, so stellt sich heraus, ist ein mit Atombomben geführter Dritter Weltkrieg. Und der expressionistische Bildermaler Dürrenmatt schildert ihn eindringlich als einen völlig absurden Kampf aller gegen alle, bei dem längst niemand mehr weiß, wer in dem labyrinthisch ausgebauten Stollensystem des Himalaja-Gebirges eigentlich der Feind ist – und wer nicht.

Kampf aller gegen alle

Auch der Söldner Hans hat den Sinn seiner Mission längst vergessen und degeneriert in diesem Schreckensszenario zur skrupellosen Tötungsmaschine. Am Ende besteht er fast nur noch aus Waffen-Prothesen. Und obwohl Hans zuletzt offenbar der einzige Überlebende in dem völlig sinnlosen Winterkrieg ist, hält er doch bis zum Schluss an seinem mörderischen Auftrag fest:
"Mein linker Arm geht unmittelbar in eine Maschinenpistole über, und ich feuere auf jeden, der sich blicken lässt. Die Stollen sind mit Leichen übersät. Zum Glück gibt es Ratten. (...) Wer ist der Feind? Diese Frage vermag mich nicht mehr zu lähmen, und auch die Antwort nicht. Ich habe nichts mehr zu verlieren. (...) Ich habe das Rätsel des Winterkriegs gelöst. (...) Der Mensch ist nur als Raubtier möglich."

Hilflos abgeschottet

Wie dieses Gleichnis von einer Welt im Dauerkriegszustand nun genau zu verstehen ist, das lieferte Dürrenmatt in seinem Spätwerk dann quasi gleich selbst mit, indem er seine "Winterkriegs"-Erzählung mit einem Vorbericht verschaltete, in dem man erfährt, unter welchen Umständen der Text entstanden ist.
Damals im Winter 1944, so erzählt es Dürrenmatt, sei er als 24-jähriger Sanitäter in der Nähe von Genf stationiert gewesen – und habe sich von den Weltkriegs-Gefechten an der naheliegenden Grenze hilflos abgeschottet gefühlt:
"Ich versuchte von meinem Standort aus ein Gleichnis zu konzipieren, (...) mich in die Wirklichkeit, von der ich und mein Land ausgeschlossen waren, durch eine erfundene Unwirklichkeit zu integrieren. (...) Diese Groteske des Verschont-Seins stellte mich endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die mich nicht fanden, selbst zu erfinden."
Nach Dürrenmatts eigener Lesart stellt seine apokalyptische "Winterkriegs"-Parabel also den Urtext seiner Poetologie dar – und war eine Reaktion auf sein Schweizerisches Trauma des von der Außenwelt Abgeschnitten-Seins. Und nicht nur an dieser Stelle meldet sich der Autor in seinen "Stoffen" ungeniert selbst als Interpret seiner Werke zu Wort.

Autor und Interpret zugleich

Je länger Dürrenmatt an dieser Rechtfertigungschronik schrieb, desto weniger konnte er offenbar der Versuchung widerstehen, sich darin selbst zum Erklärer und Ausdeuter seines Lebens und seiner Literatur aufzuschwingen – und fabulierte sich mit seinen Stoffen sozusagen eine eigene Schriftsteller-Mythologie herbei, inklusive zusätzlicher Anmerkungen zur aktuellen Weltlage und zur Menschheitsgeschichte generell.
Kein Wunder darum, dass sich sein Spätwerk dann über die Jahre hinweg immer mehr in ein Text-Gebirge verwandelte, das schon bald alle Genregrenzen sprengte – und bis heute formal kaum einzuordnen ist. Denn mit der Zeit versammelte Dürrenmatt darin nicht nur immer mehr Texte, sondern auch immer unterschiedlichere.
So erläutert er in seinen "Stoffen" beispielweise auch seitenlang, wie Literaturklassiker wie Goethe, Kafka, Brecht oder Jean Paul ihn schriftstellerisch geprägt haben – oder warum die Denktheorien von Philosophen wie Platon, Kant, Kierkegaard, Rudolf Kassner bis hin zum Theologen Karl Barth für ihn wichtig wurden.

Literarisches Sammelbecken

Er äußert sich daneben aber auch politisch – und rechnet etwa böse-satirisch mit der außenpolitischen Neutralitäts-Devise der Schweiz ab. Er sieht Ähnlichkeiten im Absolutheitsanspruch zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus. Oder macht sich einen Heidenspaß daraus, den altgriechischen Philosophen Sokrates als Säulenheiligen der europäischen Kulturgeschichte zu demontieren, indem er Sokrates als einen arbeitsfaulen, trinkfreudigen Defätisten zeichnet.
Und ganz am Schluss dieses ausufernden und größenwahnsinnigen Selbstbespiegelungs-Projekts präsentiert der Hobby-Astronom aus Neuchatel dann sogar noch seine ganz private Version der Genesis. Nur, dass beim Pfarrerssohn Dürrenmatt bezeichnenderweise kein kosmischer Urknall oder Adam und Eva am Anfang der Weltgeschichte stehen, sondern ein riesiges, ungemein einfallreiches Gehirn, das sich die Erde samt Menschheit nur aus einer Laune heraus ausdenkt.

Eine private Mythologie

Und hier, fast am Schluss der "Stoffe", beschleicht den manischen Selbsterklärer Friedrich Dürrenmatt dann doch einmal ganz kurz der Zweifel, ob er selbst wirklich der geeignete Chronist seiner eigenen Werkgeschichte ist – und ob dieses geheimnisvolle Schöpfer-Ich, nach dem er in seinem Monsterwerk so verzweifelt sucht, überhaupt als schriftlich erfassbares Phänomen existiert:
"Ist Das Hirn meine Fiktion, die ich schreibe, oder bin ich die Fiktion des Hirns? (...) Wer hat wen erfunden, gibt es mich überhaupt? Gibt es nicht vielmehr nur ein Hirn, das eine Welt träumt als Abwehr gegen die Angst? (...) Was ist wirklich? (...) Bin ich nur ein Gedanke?"
Hier, an dieser einen kurzen Stelle der Stoffe ganz am Schluss, schimmert sie dann doch einmal auf, jene entscheidende Erkenntnis, dass jede Ich-Erzählung zwangsläufig immer nur ein trügerisches Gedankenkonstrukt ist. Immer nur eine fixe Idee – und die Einbildung eines Gehirns, schon aufgrund des berühmten, dem Menschen angeborenen blinden Flecks.

Bin ich nur eine Idee?

Dieses Axiom der modernen Bewusstseinspsychologie aber wollte oder konnte der existenzialistisch geprägte Individualist Friedrich Dürrenmatt anscheinend nicht sehen – oder nicht akzeptieren. Und so verirrte er sich mit seiner "Stoffe"-Chronik immer tiefer im Labyrinth seiner eigenen Ich-Erforschungen, bis er sich darin unrettbar verfangen hatte.
Zerknirscht räumte er nach über zwanzig Jahren Arbeit am Projekt 1990 schließlich selbst sein Scheitern ein, als er in der Einleitung zum zweiten Stoffe-Band "Turmbau" schrieb:
"Der Versuch, die Geschichte meiner Stoffe zu schreiben, verlangt ein neues Überdenken. Begonnen nach einer Krankheit im Unterengadin 1969 war ich wohl zu gedankenlos, naiv, allzu voreilig. Den alten Stoffen nachzuspüren, war das Gefühl nicht zu unterdrücken, allzu vieles vernachlässigt zu haben. Ich strich das Geschriebene durch, fing wieder von neuem an. Das ist zwanzig Jahre her, und ich sitze wieder hinter den Stoffen. Fragmente haben sich angehäuft, Entwürfe, aber auch Zweifel. Aus den wenigen Seiten (...) ist ein Manuskriptdschungel herangewachsen. (...) Mein Irrtum war, mein Schreiben sei dem gewachsen. (...) Was bleibt, sind Trümmer."
Die "Stoffe" waren und sind Dürrenmatts literarisches Ikarus-Vermächtnis, mit dem er am Ende grandios abgestürzt ist. Doch gerade das grandiose Misslingen dieses Werks, macht es auch umgekehrt so faszinierend.
Das erklärt sich nicht zuletzt aus der Situation, in der es entstanden ist. Denn die "Stoffe "waren auch eine Antwort auf den rasanten und brutalen Karriere-Absturz, den Friedrich Dürrenmatt erleiden musste.

Reaktion aufs Karriere-Aus

Nicht zufällig gab er selbst als Geburtsdatum des Projekts den 8. April 1969 an. Den Tag also, an dem er – mit gerade mal 48 Jahren – seinen ersten Herzinfarkt erlitt: als Folge der ständigen Streitereien, denen er als Hausautor am Baseler Theater ausgesetzt war.
Es war der erste schwere gesundheitliche und berufliche Tiefschlag seiner geradezu kometenhaft gestarteten Karriere, dem dann knapp vier Jahre später mit dem sogenannten "Mitmacher"-Debakel ein zweiter, deutlich fatalerer folgte. Nach der Uraufführung seines Dramas "Der Mitmacher" im März 1973 am Züricher Schauspielhaus wurde Dürrenmatt vom Publikum ausgebuht und fiel bei der Kritik aufsehenerregend durch.
Von da an galt er als Dramatiker als erledigt, nachdem er vorher weltweit für seine parabelhaften Stücke gefeiert worden war – und jahrzehntelang zusammen mit Max Frisch als der Vorzeige-Intellektuelle der Schweiz galt. Nun aber verspottete ihn eine jüngere, politisierte Theater-Generation als allzu thesenhaften Schwarzseher. Oder, wie Dürrenmatt selbst seinen tiefen Fall in den "Stoffen" nicht ohne Humor kommentiert:
"Durch Zufall kam mein Ruhm zustande, durch Zufall der Abbau meines Ruhms. Als Dramatiker bin ich ein unvermeidliches Missverständnis."
Die vielen Demütigungen müssen für den vorher so bejubelten Literaturstar ungemein kränkend und verunsichernd gewesen sein. Die Stoffe waren somit auch Dürrenmatts Versuch, sich noch einmal als geschasster Autor zu rechtfertigen und auf die öffentliche Bühne zurückzuschreiben. Und es ist genau dieser existenzielle Dringlichkeitssound, der seine späten Texte so unwiderstehlich packend und anrührend macht – trotz ihrer thematischen Überfrachtung und ihres vermessenen Anspruchs.
Und natürlich entbehrt es dann nicht der Ironie, dass nun ausgerechnet dieses, letztlich so grandios misslungene Spätwerk von Dürrenmatt pünktlich zu seinem hundertsten Geburtstag in der Schweiz mit einer 2000-seitigen Prachtausgabe geehrt wird.

Alle Zwischenschritte, alle Notizen

Über zehn Jahre lang haben die Herausgeber Ulrich Weber und Rudolf Probst daran gearbeitet und die mehr als 30.000 hinterlassenen Seiten des Stoffe-Archivs akribisch gesichtet. Man kann in den fünf Bänden ihrer Neuedition jetzt also wirklich alle Vor- und Zwischenschritte, Textvarianten, Nebennotizen, Lektürequellen und Aufbau-Skizzen bis hin zum finalen Manuskript noch einmal ganz genau nachlesen. Und natürlich verdient so viel jahrelanger, aufopferungsvoller Editoren-Fleiß Applaus.
Doch, ob durch diese enorme Fülle an Zusatzinformationen jetzt das sowieso schon total überfrachtete und schwer durchdringliche Spätwerk Dürrenmatts wirklich zugänglicher wird – oder, ob sich dadurch nicht doch eher noch dessen labyrinthischer Charakter verstärkt, das ist zumindest fraglich.
Friedrich Dürrenmatt: "Das Stoffe-Projekt"
Textgenetische Edition in fünf Bänden, mit einer erweiterten Online-Version
Aus dem Nachlass herausgegeben von Ulrich Weber und Rudolf Probst
Diogenes Verlag, Zürich. 2208 Seiten, 400 Euro.